E s war ein klarer, kalter Morgen und der Himmel von so strahlendem Blau, dass Cluzet die Augen wehtaten, als er an seinem heißen Tee nippte und nach oben schaute.
Seine drei Sattelzüge standen unter Zelten aus schweren Tarnnetzen, um die Wärmesignatur der großen Dieselmotoren zu verbergen und den neugierigen Blicken des schulbusgroßen Keyhole-11-Satelliten zu entgehen, der täglich annähernd fünfzehn Minuten lang in einer mittleren Höhe von vierhundert Kilometern über Afghanistan hinwegflog.
Die optischen Sensoren des Satelliten konnten bei Tageslicht Objekte von nur zehn Zentimeter Durchmesser erkennen, waren aber auch in der Lage, Wärmequellen und getarnte Ziele zu lokalisieren. Zwar diente der Satellit in erster Linie der Unterstützung von Militäroperationen der ISAF und der US -geführten internationalen Koalition, doch half er gelegentlich auch bei der Bekämpfung des Drogenhandels durch ISAF und afghanische Sicherheitskräfte. Aufgrund der Abgeschiedenheit ihres Standorts ging Cluzet davon aus, dass sie hier sicher waren, solange der KH -11-Satellit nicht speziell auf sie angesetzt war. Aber man konnte nie vorsichtig genug sein.
Die ersten Posten, die man in der Nacht von den Anhängern ab- und umgeladen hatte, waren Paletten mit »Star-Battles«-Spielen der Marke BEGO – chinesische Billigkopien der bekannten Star-Wars-Reihe von LEGO . Der Rest waren, wie Cluzet zu Khatloni gesagt hatte, Paletten mit in China hergestellten DVD -Playern und Kofferradios.
Sowie die chinesische Billigware abgeladen war, kam man an die vielen Zweihundertliter-Plastikfässer heran, die chemische Ausgangsstoffe für die Herstellung von Heroin enthielten. Trotz jahrzehntelanger Verbotsbemühungen von Europäern und Amerikanern hatte die afghanische Heroinproduktion ein Allzeithoch erreicht. Auf über zweihunderttausend Hektar – das entspricht etwa zweihundertachtzigtausend Fußballfeldern – wurde Mohn angebaut. Dabei wurden geschätzte neuntausend Tonnen Opium produziert. Sie bildeten die Hauptquelle des weltweit zirkulierenden Heroins.
Zwar herrschte kein Mangel an Mohnpflanzen zur Produktion des Milchsafts, der gewöhnlich von afghanischen Kindern geerntet und beim Trocknen zu Rohopium wurde, doch die weitgehend agrarisch geprägte und dysfunktionale Wirtschaft Afghanistans war nicht in der Lage, Salzsäure, Essigsäureanhydrid und andere chemische Stoffe zu produzieren, die für die ansonsten einfache Herstellung von Heroin erforderlich waren.
Europäische Regierungen hatten die legale Verbringung dieser wichtigen Chemikalien, die in Industrie und Pharmazie zahlreiche Anwendungen fanden, mit Erfolg überwacht und es sogar geschafft, ihrer illegalen Verbreitung einen Riegel vorzuschieben.
Chinesische Regierungsbeamte, die heimlich einem weltweiten kriminellen Netzwerk namens Eisernes Syndikat angehörten, sprangen nur allzu gern in die Bresche. Das Eiserne Syndikat leitete die für die Heroinherstellung benötigten Substanzen unter offizieller Tarnung mit allen erforderlichen Papieren nach Afghanistan um. Ausgangspunkt war Kashgar, eine alte Stadt an der ursprünglichen Seidenstraße Marco Polos in der westlichsten chinesischen Provinz Xinjiang. Die Stadt war neuerdings in den Genuss beträchtlicher deutscher Auslandsinvestitionen gekommen, darunter der Bau der größten und modernsten Chemiewerke in Zentralasien, deren Leitungspersonal teilweise auf der Gehaltsliste des Eisernen Syndikats stand.
Cluzet und sein Team waren angeheuert worden, um für die Sicherheit der illegalen Chemietransporte zu sorgen, die notwendig waren, um Rohopium in Morphinbase, dann in schwarzes Teer-Heroin und schließlich in reines weißes Heroin, auch »Nummer 4« genannt, umzuwandeln.
Die Zustellung von vier Tonnen Chemikalien war nur die Hälfte von Cluzets gefährlichem Auftrag. Die zweite Hälfte war noch waghalsiger: Er sollte eine Tonne veredeltes Heroin in den Hafen von Danzig bringen. Vertrieb und Verkauf des Endprodukts würden seinen Auftraggebern und ihren afghanischen Produzenten knapp über zweihundert Millionen Dollar Profit einbringen.
Die Afghanen luden die Paletten mit den Radios ab, wozu sie einen verrosteten Gabelstapler Baujahr 1964 benutzten, und karrten sie in einen Lagerschuppen aus Betonblöcken, in dem junge Frauen sofort an die Arbeit gingen. Sie öffneten die Kisten, nahmen die einzelnen Geräte heraus, schnitten die Kartons auf und entnahmen ihnen die sonderangefertigen Digitalradios, wobei sie sorgsam darauf achteten, dass die Verpackung unbeschädigt blieb und keine Bedienungsanleitung verloren ging.
Dann hebelten sie einzelne Radios auf und schoben ein Päckchen Heroin hinein. War das Heroin verstaut, wurde das Gerät in den Verpackungskarton zurückgelegt und der Karton wieder mit Klebeband verschlossen. Dann wurde der Karton mit einem kleinen braunen Aufkleber markiert, rund und unverfänglich. Schließlich wanderte das »Heroinradio« in die Kiste mit den »sauberen Radios« zurück, und das Spiel wiederholte sich. Nur eines von vier Radios barg die illegale Droge. Als die Frauen mit den Radios fertig waren, nahmen sie sich die Paletten mit den DVD -Playern und schließlich die mit den Kinderspielen vor.
Während sie weiter Heroinpäckchen versteckten, luden Männer die schweren Fässer mit den gefährlichen Chemikalien ab und schafften sie mithilfe des ächzenden Gabelstaplers ins Heroinlabor.
Der Afghane, der das mobile Labor zur Heroinherstellung leitete, hieß Akhtar Hayat und war ein vierundzwanzigjähriger grauäugiger Paschtune, der im pakistanischen Peschawar Chemie studiert hatte. Er und Cluzet hatten schon früher zusammengearbeitet.
Cluzets Leute hatten sich im Lager verteilt, reinigten Waffen, aßen oder holten Schlaf nach, darunter auch die Inguschen, die er für den Job angeheuert hatte – mordlustige Verwandte der Tschetschenen aus dem Kaukasus. Zwei Männer hatte er zum Wacheschieben eingeteilt. Aus seinem Walkie-Talkie krächzte es auf Paschtunisch. Einer von Hayats Wachposten meldete sich über Funk.
»Ein Teufelswagen. Zehn Kilometer entfernt.«
Ein »Teufelswagen« – der afghanische Spitzname für die verhassten Mi-35-Hind-Hubschrauber der afghanischen Luftwaffe –, das war keine gute Nachricht für Hayat, wie Cluzet wusste. Hayats kleiner Haufen war keine Taliban-Kampfeinheit im engeren Sinn. Sein Job war es, Heroin zu kochen, zu verpacken und zu versenden. Seine Leute besaßen nur Kalaschnikows und RPG -7 zur Verteidigung gegen Banditen oder rivalisierende Banden. Die raketengetriebenen 40-mm-Granaten der RPG -7 waren zwar leistungsstark genug, auch die Rotoreinheit dieses schwer gepanzerten russischen Helikopters wegzublasen, aber ihre effektive Reichweite betrug nur zweihundert Meter. Jeder Hubschrauberpilot, der in den letzten vierzig Jahren in Afghanistan geflogen war, wusste, dass er einen entsprechenden Abstand vom Boden einhalten musste, besonders in den Bergen.
Cluzet wartete nicht auf Hayats panischen Ruf. Ein Angriff durch den schwer bewaffneten Helikopter – den seine russischen Erbauer als »fliegenden Panzer« bezeichneten – wäre eine Katastrophe.
Doch ein einzelner Hind war wahrscheinlich nicht mit einem Kampfauftrag unterwegs. Vermutlich unternahm er einen Überwachungsflug – oder sogar nur einen Übungsflug. Aber eine Entdeckung der Operation oder des Konvois, wenn er am Morgen aufbrach, wäre genauso katastrophal.
Beides würde seinen Auftrag in Gefahr bringen, und so etwas nahmen er und das Eiserne Syndikat sehr ernst. Scheitern war keine Option.
Der Hind musste zerstört werden.
Der Wachposten gab durch, aus welcher Richtung der Hind kam. Darauf pfiff Cluzet seiner Nummer zwei, dem Deutschen, einem ehemaligen Feldwebel des Kommandos Spezialkräfte (KSK ) namens Manstein. Die beiden Männer rannten zum Heck eines Range Rovers. Cluzet nahm den MANPADS FIM -92B Stinger aus dem Waffentresor hinten im Wagen, und Manstein griff sich Ferngläser mit Entfernungsmesser.
Die beiden erklommen höher gelegenes Gelände, als von den Bergen das unheilvolle Wummern des Hinds widerhallte, dessen Rotorblätter die dünne, kalte Luft peitschten.
»Hab ihn«, sagte Manstein und deutete nach Südwesten. »Ich würde sagen, tausend Meter über unserer Position.«
Den eineinhalb Meter langen Raketenwerfer auf der Schulter balancierend, schraubte Cluzet die Battery Collant Unit in das Griffstück. Die BCU versorgte die Rakete mit Strom aus einer Thermalbatterie und kühlte den Zielsuchkopf mit Argon-Gas auf Betriebstemperatur.
Er hob den Raketenwerfer in die Richtung, in die Manstein zeigte, und spähte über das Visier hinweg.
»Ja, ich sehe ihn. Etwa vier Kilometer entfernt und einen Kilometer hoch.« Locker innerhalb der Reichweite der gefürchteten Stinger.
»Bestätigt.« Manstein hielt sein Fernglas weiter auf den Hind gerichtet.
Cluzet hob die Rakete noch etwas höher und legte das Auge ans Visier. Um den im IR - und UV -Bereich arbeitenden Detektor einzustellen, richtete er das Visier in den blauen Himmel über dem Helikopter, während er den Sicherheits- und Betätigungsschalter gedrückt hielt. Sofort ertönte ein Signalton aus dem kleinen Lautsprecher, und der Vibrator, den er an sein Jochbein drückte, begann sich zu rühren.
Jetzt nahm er den Hind ins Visier. Sobald der Detektor die »negative UV -Strahlung« – das vom Helikopter nicht durchgelassene Licht – erfasst hatte, wurde der Signalton deutlich schriller und verriet Cluzet, dass auch die Rakete das Ziel erfasst hatte.
Mit einem Druck des linken Zeigefingers entriegelte Cluzet die Rakete, worauf ihr Zielsuchkopf dem Helikopter selbstständig zu folgen begann. Dann zog Cluzet den Werfer in einem übertriebenen Winkel nach oben, betätigte den Abzug und hielt ihn gedrückt, bis …
WUSCH !
Der kleine Startmotor der Rakete zündete, trieb die zweiundzwanzig Pfund schwere Rakete aus dem Rohr und wurde ausgestoßen. Das jetzt antriebslose Geschoss sank ein paar Zentimeter, bevor in sicherer Entfernung zu Cluzet der zweite und stärkere zweistufige Feststoff-Raketenmotor zündete und die Rakete mit einer Geschwindigkeit von siebenhundertdreißig Meter pro Sekunde – zehnmal so schnell wie ihr Ziel – auf den Hind zujagte und dabei eine weiße Abgasfahne hinter sich herzog.
Der Hind stieß sofort Flares und Chaffs aus, doch das Zielsuchsystem der Stinger ließ sich davon nicht täuschen. Rund fünf Sekunden nach dem Abschuss zerfetzte der 6,6 Pfund schwere, hochexplosive Splittergefechtskopf den Rumpf des Hubschraubers. Eine zweite Explosion zerriss den Treibstofftank, und das brennende Neuntonnenwrack fiel wie ein Stein Richtung Boden.
Cluzet ließ den Werfer sinken, ein Lächeln auf dem jungenhaften Gesicht. Seine grünen Augen folgten dem fallenden Wrack, bis es tief unter ihnen auf dem Talboden zerschellte.
Die Ironie der Situation blieb ihm nicht verborgen: Er hatte soeben einen russischen Helikopter abgeschossen, den ein Afghane geflogen hatte. Früher waren es Afghanen gewesen, die russische Piloten abschossen.
Aber der Sieger war immer die Stinger.
Plus ça change, plus c’est la même chose.
»Guter Schuss«, sagte Manstein und klopfte ihm auf den Rücken.
»Ein fliegender Betonklotz ist schwer zu verfehlen.«
Cluzet blickte auf die jüngst erworbene russische Fliegeruhr.
»Wir müssen unsere Leute zusammentrommeln und diesen Bergziegen helfen, damit wir fertig werden. Die Ware muss verladen werden, und dann nichts wie weg hier, bevor noch ein Hubschrauber aufkreuzt, um nach den verschollenen Kameraden zu suchen.«
»Den Inguschen wird das nicht gefallen«, sagte Manstein. »Das sind Kämpfer, keine Schauermänner.«
»Von einer russischen 80-mm-Rakete den Arsch aufgerissen zu bekommen, dürfte ihnen noch weniger gefallen«, entgegnete Cluzet. »Los jetzt.«