V on dem Lebensmittelgeschäft aus gingen Jack und Liliana nach Westen und durchquerten eine schmale Parkanlage mit Spazierwegen, die fast die ganze Altstadt umschloss. Dann folgten sie einer belebten, vierspurigen Straße namens Westerplatte nach Süden, wobei sie unter anderem an einem Dominikanerkloster vorbeikamen. Schließlich gelangten sie an ein vierstöckiges Wohnhaus im neoklassizistischen Stil, das in einer sehr ruhigen und schönen, von Bäumen gesäumten Straße lag. Um hineinzukommen, brauchte man eine elektronische Schlüsselkarte, doch ein älteres Ehepaar kam gerade heraus und nahm keine Notiz davon, dass Jack und Liliana durch die halb offene Tür schlüpften.
Im Haus war es ruhig bis auf die Klänge einer energisch, aber gut gespielten Geige in einem der oberen Stockwerke und dem fröhlichen Gelächter kleiner Kinder hinter der nächsten der beiden Türen im Erdgeschoss. Auf den Briefkästen standen nur polnische Namen. Die alten Marmorfußböden waren sauber und die dunklen Holztüren und Lampen poliert.
»Vier Etagen mit je zwei Wohnungen«, sagte Liliana mit leiser Stimme. »Stapinsky gehört das ganze Haus.«
»Sieht nicht nach einer Drogenhöhle oder einem Trainingscamp für Terroristen aus, oder?«
»Ist es das, was Sie suchen?«
»Nicht direkt.«
Liliana runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher, dass Sie Finanzanalyst sind?«
»Ich möchte nicht, dass meine Investoren in etwas Illegales verwickelt werden.«
»Natürlich nicht. Gibt es hier noch etwas zu sehen?«
»Nein.«
Nach fünfzehn Gehminuten waren sie wieder bei Lilianas Audi. Sie fuhren zu den letzten beiden Adressen.
Die erste entpuppte sich als winziger Schnapsladen – »Alkohole« stand auf dem Schild. Er war kaum größer als eine Telefonzelle und an einen Supermarkt angebaut, der nur zehn Minuten von dem Wohnhaus entfernt lag. Der Laden bot Jack kaum genug Platz, um den Kopf hineinzustrecken und sich umzusehen, wobei er dem Blick des zerrauften Mannes hinter der kleinen Glastheke auszuweichen versuchte, der ihn finster anstarrte. Jede Ecke und jeder Winkel war mit Hochprozentigem vollgestopft, hauptsächlich aromatisierte Wodkas sowie irische und amerikanische Whiskeys, und zumeist in Flaschen, die so klein waren, dass sie in eine Jacken- oder Handtasche passten.
Auch ihre letzte Station war nicht weiter bemerkenswert: Kraków Candy, ein kleiner Laden mit einer großen Auswahl an verpackten Süßigkeiten, importierten und inländischen.
»Der Laden gehört Stapinsky. Nach dem von ihm angegebenen Reingewinn zu urteilen, würde er vermutlich mehr verdienen, wenn er ihn vermieten würde«, sagte Liliana.
»Wohin jetzt?«, fragte sie, als sie den Wagen entriegelte.
»Zurück nach Warschau.«
»Wohin genau?«
»Setzen Sie mich an meinem Hotel ab, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich lasse mir heute Abend noch mal alles durch den Kopf gehen, dann machen wir morgen weiter.«
»Wie Sie wollen.«
Sie fuhren auf der S7, auf der sie gekommen waren, zurück in Richtung Warschau. Der Himmel verdunkelte sich, als sie die Stadtgrenze von Krakau passierten. Zehn Minuten später prasselte Regen auf die Windschutzscheibe, und die Scheibenwischer verrichteten komplett asynchron zu der Musik von Dave Brubeck, die Liliana auf ihrer Audioanlage abspielte, ihre Arbeit.
Jack unterdrückte sein drittes Gähnen nach ebenso vielen Kilometern.
»Mir setzt der Jetlag auch immer zu«, sagte Liliana. »Machen Sie ruhig ein Nickerchen, wenn Sie mögen.«
»Danke, aber ich bleibe jetzt lieber wach. Sonst wird er mir die ganze Zeit zu schaffen machen.« Der Verkehr in ihrer Richtung hatte deutlich nachgelassen.
»Was glauben Sie, wie lange werden Sie in Polen bleiben?«
»Eine Woche. Einen Monat. Wer weiß.«
»Und wie finden Sie mein Land?«
»Bislang bin ich beeindruckt. Ihrer Wirtschaft geht es viel besser, als ich dachte.«
»Ja, wir versuchen in allen Bereichen zu wachsen, vor allem bei der Industrieproduktion, und wir versuchen unsere Exporte zu steigern.«
»Was halten Sie von der Initiative ›Neue Seidenstraße‹?«
Liliana schüttelte den Kopf. »Die macht mir Sorgen. In der Theorie klingt das alles ja ganz gut – offene Handelswege zwischen China und Europa, von denen alle profitieren. Doch in der Realität überschwemmen die Chinesen unsere Märkte mit Industrieerzeugnissen, und wir exportieren nach China nur Schweinefleisch und Milchprodukte.«
»Und die Chinesen spielen nicht gerade fair, oder?«
»Sie sollten das doch wissen. Nehmen Sie nur das massive Handelsdefizit Ihres Landes gegenüber China.«
»Es überrascht mich, dass Sie das internationale Handelsgeschehen verfolgen.«
»Wieso? Weil ich in der Strafverfolgung tätig bin? Glauben Sie mir, in unserer Abteilung sprechen wir ständig über solche Dinge.«
»Warum?«
»Haben Sie in letzter Zeit die Nachrichten verfolgt? Überall in Europa gibt es Krawalle und Proteste. In Griechenland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über vierzig Prozent, in Italien und Spanien bei über dreißig und in Portugal bei annähernd zwanzig Prozent. Das verarbeitende Gewerbe hat unter der letzten Rezension schwer gelitten und sich nie gänzlich erholt, und wenn die Flut der chinesischen Importe weiter anhält, wird es das auch nie.«
»Wollen Sie damit sagen, dass subventionierte chinesische Importe zur Destabilisierung Europas beitragen?«
»Absolut. Was sollen junge Leute ohne Jobs anfangen? Was für eine Zukunft haben sie? Und sehen Sie sich an, wie sich Europa momentan spaltet. Die Länder mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit – Griechenland, Spanien und Portugal – haben radikale sozialistische Regierungen. Das ist nicht die Richtung, die Europa einschlagen muss.«
»Und wie stehen Sie zu ausländischen Investitionen in Ihrem Land?«
»Sie meinen wie von Hendley Associates?« Sie lächelte.
»Um nur ein herausragendes Finanzunternehmen zu nennen, ja.«
»Investitionen, die zum Wachstum unserer Wirtschaft beitragen, kann ich befürworten. Alles, was in Polen Arbeitsplätze und Wohlstand schafft, ist gut für Polen. Aber der Zweck des sogenannten freien Handels scheint doch darin zu bestehen, ein paar Individuen und Unternehmen auf Kosten des übrigens Landes reich zu machen. Der Import billiger Auslandswaren führt zum Export polnischer Arbeitsplätze, und das ist auf lange Sicht nicht nachhaltig.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Aber die Welt steuert aktuell in die entgegengesetzte Richtung. Globalisierung lautet die Devise.«
»Ja. Aber wir sind an einem kritischen Scheideweg angelangt, finden Sie nicht?«
»Inwiefern?«
»Ironischerweise wird im Namen des freien Handels Regierungsgewalt immer stärker zentralisiert mit dem Ziel, Grenzen abzuschaffen und nationale Souveränität zu eliminieren. Aber wenn wir unsere nationale Identität verlieren, was bringt uns dann die Mitgliedschaft in der Europäischen Union?«
»Aber wenn es den Wohlstand der polnischen Bevölkerung mehrt, wäre es das nicht wert?«
»Wird es das? Was geschieht denn, wenn Macht zentralisiert wird? Glauben Sie, die größten deutschen und französischen Unternehmen werden Brüssel erlauben, polnische Unternehmen auf ihre Kosten wachsen zu lassen? Oder glauben Sie, dass es genau anders herum sein wird? Nicht in der Theorie – kommen Sie, Sie haben Geschichte studiert. Was geschieht, wenn sich große Unternehmen mit einer starken Zentralregierung zusammentun?«
»Die Reichen werden reicher und die Politiker mächtiger.«
»Faschismus und Sozialismus sind ein und dasselbe.« Liliana fluchte leise in sich hinein. »Verzeihen Sie, ich rede schon wieder zu viel. Das ist unhöflich.«
»Aber es stört mich ganz und gar nicht. Im Gegenteil.«
»Denken Sie daran, wie lange unser Land von der Landkarte verschwunden war. Unter den Besatzern durfte an den Schulen kein Polnisch unterrichtet werden, unseren Kindern wurde die eigene Geschichte vorenthalten. Unter den Nazis war es dasselbe. Wir mussten kämpfen, um unsere Identität zu bewahren, unsere Kultur und unsere Sprache. Das alles wollen wir nicht aufgeben für billige Toaster und chinesisches Essen, auch wenn ich zufällig für Huhn nach Gongbao-Art schwärme.«
Jack deutete auf ein Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage vor ihnen. Eine ältere Frau stand ohne Schirm im Regen und versuchte vergeblich, ein Ersatzrad aus ihrem Kofferraum zu ziehen.
»Die Arme«, sagte Liliana. »Ich rufe Hilfe.«
»Fahren Sie rechts ran. Das schaff ich schon.«
»Aber es regnet.«
»Und wenn niemand kommt?«
»Na gut.«
Liliana hielt hinter dem Wagen der Frau, einem rostigen VW Jetta, an. Sie drehte sich um und blinzelte gegen den Regen an, der ihr ins Gesicht klatschte.
Liliana und Jack sprangen hinaus und rannten zu ihr hinüber. Liliana stellte sich als Polizeibeamtin und Jack als ihren amerikanischen Freund vor – vermutete er jedenfalls. Er wollte sich nicht lange mit Förmlichkeiten aufhalten. Auch er wurde klatschnass.
Die Frau wollte Jack unbedingt zeigen, was zu tun war, und Liliana versuchte, sie unter den Minischirm zu ziehen, den sie mitgebracht hatte. Schließlich überredete sie die Frau dazu, sich in den Audi zu setzen, bis Jack fertig war. Fünfzehn Minuten, nachdem sie angehalten hatten, war das Reserverad montiert und Jack von Kopf bis Fuß durchnässt und verdreckt, aber zufrieden mit seiner Arbeit.
Der Regen hatte aufgehört. Die Frau bedankte sich bei Jack überschwänglich in einem Wortschwall auf Polnisch, den Liliana hastig übersetzte, dann stieg sie in ihren Wagen. Sie trat das Gaspedal durch und raste davon, wobei sie eine Schlammfontäne aufwirbelte, die Liliana und Jack von oben bis unten vollspritzte.
Sie konnten nur lachen.
Liliana öffnete den Kofferraum des Audis und fischte eine Decke heraus. Sie trockneten sich damit so gut es ging ab, dann stiegen sie in den Wagen und fuhren weiter Richtung Warschau. Liliana drehte die Heizung hoch. Zwanzig Minuten später war Jack fest eingeschlafen und schnarchte, was das Zeug hielt.