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J ack verfolgte ihre Fahrtroute auf dem Handy. Er wollte jederzeit wissen, wo er war und wohin er fuhr, und nicht nur, weil er von Natur aus sehr neugierig war, sondern auch aus taktischen Gründen. Er konnte noch die Stimme Clarks hören, der ihm beim Training von Anfang an eingetrichtert hatte: »Junge, die beste mir bekannte Art, um zu vermeiden, dass du ein Sandwich bekommst, auf dem nur Scheiße ist, besteht darin, gar nicht erst in den Laden mit den Scheiß-Sandwichs zu gehen.«

Der morgendliche Berufsverkehr hatte zwar nachgelassen, war aber noch nicht ganz vorbei. Sie fuhren jetzt in die entgegengesetzte Richtung, aus der Innenstadt hinaus und zurück in Richtung Chopin-Flughafen, der südwestlich der Stadt lag.

Jacks einzige Sorge war im Moment die angespannte Stimmung im Wagen. Liliana hatte offensichtlich Misstrauen geschöpft. Und er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, sie loszuwerden und auf eigene Faust weiterzumachen. Sie durfte auf keinen Fall dahinterkommen, was er wirklich vorhatte. Doch auf der anderen Seite hatte sie sich für ihn als echte Hilfe erwiesen.

Außerdem sah sie verdammt gut aus.

Er musste das Eis brechen.

»Auf der Fahrt zum Hotel haben Sie gesagt, Sie hätten an der Loyola University in Chicago studiert. Das ist doch eine große Jesuitenhochschule.«

»Genau. Ich bin ja auch katholisch.«

»Polen ist das katholischste Land in Europa, nicht wahr?«

»Das ist richtig«, sagte sie stolz. »Sind Sie Katholik?«

»Ja«, antwortete er, allerdings ohne große Überzeugung. Er praktizierte seinen Glauben zwar kaum mehr, doch er war immer noch Teil seines Erbes, genau wie die Schuldgefühle, die er jetzt verspürte, weil er diese Seite seines Lebens vernachlässigte. »Meine ganze Familie.«

»Dann werden Sie ja verstehen, warum Johannes Paul II . bei uns allgegenwärtig ist. Besonders in Krakau. Wir sind sehr stolz auf ihn und darauf, was er für uns und die ganze Welt getan hat.«

»Ich war zu seiner Zeit noch ein Knirps, aber meine Eltern haben ständig von ihm gesprochen. Er war ein großer Mann. Eine Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts.«

»Ja, das war er. Der erste polnische Papst. Durch seine Unterstützung der Solidarność-Bewegung hat er zum Ende des Kommunismus in Europa beigetragen. Hier fanden die ersten freien Wahlen hinter dem Eisernen Vorhang statt. Lange vor dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion.«

»Wir könnten mehr von seiner Sorte gebrauchen.«

»Ich habe Anweisung, unsere Gespräche auf ein Minimum zu beschränken, aber ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihrem Präsidenten sehr dankbar dafür bin, dass er versucht hat, in Polen einen dauerhaften amerikanischen Stützpunkt einzurichten.«

»Leider hat der Kongress die Sache verbockt.« Am liebsten hätte er gesagt: »hat Dixon die Sache verbockt«, doch er wollte seine Karten nicht auf den Tisch legen.

»Ja. Anscheinend begreift nur Ihr Präsident die strategische Bedeutung Polens.« Sie drosselte das Tempo, setzte den Blinker und fuhr auf einen Parkplatz vor einer großen, grauen Lagerhalle aus Beton. Ein Maschendrahtzaun trennte den vorderen vom seitlichen Teil des Geländes, wo sich die Laderampen befanden – Jack zählte mindestens zwölf, und vor jeder stand ein Lkw.

»Da wären wir«, sagte sie und zog die Handbremse an.

Auf der breiten Glastür stand in kleinen, verblassten Klebebuchstaben STAPINSKY TRANSPORTOWE . Liliana drückte die Tür auf und ging hinein, und Jack folgte ihr.

Vor einem bescheidenen Empfangstisch blieben sie stehen. Dahinter saß eine Frau mittleren Alters mit schlecht blondiertem Haar und schaute durch die dicken Gläser einer Brille, die vorn auf ihrer Knubbelnase saß, auf einen Computerbildschirm. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch.

»Dzień dobry«, grüßte Liliana in singendem Tonfall.

» Dzień dobry«, antwortete die Frau halbherzig und spähte mit den traurigen, braunen Augen eines Bassets über den Rand ihrer Brille hinweg.

Liliana begann ein munteres, aber zielgerichtetes Gespräch, dem Jack zwar nicht ganz folgen konnte, dessen Sinn jedoch klar war. Neben seinem Namen hörte er auch etliche Wörter, die in beiden Sprachen ähnlich klangen, darunter auch »Investor«, woraus er entnahm, dass Liliana ihn vorstellte, wie sie zuvor in der Bank vereinbart hatten.

Schließlich schob die Frau ihre Brille auf den Nasenrücken zurück, doch die dicken Gläser sorgten nur dafür, dass ihre ohnehin schon großen Augen jetzt noch riesiger wirkten. Sie drehte sich in ihrem Rollenstuhl, dass es quietschte, beugte sich über ein Mikrofon und drückte einen Taste.

»Pan Kierownik!«  – Herr Direktor –, dröhnte es aus den Lautsprechern in der kleinen Wartehalle und darüber hinaus.

Die Frau wandte sich wieder ihrem Computer zu, und Liliana drehte sich zu Jack hin. »Es dürfte nicht lange dauern.«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da wurde eine Stahltür aufgerissen, und ein älterer, breitschultriger Mann stürmte in die Halle. Sein Hals war zu dick für die billige, breite Krawatte und das Polyesterhemd, die er trug, und sein Bauch sah so hart wie ein Bierfass aus. Jack sah an seinem Gang, dass der Mann keinem Kampf aus dem Weg ging, was auch seine breite, von Adern durchzogene Nase erklärte, die offenkundig schon mindestens einmal gebrochen gewesen war. Selbst wenn er stand, wirkte er wie ein Boxer, leicht nach vorn gebeugt, die Beine leicht angewinkelt, bereit, alles wegzuhauen, was das Leben ihm in den Weg stellte.

Der Mann brüllte die Frau am Empfangstisch an, die nur mit einem nikotingelben Finger in Lilianas Richtung zeigte und etwas murmelte, ohne aufzusehen. Der Mann richtete seine stahlblauen Augen auf Liliana und bellte eine weitere Frage.

Liliana zuckte nicht mit der Wimper und wiederholte lächelnd und mit freundlicher Stimme, was sie bereits der Empfangsdame vorgetragen hatte.

Der Manager wandte sich Jack zu. Er sprach mit starkem Akzent, und seine Stimme klang so, als hätte er mit Essig und Stahlwolle gegurgelt.

»Wir brauchen keine Investoren, also danke und auf Wiedersehen.«

Jack trat auf den älteren, massigeren Mann zu und streckte ihm die Hand hin. Der Manager stutzte bei Jacks erstem Schritt, kniff die Augen zusammen und taxierte den großen Amerikaner.

»Mein Name ist Jack Ryan. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir.«

Die respektvolle Geste stimmte den Mann milder, und er schlug widerstrebend in Jacks Hand ein. Polen waren in der Regel sehr höflich und respektvoll im Umgang, besonders wenn sie glaubten, dass ihr Gegenüber sozial über ihnen stand, was auf Jack eindeutig zutraf, denn er war offenbar ein reicher Investor und Amerikaner.

Die dicken, schwieligen Finger umschlossen Jacks Hand. Gegenseitiger Respekt in Form eines herzhaften Händedrucks.

»Sind Sie Mr. Stapinsky?«, fragte Jack.

»Nein. Mein Name ist Wilczek. Pavel Wilczek. Ich bin hier der Betriebsleiter. Mr. Stapinsky ist der Besitzer. Was genau wollen Sie?«

»Wie meine Assistentin, Ms. Pilecki, bereits erklärt hat, arbeite ich für ein Finanzunternehmen, das …«

»Sagten Sie Pilecki?« Er wandte sich Liliana zu. »Sind Sie verwandt mit …«

»Mein Großonkel.«

Der Mann ließ die breiten Schultern hängen, als gebe er sich geschlagen. Jack hätte schwören können, dass er den Hauch eines Lächelns über das verwitterte Gesicht huschen sah. Der Mann hob einen dicken Arm und deutete mit einer Hand – groß wie ein Baseballhandschuh – auf die Stahltür.

»Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«