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Bei Rivak, Tadschikistan,
nahe der afghanischen Grenze

D er große chinesische JAC -Sattelschlepper rumpelte über die schmale Asphaltstraße am Fuß des grauen und rostfarbenen Pamir-Gebirges, das immer höher aufragte, je weiter sie nach Westen fuhren.

Riesige Sandsteinblöcke säumten den Straßenrand. Lin, der Fahrer, stellte sich vor, dass die Felsbrocken vor Jahrhunderten von weit oben herabgestürzt waren – oder vielleicht auch erst heute Morgen. Jeder einzelne davon war groß genug, um seinen schweren roten Diesel-Truck in den blassgrünen Gunt-Fluss auf der anderen Seite der zweispurigen Fahrbahn zu befördern.

Trotz seines gepolsterten und luftgefederten Sitzes hatte er höllische Schmerzen im Rücken nach der langen Fahrt, zu der sie in Kashgar in Xinjiang, Chinas westlichster Provinz, aufgebrochen waren, wo die drei Lkws des Konvois ihre Ladung aufgenommen hatten. Von dem bitteren Tabak, den er seit drei Tagen rauchen musste, hatte er einen trockenen Mund, aber seine nach Erleichterung schreiende Blase hielt ihn davon ab, noch mehr von dem warmen Mineralwasser zu trinken.

Der Lkw-Konvoi sollte in drei Stunden seinen Bestimmungsort erreichen, doch Lin bezweifelte, dass sie es rechtzeitig schaffen würden. Die schmale Straße folgte den Biegungen des Flusses, der sich durch die aufgefalteten Berge schlängelte, deren Gipfel in der Ferne mit Schnee bedeckt waren.

Der vierzigjährige Lin zündete sich noch eine Zigarette an, als er in die nächste lang gezogene Kurve fuhr.

»Schon wieder eine?«, fragte grinsend der Mann auf dem Sitz neben ihm. Er spähte durch ein Fernrohr zu den Bergen hinauf.

»Nervöse Angewohnheit«, antwortete Lin und ließ sein Feuerzeug zuschnappen.

»Ja, die Nerven.«

Lin fand, dass der Franzose ein wenig dem amerikanischen Filmstar Matt Damon ähnelte, teils weil er gehört hatte, wie ihn einer der anderen laowai Mathieu genannt hatte. Mit Nachnamen hieß er Cluzet. Er sah aus wie dreißig, höchstens, und trug sein dunkelblondes Haar kurz geschnitten. Im Unterschied zu seinen Freunden war er glatt rasiert, und er hatte die Statur eines Läufers. Eher der unscheinbare Typ, aber ein angenehmer Zeitgenosse. Und er sprach gut Mandarin. Er trug eine Levis, Sportschuhe und ein T-Shirt der University of American Samoa Law School.

Er trug keine Waffe. Nicht einmal ein Messer.

Und er war der Chef.

»Die Berge sind schön, und die Luft ist kristallklar«, sagte Cluzet. »Man kann ewig weit sehen.« Er ließ das Fernrohr sinken.

Sie fuhren um eine scharfe Kurve, und Lin stieg auf die Bremse. Der Laster kam rüttelnd und zischend zum Stehen.

Eine Straßensperre. Zwei verbeulte, offene UAZ -Jeeps aus der Sowjetzeit standen Stoßstange an Stoßstange mitten auf der Fahrbahn. Beide Fahrer brachten Kalaschnikows in Anschlag, und die Männer auf der Rückbank legten sich RPG s auf die Schultern. Jeder der bärtigen Männer trug einen Pakol, die typisch afghanische Wollmütze, auch der größte, ein Hüne mit finsterem Gesicht, der mindestens eins fünfundneunzig maß und mitten auf der Straße stand, an der Seite eine kurzläufige AKS -74U, die er mit einer Hand am Pistolengriff hielt. Sein dunkles Gesicht war wettergegerbt von den Jahren im Gebirge, sein struppiger Bart von grauen Strähnen durchzogen.

Cluzet zwinkerte Lin zu. »Ich wette, jetzt bist du richtig nervös, stimmt’s?«

Lin warf seine Zigarette aus dem Fenster. Die Angst hatte ihm die Sprache verschlagen. Er blickte in den Außenspiegel. Die beiden anderen Laster hinter ihm kamen ruckartig zum Stehen und schaukelten auf den Stoßdämpfern.

»Stell den Motor ab«, befahl Cluzet, sprang aus dem hohen Führerhaus und trat auf den großen Afghanen zu.

»Salam alaikum« , grüßte Cluzet vergnügt.

Der grimmige Anführer der Afghanen nickte. »Wa alaikum salam.«

»Was wollt ihr?«, fragte Cluzet in passablem Dari, einer der beiden Hauptsprachen hier und jenseits der Grenze in Afghanistan.

Der Afghane konnte seine Überraschung darüber nicht verbergen, dass der Ungläubige seine Sprache sprach. Seine großen Augen verengten sich. »Wie lange bist du schon in meinem Land?«

»Drei Jahre.«

»Hast du gekämpft?«

Cluzet deutete mit dem Kopf auf die russische Militäruhr am Handgelenk des Afghanen. »Du auch, aber nicht gegen die Russen. Zu jung.«

Der Hüne lächelte breit und entblößte ein paar Zahnlücken. »Mein Vater hat viele Russen getötet. Die da hat er einem Offizier abgenommen. Von der 103. Garde-Luftlandedivision.«

Cluzet lächelte zurück und hielt den Arm hoch. Eine große Casio G-Shock prangte an seinem Handgelenk. Er tippte hoffnungsvoll darauf. »Lass uns tauschen. Meine ist viel besser.«

Der Afghane bedachte den kleineren, jüngeren Mann mit einem Schulterzucken. »Ich will deine Uhr nicht. Ich will deine Laster. Oder zumindest das, was drin ist.«

Cluzet lachte. »Du machst Scherze. Die haben nur DVD -Player, Kofferradios und Kinderspielzeug geladen, sonst nichts.« Er deutete mit dem Kopf auf die anderen Bewaffneten. »Und die da sehen mir nicht wie Kinder aus.«

Der Anführer schüttelte den Kopf. »Nein, das sind sie nicht. Das sind Männer, die tun, was ich befehle.«

Cluzet hob beschwichtigend die linke Hand. »Ich greife jetzt in meine Gesäßtasche, um dir etwas zu zeigen. Nicht nervös werden, okay?«

Er ließ ein freundliches Lächeln aufblitzen, schob langsam die Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog eine dicke Brieftasche heraus.

Die dunklen Augen des Afghanen richteten sich darauf. Cluzet klappte sie auf und entnahm ihr ein Bündel amerikanischer Zwanzigdollarscheine. US -Dollars waren in diesem Teil der Welt mehr wert als einheimisches Papiergeld. Cluzet hielt dem Afghanen die Scheine hin, und der schulterte seine Waffe. Cluzet gab ihm das Bündel und spähte gleichzeitig zu den Felsen über ihnen hinauf. Das metallische Klicken von Gewehren hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Die afghanischen Fahrer hoben nervös ihre Kalaschnikows, als zwei weitere Europäer nach vorn kamen und sich links und rechts neben Cluzet aufpflanzten. Im Unterschied zu Cluzet waren sie mit Pistolen bewaffnet, die in Holstern an ihrer Hüfte steckten.

»Das sind Freunde von mir. Sie wollen euch nichts tun«, sagte Cluzet.

Ohne sich umzudrehen, rief der Anführer der Afghanen nach hinten zu seinen Männern: »Nehmt die Gewehre runter.«

Die Gewehre senkten sich, doch die Blicke blieben hart.

»Alles in Ordnung, Boss?«, fragte der Mann zur Linken von Cluzet, ein Deutscher, auf Englisch.

»Keine Probleme«, antwortete Cluzet auf Deutsch. »Wir sind hier fast fertig.«

Der andere Mann, ein kleiner, bulliger Spanier, lächelte breit und zischte wie ein Bauchredner zwischen den Zähnen hervor: »Sprechen die Typen Englisch?«

»Kein Wort.«

Der Spanier hob seine Stimme, wandte aber kein Auge von den bewaffneten Kämpfern in den Jeeps. »Ich habe da oben zehn Männer gezählt.«

»Dreizehn«, korrigierte ihn Cluzet. »Den Scharfschützen am anderen Flussufer mitgezählt.«

Der Spanier nickte. »Gutes Auge.«

»Vierhundert amerikanische Dollar«, sagte der Afghane schließlich. »Das ist nicht genug.«

»Aber mehr werde ich dir nicht geben.« Cluzet lächelte noch breiter als zuvor. »Nimm es. Bitte.«

»Hältst du mich für einen Schwachkopf? Fahren bewaffnete ausländische Teufel hier durchs Gebirge, um Kinderspielzeug auszuliefern?«

»Hör mal, ich bewundere euch. Ehrlich. Ihr habt euch einen tollen Platz für eine Straßensperre ausgesucht. Eine Engstelle gleich hinter einer unübersichtlichen Kurve. Wirklich sehr clever. Und oben auf beiden Seiten Männer mit Gewehren und RPG s.«

»Dann ist dir ja wohl klar, dass ich euch alle töten und mir nehmen kann, was ich will.«

»Selbstverständlich. Und ich verstehe dich. Wirklich. Du bist ein Geschäftsmann, genau wie ich. Wir könnten Freunde werden. Es gibt keinen Grund für Gewalt. Nimm einfach das Geld.«

Der Afghane nickte versonnen, während er das Geld einsteckte. »Ja, ich nehme das Geld.« Seine finstere Miene wich einem breiten Grinsen. »Und deine Lastwagen.«

Cluzet schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das ist wirklich bedauerlich, mein Freund.«

In diesem Moment bemerkte der Afghane das Tattoo auf dem Unterarm des Franzosen. Ein Flügel mit einem Arm und einem Schwert. Er erkannte nicht, was es war: der Arm des Erzengels Michael, des Schutzheiligen des 2e Régiment Étranger de Parachutistes der französischen Fremdenlegion.

»Bedauerlich oder nicht, ich nehme mir, was ich will. Geh zur Seite, sonst töte ich dich. Ich nehme es mir auf jeden Fall.« Er hob seine Waffe. »Ich habe keine Angst vor einem Mann mit dem glatten Gesicht einer Frau.«

Cluzet rieb sich das bartlose Gesicht. »Ja, glatt, wie das von Setara, könnte ich mir vorstellen. Sie ist deine jüngste Frau, nicht wahr? Jedenfalls die schönste. Ich denke, ihr würde mein Gesicht gefallen.«

Der Afghane legte verwirrt die Stirn in Falten. »Du kennst den Namen meiner Frau?«

Cluzets jungenhafter Charme war plötzlich wie weggeblasen. Sein Gesicht wurde so hart wie die Kalkfelsen, die über ihnen emporragten. »Nimm dein Handy, Behzad Khatloni, und ruf sie an.«

»Woher weißt du das alles? Du bist ein Teufel!«

»Es ist mein Job, alles zu wissen. Ruf sie an. Sonst wirst du es bereuen.«

Khatloni ging zu seinem Jeep, und sein Fahrer reichte ihm sein Handy. Er wählte. Im nächsten Moment meldete sich eine panische Frauenstimme.

»Unsere Söhne! Behzad! Bitte!«, schrie die Stimme aus dem Lautsprecher. Jeder konnte es hören.

»Was ist denn los?«

»Ausländer. Ungläubige. Gewehre, Maschinengewehre, Autos. Sie haben uns alle zusammengetrieben. Sie haben gesagt, dass sie uns töten werden.«

»Wie viele sind es?«

»Ich weiß nicht«, rief sie weinend. »Viele.«

Khatlonis Augen weiteten sich vor Wut. Er wandte sich dem Franzosen zu. »Was soll das?«

»Alle deine Kämpfer sind hier. Wenn du in sechzig Sekunden nicht verschwunden bist, werden meine Männer dein Dorf niederbrennen, die Alten töten, deine Frauen vergewaltigen – und deine Söhne.«

Der Afghane riss blitzschnell einen langen Chura-Dolch aus der Scheide, sprang auf Cluzet zu und hielt ihm die Klinge an die Kehle, bevor die beiden anderen Söldner reagieren konnten.

»Pfeif sie zurück!«

Cluzet zuckte nicht einmal. Er konnte Khatlonis stinkenden Atem riechen. »Meine Männer haben ihre Befehle. Sie werden deinen Kindern die Gurgel aufschlitzen, ihre Leichen in eine Mistgrube werfen und auf sie pissen.«

Der Afghane drückte die scharfe Klinge gegen seinen Hals. »Hast du vor gar nichts Angst?«

»Doch, vor Langeweile.«

Die anderen Afghanen wurden unruhig, denn sie fürchteten um ihre eigenen Familien. Cluzets Männer rührten sich nicht, bereit, auf Befehl loszuschlagen.

Der große Afghane suchte Cluzets Augen, die ihn ungerührt ansahen.

»Du bist eine Ausgeburt des Satans.«

»Gut möglich. Dreißig Sekunden.«

Khatloni fluchte und steckte den Dolch wieder weg. Er brüllte seinen Männern Befehle zu. Die Motoren der Jeeps heulten auf, und er wandte sich zum Gehen.

»Noch nicht«, sagte Cluzet.

Der Afghane fuhr herum. »Was ist denn noch?«

»Deine Uhr.«

Khatloni erstarrte. »Bist du verrückt?«

»Deine Uhr. Her damit, sonst rufe ich nicht an.«

»Du würdest wegen einer verfluchten Uhr meine Kinder umbringen?«

Cluzet zuckte verwundert die Achseln. »Ja.«

Mit einem frustrierten Knurren griff der Afghane nach dem Armband der Uhr.

»Ich hasse euch Teufel! Ihr bringt nur Unheil über mein Land.«

»Ja, das tun wir wohl. Aber es ist ein interessanter Zeitvertreib.«

Der Afghane warf ihm die Uhr zu. Cluzet fing sie lachend auf.

»Ruf jetzt endlich an, Ungläubiger.«

Der Spanier griff hinter sich und reichte Cluzet ein Satellitentelefon, während Khatloni in seinen Jeep stieg. Mit röhrenden Motoren und qualmenden Reifen schossen die beiden UAZ s davon.

Cluzet wählte die Nummer auf dem Sat-Telefon und fing dabei die verdutzten Blicke seiner beiden Männer auf. Er drehte sich um. Lin saß noch in der Führerkabine des Lasters, starr vor Entsetzen und das Lenkrad so fest umklammernd, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Cluzet wandte sich grinsend dem Deutschen zu.

»Ich finde, das ist hervorragend gelaufen, du nicht?«