D ie Jagdhütte stand am Ufer eines Sees auf einem mehrere Hundert Hektar großen Privatgrundstück in der Šumava, die jenseits der nahen Grenze zu Deutschland Böhmerwald genannt wurde.
Die Herbstluft war bereits kühl, doch das Laub der Bäume erstrahlte noch nicht in leuchtenden Farben. »Ein guter Tag für einen Spaziergang, nicht wahr, Rexi?«, sagte der alte Mann und tätschelte seinem Lieblingsjagdhund, einem Böhmischen Rauhbart, den Kopf.
Der alte Mann war groß und hager, seine Haut vom jahrzehntelangen Rauchen filterloser türkischer Zigaretten vergilbt wie Pergament. Doch trotz seines Alters und seines ausgemergelten Aussehens hatte er noch einen kräftigen, kerzengeraden Rücken und einen Griff wie ein Schraubstock. Er stand im dunklen Flur der Holzhütte, abgetragene Wanderstiefel aus gefettetem, weichen Leder an den Füßen, schlüpfte in eine dicke, wollene Jagdjacke und setzte einen Tirolerhut aus Filz auf.
Sein richtiger Name, Petr Hašek, hatte sich in der Geschichte verloren, als er seine Geheimakten verbrannte, die Akten des Mannes, der als Letzter das »Mordbüro« der Staatssicherheit (ŠtB) der kommunistischen Tschechoslowakei geleitet hatte. Seine Mutter, eine Sudetendeutsche, war bei den ethnischen Säuberungen nach dem Krieg umgebracht worden, was sein slawischer Vater, ein glühender Kommunist und Funktionär, vor der Welt verborgen hatte, um seinen Sohn zu schützen.
Heute war Hašek einfach nur als »der Tscheche« bekannt und Chef der weltweit gefährlichsten und einflussreichsten kriminellen Vereinigung: Das Eiserne Syndikat hatten er selbst und mehrere Kollegen aus den Geheimdiensten ehemaliger Sowjetrepubliken nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründet. Sie nutzten ihre Expertise im Töten, Einschüchtern und Spionieren, um ein riesiges, weltumspannendes kriminelles Netzwerk zu knüpfen, dem mittlerweile auch viele westliche Kollegen angehörten, die noch im aktiven Dienst standen.
Transnationale Kriminalität war ein Riesengeschäft, und keine Verbrecherorganisation war größer als das Eiserne Syndikat. Würde man das Bruttoinlandsprodukt als Maß zugrunde legen, nähme das transnationale organisierte Verbrechen mit dem von ihm erwirtschafteten Umsatz in der Rangliste der Volkswirtschaften Platz neun ein. Und annähernd ein Fünftel dieses Umsatzes wird im illegalen Drogenhandel gemacht.
Wäre das Eiserne Syndikat ein legales Unternehmen gewesen – was viele seiner Firmen waren –, hätte es auf der Liste der fünfhundert umsatzstärksten Unternehmen der Welt irgendwo zwischen General Electric und der Bank of China rangiert. Seine illegale Aktivität konzentrierte sich auf das schmutzige Geschäft mit Heroin und Methamphetaminen, deren Herstellung und Vertrieb sowie auf den saubereren und schneller wachsenden Bereich der Internetkriminalität, einschließlich Datendiebstahl und Cyberspionage.
Der Tscheche war an diesem Morgen bester Stimmung. Die Nachrichten aus Berlin waren ausgezeichnet. Das BKA verfügte über unzureichende Mittel im Kampf gegen all die europäischen und slawischen Mafiagruppen, globalen Terror-Netzwerke und Spionageattacken auf die deutsche Wirtschaft. Der einzige verdeckte Ermittler, den das BKA gegen seine Organisation eingesetzt hatte, war unlängst bei einem mutmaßlichen Raubüberfall ums Leben gekommen, was die Ermittlungen der Behörde um Monate zurückwerfen, wenn nicht sogar zum Erliegen bringen würde.
Noch wichtiger als die Information selbst waren ihre Quelle und die Aussicht auf praktisch unbegrenzten Zugang zu weiteren.
Allerdings nur zu CHIBI s Bedingungen. Und der Tscheche ließ sich ungern etwas vorschreiben. Seiner eigenen Technikabteilung war es bislang nicht gelungen, diesen CHIBI aufzuspüren oder zu identifizieren. Er war unsichtbar. Aber er war auch allwissend – zumindest schien es so. Was er zu verkaufen hatte, würde seinen Preis wert sein, wie hoch er auch sein mochte. Der Tscheche beschloss – wie von CHIBI gefordert –, einen Bevollmächtigten zu der Londoner Auktion zu schicken.
Der Tscheche nahm seine Lieblingsflinte für die Vogeljagd aus dem Waffenschrank, eine Merkel 303-E Luxus Kaliber 12. Zu Zeiten des Kalten Kriegs in der ostdeutschen Stadt Suhl hergestellt, war die fein gearbeitete Waffe wegen ihrer herausragenden Qualitäten hochbegehrt, sogar im Westen. Und diese spezielle Bockdoppelflinte war obendrein ein Kunstwerk mit handgestochenen Jagdgravuren auf allen Metallteilen und einem Nussbaumschaft mit fein geschnittener Fischhaut und Eichenblatt- und Eicheleinlagen aus Elfenbein.
Der Jagdhund winselte beim Anblick der Merkel und wackelte mit dem kurzen, kupierten Schwanz.
»Aber, aber. Nur Geduld, alter Freund.« Der Tscheche lachte, bis das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Stirnrunzelnd lehnte er die Flinte an die Wand und zog es heraus. Er las die Nachricht:
Prioritätenziel-Alarm: Subjekt #11281961
Der Tscheche tippte auf den Link. Er führte ihn zu einer Reihe von Überwachungsvideos, auf denen Jack Ryan junior zu sehen war, zunächst am Chopin-Flughafen Warschau und später in einem silbernen Audi, der durch Warschauer Straßen fuhr. Jedes Video war mit Datum und Uhrzeit versehen.
Der Tscheche fluchte leise vor sich hin.
Das Eiserne Syndikat hatte überall auf der Welt Zugriff auf staatliche Überwachungskameras, doch es betrieb auch ein eigenes riesiges Kameranetzwerk. Alle Aufnahmen wurden gespeichert und durch syndikatseigene Server mit einer Gesichtserkennungs-Software gejagt, die jedem handelsüblichen System weit überlegen war und denen der größten Sicherheitsdienste in nichts nachstand. Mithilfe seiner flächendeckenden Überwachungstechnik konnte das Eiserne Syndikat Informationen über mögliche Ziele und Konkurrenten sammeln und, was noch wichtiger war, seine kriminellen Machenschaften vor Bedrohungen schützen.
Bedrohungen wie Jack Ryan.
Der Tscheche drückte die Kurzwahltaste für seine Nummer Drei, den Direktor für Operationen. Eine Stimme mit Oxford-Akzent meldete sich:
»Sir?«
»Ich habe gerade Ihre Nachricht erhalten. Warum bin ich nicht früher informiert worden?« Der erste Zeitstempel war über zwei Stunden alt.
»Die Person ist schwer zu identifizieren.«
Der Tscheche wusste, dass das stimmte. Jede Gesichtserkennungs-Software beruhte darauf, dass sie gespeicherte Gesichtsbilder mit neuen Aufnahmen verglich. Fotos von Ryan waren von der amerikanischen Regierung nahezu komplett aus den sozialen Medien entfernt worden, zweifellos, um den Sohn des Präsidenten zu schützen. Die wenigen, die noch öffentlich zugänglich waren, stammten aus einer Zeit, als er noch glatt rasiert, schmaler und jünger war.
»Ist die Zielperson noch in Warschau?«
»Ja. Ich habe ihrer Akte entnommen, dass sie ein vorrangiges Ziel ist, aber weder liquidiert noch gefangen genommen werden soll. Wie soll ich weiter vorgehen?«
»Setzen Sie die Kameraüberwachung fort, bis Sie weitere Anweisungen erhalten.«
»Jawohl, Sir.«
Der Tscheche legte auf. Dass Ryan plötzlich in Europa auftauchte, war unerfreulich. Seinetwegen hatte der Tscheche ein Jahr zuvor unliebsame Bekanntschaft mit John Clark gemacht, der eines Morgens, als er aufwachte, neben ihm am Bett saß und ihm den kalten Stahl eines Pistolenlaufs ans Ohr drückte. Das Eiserne Syndikat hatte damals eine Auftragskillerin auf Jack Ryan junior angesetzt, weil Wladimir Wasilew, der frühere Chef des Syndikats, Rache an ihm nehmen wollte. Jack hatte Wasilews Neffe getötet, und dafür wollte Wasilew seinen Kopf.
Im wörtlichen Sinn.
Clark bot ihm einen Deal an. Clark wollte Wasilew ausschalten, und im Gegenzug sollte der Tscheche den Mordauftrag gegen Jack abblasen. »Das wird Sie nicht nur zum Oberboss machen«, sagte Clark, »Sie können sich auch die Kopfschmerzen ersparen, die am anderen Ende meiner .45er auf Sie warten.«
Der Tscheche willigte ein.
Aber Clark verabschiedete sich mit einer Warnung: Falls Jack jemals etwas zustoßen sollte, werde er wiederkommen und ihn teuer dafür bezahlen lassen. Der Tscheche hatte Clarks Ruf gekannt, noch bevor er ihn an jenem schicksalhaften Morgen persönlich kennenlernte – der ehemalige Navy SEAL und CIA -Agent war in Geheimdienstkreisen des Ostblocks wohlbekannt.
Zu Clarks Ehre musste man sagen, dass er seinen Teil der Abmachung eingehalten hatte.
Aber Loyalität war eine Tugend. Der Tscheche schätzte sie über alles, schon im Interesse der eigenen Selbsterhaltung. Wasilew war sein Boss gewesen, aber auch ein Waffenbruder aus alten Tagen. Ein mordgieriger Egomane am Schluss, dessen Tod im Interesse des Syndikats notwendig und für Hašek persönlich von Vorteil war. Doch die Vorstellung, dass ein amerikanischer Cowboy wie Clark einen Kollegen vom Syndikat ermorden und damit ungestraft davonkommen konnte, war ihm zutiefst zuwider.
Der Tscheche hatte sich an die Abmachung mit Clark gehalten, zumindest bis jetzt. Er wollte Ryan auf der Spur bleiben, denn wo er war, war auch Clark meistens nicht weit. Mit der Ermordung des jungen Ryan würde er den letzten Wunsch seines alten Freundes erfüllen und sich mit der Ermordung Clarks endlich lang ersehnte Genugtuung verschaffen. Aber vorläufig genügte es, an Ryan dranzubleiben. Früher oder später würde sich bestimmt eine Gelegenheit bieten, beide Männer zu erledigen.
Wenn der Tscheche etwas war, dann geduldig.
Er schob seinen schwelenden Zorn beiseite und richtete seine Gedanken auf den bevorstehenden Tag. Er öffnete eine frische Schachtel mit Schrotpatronen und steckte sie ein, dann schulterte er seine Flinte.
Nichts hellte seine Stimmung mehr auf als die Aussicht auf eine erfolgreiche Jagd.