L iliana wartete wie versprochen Punkt acht Uhr vor dem Hoteleingang. Weil er sie ausdrücklich darum gebeten hatte, hatte sie ihm keinen Kaffee mitgebracht.
Zu seiner Enttäuschung hatte Jack feststellen müssen, dass das Hotelrestaurant nur Abendessen anbot, aber TripAdvisor empfahl ihm einen kleinen Kiosk in der Nähe, vor dem ein paar Einheimische Schlange standen, um pączki und dampfenden heißen Illy-Kaffee in robusten Pappbechern zu kaufen. Die Allergiepille hatte Jack fast umgehauen, was eine gute Sache war, hatte aber dazu geführt, dass er im Zustand chemischer Umnebelung aufgewacht war. Zwei Becher starken Kaffees waren nötig, bis er wieder klarer denken konnte.
Er riss die Vordertür des Audis auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Dzień dobry.«
Liliana lächelte. »Dzień dobry . Gut geschlafen?«
»Wie ein Stein.«
»Gut. Dann fangen wir gleich an.«
»Wunderbar. Wohin als Erstes?«
»In mein Büro.«
Eine knappe halbe Stunde später saß Jack in Lilianas bescheidenem Büro im dritten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in der Ulica Rakowiecka. Weder ein Schild noch eine Aufschrift wies darauf hin, dass sich in diesem Gebäude das Hauptquartier des ABW befand. Es versprühte noch immer den Charme einer Polizeistation aus kommunistischen Zeiten – was es damals auch tatsächlich gewesen war.
Am Haupteingang hatte Jack zunächst die üblichen Sicherheitskontrollen durchlaufen müssen. Sein Pass war eingescannt worden, und man hatte ihm einen Besucherpass ausgehändigt.
Die nächsten vier Stunden brüteten Jack und Liliana über zahlreichen Dateien mit Steuererklärungen, Lizenzen, Anträgen, Geschäftsberichten und Konkursunterlagen.
Jack sprach kein Polnisch, aber die Suchfunktionen auf Lilianas Computer reichten völlig aus, um einfache Suchbefehle für Kombinationen der Namen »Christopher Gage«, »Baltic General Services«, »Gage Group International« und sogar »Gage Capital Partners« durchzuführen. Jack hätte auch gern nach »Dixon« gesucht, wagte aber nicht, den Namen der Senatorin in den Kontext seiner Ermittlungen einzubeziehen – und erst recht nicht auf einem Computer des polnischen Geheimdienstes. Außerdem sagte er sich, wenn sie wirklich etwas Illegales zu verbergen hatte, würde sie das ganz sicher nicht unter ihrem Klarnamen tun.
Die Steuerunterlagen zeigten, wo sich die Büros der Firma Baltic General Services, kurz BGS , in Danzig befanden. »Könnte sein, dass das Gebäude unten am Hafen steht«, meinte Jack und deutete auf eine Stelle im Stadtplan auf dem Monitor.
»Das wird wahrscheinlich eine Art Lagerhaus sein. Vielleicht mit einer Werkstatt für Reparatur- und Wartungsarbeiten. Oder eine Kombination von Werkstatt und Büros.«
Das war wenigstens ein kleiner Hinweis.
Liliana blickte auf die Uhr. »Wie wär’s mit Mittagessen? Ich kenne ein gutes Restaurant in der Nähe. Die besten pierogi in ganz Warschau.«
Jack zögerte kurz, als ihm einfiel, wie viel Kohlenhydrate er bereits gestern verschlungen hatte, aber es war es wert gewesen.
Was machten schon ein paar Tausend Kalorien mehr oder weniger aus?
»Klingt großartig.«
»Haben Sie schon mal Piroggen gegessen?«
»Nein, noch nie. Aber ich sehe, wie Ihre Augen aufleuchten, wenn Sie ›pierogi‹ sagen, also wird es wohl was Gutes sein.«
Liliana nahm ihr Schulterholster vom Kleiderständer und schlüpfte hinein.
»Neun Millimeter?«, erkundigte er sich, als sie die Waffe in den Gurt steckte.
»Sie kennen sich mit Waffen aus?«
»Ein wenig.«
»Und – schießen Sie gut?«
»Ich hab mir jedenfalls noch nie in den Fuß geschossen. Also bin ich vermutlich nicht so schlecht.«
»Vielleicht kann ich eine Erlaubnis besorgen und Sie später zum Schießstand mitnehmen. Würde Ihnen das gefallen?«
»Ja, das würde mir wirklich Spaß machen.«
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, es ist eine WIST -94 9-mm, entwickelt und hergestellt in Polen.«
Sie nahm die Waffe noch einmal aus dem Holster, ließ das Magazin herausfallen und zog den Schlitten zurück, um die Kammer zu leeren, wobei eine Patrone herausgeschleudert wurde. Jack fing sie in der Luft auf.
»Gute Reaktion. Hier.« Sie reichte ihm die Pistole, mit dem Griff zuerst.
Er wog die Waffe in der Hand. Polymer und Stahl, genau wie die Glock 19, die er selbst favorisierte. Diese Waffe war jedoch etwas größer, ungefähr wie die Glock 17. Und wie die Glock hatte auch sie eine interne automatische Schlagbolzensicherung, die durch den Abzug entriegelt wurde. Dagegen bevorzugte Jacks Mentor John Clark noch immer die ganz aus Stahl hergestellte Colt .45 1911. »Alte Schule«, wie Clark immer sagte. »Ohne sie wäre ich nicht so alt geworden, wie ich bin.«
Jack hätte gerne das Zielen mit der fremden Pistole ausprobiert und sie vielleicht sogar auseinandergenommen, aber er war hier sozusagen undercover unterwegs, daher gab er sich cool.
»Wie viel Schuss hat sie?«
»Sechzehn im Mag, eine in der Kammer – aber die haben Sie im Moment in der Hand.« Sie streckte ihm die geöffnete Hand hin.
»Ach so, ja.« Er gab ihr die Patrone zurück.
Ihre Blicke trafen sich. Jack verspürte ein leichtes Kribbeln im Nacken. Und etwas anderes regte sich. War das ihre Art, mehr über ihn zu erfahren?
Oder war es eine Art Test?
Er lächelte und reichte ihr die Pistole zurück, mit dem Griff voraus.
Sie schob das Magazin wieder ein, zog den Schlitten zurück und legte die Patrone ein, dann nahm sie das Magazin wieder heraus, lud die letzte Patrone ins Magazin, schob es wieder ein und steckte die Waffe in das Holster.
Jack merkte aus ihrem Umgang mit der Waffe, dass sie in einer Schießerei ihre Schüsse zählen würde. Siebzehn Schuss war ihre Zahl, und sie hatte offenbar nicht vor, sich beirren zu lassen.
»Bereit?«
»Sie haben das Kommando, Ma’am.«
Die Warschauer Luft war kühl, aber angenehm, und der Himmel war wolkenfrei. Ein perfekter Tag für einen Spaziergang, besonders für einen, der zum Mittagessen führte.
»Ich kann Ihnen nicht genug danken für Ihre Unterstützung«, sagte Jack.
»Gern geschehen. Es bringt ein wenig Abwechslung in meine normale Arbeitsroutine.«
»Stimmt, beinahe hätte ich vergessen, dass Sie sich als Klavierspielerin ausgeben, aber eigentlich undercover für den polnischen Geheimdienst arbeiten. Was ist Ihr aktueller Fall? Nein, lassen Sie mich raten. Die österreichische Mafia schmuggelt Klavierplagiate aus China nach Polen.«
Sie lachte. »Schön wär’s. Im Moment arbeite ich an einem hässlichen Fall im Drogenmilieu und habe es außerdem auch mit einem wirklich üblen Menschenschmugglerring zu tun. Diese Typen versprechen jungen Mädchen aus Osteuropa das Blaue vom Himmel und werfen sie dann in eine Hölle, schlimmer als Dantes Inferno .«
Jack hätte ihr gern sein Mitgefühl gezeigt. Es war noch nicht sehr lange her, als es auch der Campus mit einem Fall von bandenmäßiger Kinderprostitution in Texas zu tun bekommen hatte, der Jack und das Campus-Team zutiefst erschüttert hatte. Aber Liliana durfte nicht erfahren, dass er für den Campus arbeitete oder dass es die Organisation überhaupt gab. Er musste daher seine Worte genau abwägen.
»Das klingt furchtbar.«
Auf der anderen Straßenseite ging ein Priester in die entgegengesetzte Richtung, der so jung aussah, als hätte er gerade erst mit der Ausbildung begonnen.
Liliana nickte mit grimmiger Miene. »Schlimmer, als Sie sich vorstellen können.«
»Jetzt machen Sie mir Gewissensbisse.«
»Warum?«
»Man hat Sie von Ihrer wichtigen Arbeit an zwei Fällen abgezogen, damit Sie mir helfen, ein paar Firmen zu überprüfen, die wahrscheinlich völlig harmlos sind.«
»Glauben Sie mir, es wird noch genug Schmutz und menschliche Tragödie für mich übrig sein, wenn Sie wieder abgereist sind.«
»Nein, im Ernst: Warum helfen Sie mir?«
»Nicht ich helfe Ihnen – Sie helfen mir.«
»Wie denn das?«, fragte Jack überrascht.
»Wir ermitteln gegen einen fragwürdigen amerikanischen Geschäftsmann und dessen mögliche Geschäftemacherei mit polnischen Staatsbürgern. Erst durch Sie, Jack, sind wir auf diese Vorgänge aufmerksam geworden. Dafür schuldet Ihnen unsere Regierung Dank.«
Jack verzog schmollend den Mund. »Sie machen sich lustig über mich.«
Liliana lachte. »Schmollen steht Ihnen nicht. Und ich mache mich nicht über Sie lustig, warum auch?«
Jack hob die Schultern. »Und wenn sich herausstellt, dass alles nur Schall und Rauch ist?«
»Dafür gibt’s ein passendes Sprichwort: ›Wo Rauch ist, ist auch Feuer.‹«
Nichts ist attraktiver als eine Frau mit Verstand und Humor, dachte Jack, und Liliana war offenbar mit beidem reichlich gesegnet.
»Jetzt mal ganz im Ernst«, sagte er. »Sie scheinen wirklich mehr für mich zu tun, als Sie müssten.«
»Das scheint nicht nur so, das ist so.«
»Okay – ich würde wirklich gern denken, dass ich das meiner umwerfend charmanten Art zu verdanken habe, aber ich vermute, es hat eher mit Gerry Hendley zu tun.«
»Um ehrlich zu sein, das stimmt. Mein Boss ist ein großer Fan des Senators. Und sein eigener Boss ebenfalls, und der ist immerhin der polnische Staatspräsident.«
»Und Sie sollen nun einen guten Eindruck auf mich machen, damit ich das Gerry Hendley berichte? Und ihn womöglich überrede, seinen Einfluss im Kongress geltend zu machen, damit das Gesetz über die Einrichtung einer Militärbasis in Polen verabschiedet wird?«
»So ungefähr. Wie ich erfahren habe, wollen sie es ›Fort Ryan‹ nennen.«
»Soll das ein Witz sein? Das wäre der schnellste Weg, um Präsident Ryan dazu zu bringen, die ganze Sache abzublasen. Sie sollten es lieber nach einem Polen benennen. Wie wär’s mit Fort Pulaski, nach dem polnischen General, der während der Amerikanischen Revolution im Kampf fiel? Er war der Gründer der amerikanischen Kavallerie, und soweit ich weiß, könnte die First Cavalry Division die erste Einheit sein, die dann auf der neuen Basis stationiert wird. Das wäre ein echter Volltreffer.«
»Für einen Amerikaner kennen Sie sich in der polnischen Geschichte ziemlich gut aus.«
»Leider nur insoweit, als sie unsere eigene Geschichte berührt.«
»Ich werde Ihre Empfehlung weiterleiten.«
Inzwischen waren sie vor dem Restaurant angekommen, das zur Straße hin allerdings kaum breiter schien als die Eingangstür. Jack hielt ihr die Tür auf. Alle Tische in dem winzigen Gastraum waren besetzt. Es war ziemlich laut – lebhafte Gespräche beim Mittagessen, Geschirr klapperte, Gläser klirrten.
Eine junge Bedienung lächelte Liliana freundlich zu, wobei ihr Blick kurz zu Jack schweifte. Sie rief Liliana etwas zu und winkte sie zu sich zum hintersten Teil des Gastraums.
»Sie besorgt uns einen Tisch«, erklärte Liliana, als sie sich zwischen den eng stehenden Tischen durchwanden. Jack murmelte immer wieder »Przepraszam« , aber die Störung schien niemandem etwas auszumachen.
Die Bedienung räumte einen kleinen Tisch frei, auf dem eigentlich Geschirr, Besteck und Servietten »zwischengelagert« wurden, und zog zwei freie Stühle heran.
Liliana bedankte sich herzlich und gab gleich die Bestellung auf. Zehn Minuten später wurde eine große Platte pierogi auf den Tisch gestellt. Liliana deutete auf die verschiedenen Piroggen, die entweder mit klein gehackten Pilzen, Rind- oder Schweinehack oder mit süßen Pflaumen gefüllt waren. Dazu tranken sie Mineralwasser.
Als sich die Piroggenplatte allmählich leerte, erkundigte sich Liliana: »Na, habe ich Sie beeindrucken können?«
»Ja, allerdings. Nicht nur Sie selbst, sondern das ganze Land.«
»Polen ist ein großartiges Land. Ein Land, das es wert ist, dafür zu sterben.«
»Denken alle Polen so?«
»Immer weniger meiner Landsleute, muss ich leider sagen. Vor allem die jungen Leute denken anders.«
»Das gilt auch für mein Land«, meinte Jack.
»Sie fühlen sich anderen Dingen stärker verbunden, aber dafür wären sie nicht bereit zu sterben. Wer würde schon sein Leben für die EU oder für die Globalisierung opfern wollen?«
»Ich habe schon gemerkt, dass Sie kein EU -Fan sind, aber die EU wurde doch gegründet, um den Nationalismus in Europa zu überwinden und einen weiteren Krieg zu verhindern, nicht wahr?«
»Wenn nationale Grenzen die Ursache von Kriegen sind, dürfte es doch keine Bürgerkriege mehr geben, oder?«
Jack dachte an seinen Einsatz in Bosnien und Herzegowina, der gerade mal ein Jahr zurücklag, und an den furchtbaren Bürgerkrieg, der in den 1990er-Jahren zwischen den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien getobt hatte und den Menschen dort noch immer das Leben – und das Zusammenleben – schwer machte.
Liliana schüttelte den Kopf. »Jetzt fange ich schon wieder damit an. Tut mir leid.«
»Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie Ihr Land lieben. Ich werde das auch niemals tun.«
Sie signalisierte der Bedienung, dass sie bezahlen wolle.
Dieses Mal übernahm Jack die Rechnung, obwohl Liliana dagegen protestierte.
Am Nachmittag arbeiteten sie sich durch die letzten Berichte und Unterlagen, die sie sich hatten beschaffen können. Die Summe ihrer Entdeckungen am heutigen Tag war ernüchternd: Außer der Tatsache, dass eine geschäftliche Beziehung zwischen Gage und Stapinsky bestand, die ihnen bereits bekannt gewesen war, entdeckten sie nichts Neues. Soweit Jack erkennen konnte, war an den Geschäftsbeziehungen zwischen beiden nichts Illegales.
Obwohl Liliana sämtliche Vorgänge mit einer weiteren Datenbank des ABW überprüfte, in die Jack keinen Einblick gewährt bekam, gewann auch sie keine weiteren Erkenntnisse.
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich für Baltic General Services keine legalen Verbindungen zu uns bekannten kriminellen Elementen oder Unternehmen finden kann.«
»Na, das ist doch auch etwas. Gibt es noch etwas, das wir uns anschauen können?«
»Diese Datenbank war die letzte, auf die wir zugreifen dürfen, Jack. Tut mir leid. Was haben Sie jetzt vor?«
Jack hob die Schultern. »Mir fällt nur noch eine Möglichkeit ein. Ich würde mir noch gerne die Liegenschaften anschauen, die Baltic General Services in Gdynia und Danzig besitzt. Ich habe drei Adressen gefunden.«
»Wir können morgen hinfahren, wenn Sie wollen.«
»Ja, das wäre gut.«
Lilianas Telefon klingelte. »Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Das ist meine Mutter.«
»Mütter gehen immer vor«, sagte Jack lächelnd und blickte auf die Uhr. Kurz nach 17.30 Uhr.
Sie redete in schnellem Polnisch. Jack versuchte wegzuhören – was eigentlich überflüssig war, da er kein Polnisch sprach. Aber er sah und hörte eben doch, dass sie nur noch flüsterte, sich von ihm abwandte, sich ein paar Schritte von ihrem Schreibtisch entfernte und ihr Tonfall drängender wurde. Schließlich drehte sie sich wieder zu Jack um, deckte aber die Sprechmuschel mit der Hand ab. Sie errötete vor Verlegenheit.
»Entschuldigen Sie, Jack, aber ich muss Sie etwas fragen.«
»Ja, natürlich. Worum geht es denn?«
»Meine Mutter lässt nicht locker. Sie möchte wissen, ob Sie heute zum Abendessen zu uns kommen wollen. Sie schwärmt immer von Ihrem Land und möchte Sie gern kennenlernen.«
Das brachte Jack in eine Zwickmühle. Einerseits war es eine sehr nette Geste, ihn zum Abendessen einzuladen. Andererseits hatte er schon wieder das Gefühl, auf die Probe gestellt zu werden.
»Ich sehe es in Ihrem Gesicht – es ist zu viel verlangt. Ich muss mich entschuldigen.« Liliana nahm die Hand vom Hörer, um ihrer Mutter die schlechte Nachricht mitzuteilen.
»Nein, warten Sie!«
Liliana hielt inne.
Jack lächelte. »Was gibt’s denn zum Abendessen?«