J ack und Liliana standen im Norden der Stadt auf der zweispurigen Straße im Stau. In beiden Richtungen herrschte sehr viel Verkehr.
Es war kaum zu glauben, dass eine Stadt mit fast 800 000 Einwohnern so kleine Straßen hatte, doch auf der anderen Seite schien es in Polen weitaus mehr öffentliche Verkehrsmittel zu geben als in den Vereinigten Staaten. Zumindest in diesem Teil der Stadt sah Jack keine Wolkenkratzer. Hauptsächlich niedrige Wohnblöcke, Einfamilienhäuser und Geschäfte. Alles war ordentlich und sauber, genau wie in Warschau. Vielleicht noch ordentlicher. Die Architektur war etwas anders. Jack wusste, dass er von Budapest im Süden und Wien im Südwesten ungefähr ebenso weit entfernt war wie von Warschau im Norden. Daher war es möglicherweise der Einfluss Österreich-Ungarns, den er hier spürte.
»Hier sieht alles so ordentlich und gepflegt aus. Ich nehme an, Krakau wurde im Krieg ebenfalls zerstört und dann wieder aufgebaut, oder?«
»Die Stadt wurde das letzte Mal während des Mongolensturms im 13. Jahrhundert zerstört. Für die Nazis war Krakau die ›deutscheste‹ Stadt in Polen, deshalb haben sie sie geschont. Sie hatten sogar ihren Verwaltungssitz hier und nicht in Warschau. Hier findet man jede Menge Geschichte, auch deutsche Geschichte, was von den Deutschen besonders geschätzt wird.«
Die Liste, die Lilianas Freundin beim Finanzamt geschickt hatte, enthielt nur fünf Adressen und Einkommensteuerbescheide, und Liliana hatte sie bereits in Google Maps markiert.
»Wo wollen Sie anfangen?«, fragte Liliana.
»Bei der interessantesten Adresse. Seinem Haus.«
Liliana mied das Stadtzentrum und folgte der Ringstraße nach Westen, dann nach Süden. Sie überquerten die breite Weichsel und fuhren weiter nach Süden. Liliana gab zu, dass sie ohne Navi Mühe gehabt hätte, Stapinskys Wohngegend zu finden, die am Rande eines Waldschutzgebietes lag. Die Häuser hier waren größer als üblich, hatten einen unverkennbar alpenländischen Einschlag und standen auf großen, stark bewaldeten Privatgrundstücken. Aus amerikanischer Sicht war es eine typische Mittelschichtssiedlung, aber Liliana versicherte ihm, dass sich der Durchschnittsverdiener solche Immobilien nicht leisten konnte.
Die Frauenstimme aus dem MMI -System des Audis dirigierte sie auf einen Schotterweg, der in einer S-Kurve durch eine Baumgruppe führte.
Ein zweistöckiges Haus stand auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Ein Neubau, nach den frischen Bauholzresten und Farbeimern zu urteilen, die säuberlich auf einer Seite gestapelt waren.
Ein ziemlich großer Mann mit beginnender Glatze und Bart warf gerade Tumi-Taschen hinten in einen blauen Mercedes G-Klasse, einem kastenförmigen SUV , den Jacks Vater als hochpreisigen Tonka-Truck bezeichnet hatte. Der kugelrunde Bauch des Mannes wölbte sich unter einem türkis-schwarzen Trainingsanzug von Adidas mit den berühmten drei Streifen an den Ärmeln.
Doch es waren die beiden großen, schwarzbraunen Rottweiler im Garten, die ihre Aufmerksamkeit erregten.
Oder war es umgekehrt?
Bellend und zähnefletschend kamen die beiden muskelbepackten Wachhunde auf den Audi zugestürmt.
Der Mann stellte seine Taschen ins Gras und blinzelte hinter seiner Brille hervor auf den fremden Wagen, der seine Auffahrt heraufrollte.
Liliana trat auf die Bremse und brachte den Audi in dem Moment zum Stehen, als die kräftigen Vorderpfoten der schwarzbraunen Monster gegen das Fahrerfenster klatschten und vom heißen Atem und Geifer aus ihren großen schnappenden Mäulern die Scheibe beschlug.
Liliana griff nach der Pistole in ihrer Jackentasche, doch ein scharfer Pfiff des Mannes ließ die Hunde zurückprallen, als wären sie an der Leine weggerissen worden. Wild mit den Stummelschwänzen wedelnd, stürmten sie zu ihrem Herrn und machten völlig synchron links und rechts von ihm »Platz«.
Der Mann lächelte.
Liliana wandte sich an Jack. »Sollen wir?«
»Solange Sie die Pistole haben, geht’s mir gut.«
Sie drückte die Entriegelung. Langsam öffneten sie die Türen und stiegen aus. Jede hektische Bewegung vermeidend, traten sie näher. Die beiden Rottweiler-Rüden, jeder gut 50 Kilo geballte Muskelkraft und scharfe Zähne, waren Nachkömmlinge einer Hunderasse, so wird vermutet, die römische Legionen erstmals vor 2000 Jahren in diese Gegend gebracht hatten.
»Mr. Ryan, nehme ich an?«, sagte der Mann.
»Mr. Stapinsky«, antwortete Jack. Der Mann bot ihm nicht die Hand. Jack ihm auch nicht.
Stapinsky wandte sich an Liliana. »Und Sie müssen Ms. Pilecki sein.«
»Ja.«
»Laut meiner Sekretärin war Pavel von ihnen sehr beeindruckt. Jetzt sehe ich, warum.«
»Er ist ein netter Mensch.«
Stapinsky lachte. »Nett? Ich habe schon viel über ihn sagen hören, aber ›nett‹ noch nie. Es ist noch nicht lange her, da sind wir abends in eine Kneipe gegangen, und er hat sich volllaufen lassen. Irgend so ein junger Blödmann hat seine Frau beleidigt, und keine Minute später hat ihn Pavel gegen ein Fenster geworfen. Zum Glück ist die Scheibe nicht zerbrochen, sonst wäre der Kerl wie ein Kohlkopf geschreddert worden.«
»Das klingt doch sehr galant.«
»Schon möglich, nur war Pavel nie verheiratet. Aber wie kann ich Ihnen nun helfen? Es geht um Investitionen?«
Jack schielte kurz zu den hechelnden Hunden hinüber, die ihn nicht aus den Augen ließen. Er reichte Stapinsky seine Visitenkarte, darauf hoffend, dass ihm der Arm nicht von einem nervösen Kieferpaar abgebissen wurde.
»Ich bin Analyst bei Hendley Associates, einer Private-Equity-Firma. Wir suchen nach Anlagemöglichkeiten in Polen, vor allem aber streben wir Partnerschaften mit gut geführten lokalen Unternehmen an.«
Stapinsky hielt die Karte zwischen den Daumen und Zeigefingern beider Hände und las angestrengt durch seine dicken Brillengläser.
»Ich habe noch nie von Ihrer Firma gehört, tut mir leid.« Er gab Jack die Karte zurück.
»Bitte, behalten Sie sie.«
Stapinsky stopfte sie in die Tasche wie ein schmutziges Papiertaschentuch.
»Wir gehören zu den erfolgreichsten Private-Equity- und Investment-Unternehmen in den Vereinigten Staaten. Wir möchten ins Ausland expandieren.«
»Polen ist eine kluge Wahl. Unsere Wirtschaft boomt, und wir liegen im Herzen Europas. Aber eins würde mich interessieren: Wir haben Tausende florierende Unternehmen in Polen, wie kommen Sie ausgerechnet auf meines?«
»Ich habe Recherchen angestellt, Mr. Stapinsky. Das ist mein Job.«
»Als Finanzexperte müssten Sie dabei festgestellt haben, dass ich keine Investoren brauche.«
»Sie meinen, keine neuen, richtig?«
»Wovon reden Sie?«
»Meines Wissens ist Baltic General Services unlängst eine Partnerschaft mit Ihnen eingegangen und unterstützt Ihr Unternehmen mit Geld und diversen Dienstleistungen.«
»Ja und?«
»Hat man Sie aufgekauft? Oder haben Sie fifty-fifty gemacht?«
»Ich bin nicht geneigt, mit Ihnen über die Modalitäten zu sprechen. Aber sagen Sie mir, was interessiert Sie denn so an meiner Firma?«
»Darüber würden wir gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit für uns hätten.«
»Wie Sie sehen, bin ich im Begriff, für längere Zeit zu verreisen.«
»Wo soll es denn hingehen?«
»Das geht Sie nun wirklich nichts an.« Stapinsky wuchtete eine weitere Tasche in den Kofferraum.
»Es wird nur ein paar Minuten dauern, und ich denke, Sie werden es nicht bereuen.«
»Was Sie so alles denken.«
»Ich denke zum Beispiel, dass zehn Millionen Dollar Ihre Zeit wert sind.«
Stapinskys Augen weiteten sich.
»Das ist die Summe, die ich investieren muss. Noch heute, wenn möglich.«
»Ich denke, ich kann ein paar Minuten erübrigen. Kommen Sie doch bitte herein.«
Hab ich dich.
Sie saßen auf einem grünen Ledersofa in Stapinskys Bibliothek, deren Regale von Büchern, hauptsächlich Paperbacks, überquollen. Die Einbände waren makellos, als wäre ihr Inhalt nie gelesen worden. Bei den englischen Titeln handelte es sich um Wirtschaftstexte und literarische Klassiker. Bei den russischen auch. Die polnischen Buchtitel konnte er nicht lesen, aber er nahm an, dass für sie dasselbe galt.
»Darf ich?«, fragte Jack und deutete auf ein Regal neben dem Schreibtisch.
»Wenn es sein muss«, brummte Stapinsky, während er süßlich riechenden Tabak in eine italienische Bruyère-Pfeife stopfte.
Jack zog Hemingways Wem die Stunde schlägt aus dem Regal.
»Großartiges Buch. Ich liebe den Film. Haben Sie ihn gesehen?«
»Mehrmals. Die Bergman ist ein Traum.« Stapinsky zündete die Pfeife an.
»Aber die Darstellerin der Pilar stiehlt ihr die Show. Wie hieß sie noch gleich?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Stapinsky wandte sich seinem jungen Dienstmädchen zu, das mit einem Tablett in der Hand den Raum betrat. Die Ukrainerin brachte Tassen mit Instantkaffee und Biscoff-Kekse, die noch in Plastik verpackt waren.
Jack stellte das Buch ins Regal zurück, während Stapinsky die junge Frau mit einer Handbewegung fortscheuchte.
»Ich liebe diese Kekse«, sagte Liliana. »Die bekommt man häufig in Flugzeugen.«
Stapinsky blies eine blaue Rauchwolke in die Luft und setzte ein schmieriges Lächeln auf. »Wir haben den Alleinvertrieb für Biscoff-Produkte in Polen.«
»Beeindruckend.«
Jack setzte sich neben Liliana. Stapinsky deutete auf den Kaffee und die Kekse. »Bitte, bedienen Sie sich.«
»Danke.« Jack trank einen Schluck von der Plörre.
Stapinsky verschränkte seine langen Finger und lehnte sich, die Pfeife zwischen die gelblichen Zähne geklemmt, über seinen Schreibtisch nach vorn.
»Also, Mr. Ryan, was genau schlagen Sie mir vor?«