W ohin jetzt?«, fragte Liliana, als sie den Audi startete.
Jack gähnte wie ein Nilpferd. »Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen, während wir auf Zbyszkos E-Mail warten.«
»Ich kenne ein gutes Café. Nicht weit von hier. Der Kaffee ist fantastisch. Und vielleicht möchten Sie ja auch ein oder zwei pączki .«
»Wenn das was Süßes ist, bin ich dabei.«
Sie betraten das kleine, gut besuchte Café im Erdgeschoss eines renovierten Gebäudes und schüttelten den Regen aus den Kleidern. Die Luft roch nach Röstkaffee und süßem Gebäck. Jack lief das Wasser im Mund zusammen.
Die Gäste waren überwiegend junge Leute, modisch gekleidete Berufstätige wie Liliana. Fröhliches Gelächter und angeregte polnische Stimmen hallten von den gefliesten Böden wider. Eine sehr gesellige Atmosphäre. Der Regen klatschte gegen das große Panoramafenster, während hinter ihnen neue Gäste hereinkamen, in den kleinen Vorraum traten und ihre Regenmäntel und Schirme ausschüttelten.
»Da hinten ist ein freier Tisch«, sagte Liliana und bahnte sich einen Weg durch das Lokal.
Jack deutete auf eine Tür neben der Theke. »Ich lege einen Boxenstopp ein.« Er zog eine Kreditkarte aus der Brieftasche. »Gehen Sie doch vor und bestellen schon mal.«
Liliana wies die Karte mit einer freundlichen Grimasse zurück. »Das geht auf mich. Sie sind mein Gast.«
»Das nächste Mal bin ich dran, wenn nichts dazwischenkommt.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Eine Krise in den amerikanisch-polnischen Beziehungen«, antwortete Jack augenzwinkernd.
Liliana legte ihre Sachen auf den Tisch und ging dann zur Theke, während Jack die Tür mit einem Kreis und einem Dreieck darauf aufstieß.
In der gefliesten Unisex-Toilette gab es nur ein einziges WC , nagelneu, dazu ein Waschbecken und alles, was sonst noch dazugehörte. Sehr sauber und ordentlich. Aber Jack war nicht hier, Baumaßnahmen zu bewundern.
Er griff in die Tasche und zog ein kurzes Kabel mit einem Lightning-Anschluss am einen und einer 3,5-mm-Audiobuchse am anderen Ende heraus. Dann zückte er sein Handy und seinen Kugelschreiber, verband beide mit dem Kabel und startete die Audio-App auf seinem Telefon. Das von Gavin Biery, Leiter der IT -Abteilung von Hendley Associates und Hacker-Genie des Campus, geschriebene Audio-Programm fand sofort die Datei, die auf dem als Kugelschreiber getarnten Digitalrecorder, den er in Zbyszkos Büro benutzt hatte, gespeichert war, und begann sie herunterzuladen.
Laut Fortschrittsbalken dauerte der Vorgang noch fünf Minuten. Nach dem Download der Audiodatei würde das Programm automatisch eine Voice-to-Text-Software aktivieren und dann, wenn eine andere Sprache als Englisch erkannt wurde, das Dokument automatisch übersetzen.
Das ganze Set-up war Gavins Idee gewesen, und kurz bevor Jack zum Flughafen gefahren war, hatte Gavin im Büro zu ihm gesagt: »Manchmal sind Oldschool-Methoden die besten.« Aber dann hatte der Technik-Guru gegrinst und ihm ein anderes Ausrüstungsteil gegeben. »Doch andererseits sind die neuen Sachen auch ziemlich cool.«
Ein energisches Klopfen an der Tür verriet ihm, dass sein Zeit hier drin um war.
Er steckte alles ein und ließ Gavins Wundertechnik weiter ihre Arbeit machen. Der Tarnung halber drückte er die Spülung und wusch sich mit der minzigen Seife die Hände.
»Przepraszam« – Entschuldigung –, rief Jack, das Plätschern des Wassers übertönend, und in der Hoffnung, dass Google ihn nicht im Stich gelassen hatte, fügte er hinzu: »Eine Sekunde.«
Gleich darauf entriegelte er die Tür und öffnete sie. Eine kleine, junge Frau mit kastanienbraunem Haar und John-Lennon-Brille stand vor ihm. Ihre finstere Miene verzog sich zu einem gequälten Lächeln, als sie den gut aussehenden, jungen Amerikaner erblickte.
»Dzień dobry«, sagte Jack und schlüpfte an ihr vorbei.
»Dzień dobry.«
Auf der Theke neben der Toilettentür stand ein kleiner Teller mit Ein- und Zwei-Złoty-Münzen darin. Bei seinem Anblick fiel Jack ein, dass es in Europa üblich war, für die Benutzung einer Toilette einen kleinen Obolus an die Person zu entrichten, die sie sauber hielt. Eine Erinnerung blitzte in ihm auf. An eine ältere Frau, die vor Jahren auf einer Toilette im Berliner Bahnhof Zoo mit Schürze und Besen hinter ihm vorbeigeschlurft war, während er sich in einer Reihe besetzter Urinale erleichterte.
Er hatte ihr ein hübsches Trinkgeld gegeben, wie er sich entsann.
Jack fasste in die Tasche, während hinter ihm die Toilettentür in Schloss fiel, doch er hatte kein polnisches Kleingeld. Wie dumm von ihm, dass er vorhin auf der Bank kein Geld gewechselt hatte. Zwei Złoty – ungefähr fünfzig Cent – waren ein gutes Trinkgeld, wie er irgendwo gelesen hatte. Da er aber leider nur Dollarscheine in der Brieftasche hatte, legte er einen davon in den Teller. Wahrscheinlich machte er sich damit zum Narren, aber gar nichts geben war noch schlimmer.
Er suchte den lärmerfüllten Raum nach Liliana ab und entdeckte sie in der hinteren Ecke. Sie winkte lächelnd.
»Wie hat Ihnen der pączki geschmeckt?«, fragte Liliana und nippte an ihrem heißen Tee.
Jack schluckte den letzten Bissen hinunter und spülte mit starkem, schwarzen Kaffee nach. »Der beste Jelly-Donut, den ich je gegessen habe. Besonders die Füllung. Nicht zu süß und leicht herb.«
»Das ist Hagebuttenkonfitüre. Die traditionellste Füllung. Aber Sie können pączki mit so ziemlich jeder Füllung bekommen.«
»Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich all die Sachen in der Vitrine an der Theke gesehen habe.«
»Polnisches Gebäck ist das beste der Welt. Es kann mit allem mithalten, was Sie in einer französischen Patisserie finden. Sind Sie noch hungrig?«
Die Naschkatze in Jack wollte mehr, und ein Zuckerschub würde vielleicht gegen seinen Jetlag helfen. Aber ihm war auch klar, wie viele Meilen pro pączki er würde joggen müssen, um die Kalorien wieder loszuwerden.
»Nein danke. Kommen Sie oft hierher?«
»Ja, aber in Warschau herrscht kein Mangel an guten Cafés und Restaurants. Glauben Sie mir, wir Polen verstehen was vom Essen. Unsere Küche ist ein einzigartiger Mix aus österreichischen, deutschen, russischen und sogar türkischen Einflüssen, aber stets mit einer besonderen polnischen Note.«
»Ich kann es nicht erwarten, sie näher kennenzulernen.«
Das Handy in seiner Tasche vibrierte. Er nahm es heraus. Der übersetzte Text wurde auf dem Bildschirm angezeigt.
Gavin Biery, du verrückter Hund!, dachte Jack, als er in dem Dokument las. Das Programm war intelligent genug, um zwischen dem Manager und dem Vizepräsidenten zu unterscheiden, die mit A und B bezeichnet wurden, und Rednerwechsel durch Pausen zu markieren. Die gute Nachricht war, dass der Manager sich überhaupt nach Baltic General Services erkundigt hatte. Und die schlechte: Das High-Gain-Mikrofon hatte auch Teile von dem aufgenommen, was der Vizepräsident gesagt hatte – er hatte am anderen Ende der Leitung förmlich gebrüllt –, und darunter hatte die Übersetzung gelitten.
Jack runzelte beim Lesen die Stirn. Die Sätze ergaben nicht viel Sinn. Aber wenigstens war das Programm in der Lage gewesen, das wichtigste Stichwort herauszufiltern: Christopher Gage.
»Ist das Zbyszkos E-Mail?«
Jack las weiter. »Wie? Äh, nein. Von meiner Firma.«
»Darf ich Sie was fragen?«
»Klar.«
»Ich habe den Eindruck, dass hinter Ihren Nachforschungen mehr steckt, als Sie mir verraten.«
Jack schaute zu ihr auf. Kluge Frau, dachte er. Sie im Ungewissen zu lassen wird nicht einfach sein. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich bin ABW -Agentin und arbeite momentan an zwei verschiedenen Kriminalfällen, doch aus irgendeinem Grund soll meine Aufgabe in der kommenden Woche darin bestehen, Sie in Polen herumzukutschieren, um Ihnen und Ihrer Firma bei einer Investitionsentscheidung zu helfen. Das ergibt für mich keinen Sinn.«
»Was hat denn Ihr Chef gesagt?«
»Dass Sie mich als Dolmetscherin brauchen, notfalls auch als Personenschutz.«
»Das kommt in etwa hin.«
»Mein Onkel in Chicago sagte immer: ›Einem alten Hasen kann man nichts vormachen.‹«
»Mein Vater sagt das Gleiche, nur mit anderen Worten. Deshalb will ich Ihnen ehrlich antworten: Mr. Gage ist möglicherweise dabei, ein verschlungenes Finanznetzwerk aufzubauen. Und ich versuche herauszufinden, wie groß und wie fragwürdig dieses Netzwerk ist. Okay?«
»Okay.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und tranken ihren Tee und Kaffee. Jack beobachtete eine polnische Nonne, die unter einem bunten Regenschirm draußen am Fenster vorbeiging. Sie konnte nicht älter als dreißig sein. Er hatte bereits mehrere junge Nonnen und Priester gesehen. Von zu Hause kannte er das nicht.
Just in diesem Moment erschien Zbyszkos E-Mail auf seinem Bildschirm.
»Wenn man vom Teufel spricht. Da ist Zbyszkos E-Mail. Ich schicke sie Ihnen.« Er leitete sie an ihr Handy weiter.
Sie öffnete sie. »Bei dem Verkehr könnten wir in zwanzig, vielleicht dreißig Minuten dort sein.«
»Ich würde mir das gern ansehen.« Jack steckte sein Telefon ein. »Alles gut zwischen uns?«
Lilianas Augen verengten sich. Er konnte sehen, wie es dahinter arbeitete.
»Ja, alles gut.« Und dann: »Für den Moment.«
»Wie wär’s, wenn wir gleich hinfahren?«