J ack und Liliana genossen das Essen, das aus einer Żurek genannten Suppe mit Würstchen und geräuchertem Schweinespeck, gefolgt von Marias Steaks mit schmackhaften Beilagen bestand. Tomasz saß neben Jack, der das Steak für den Jungen in kindgerechte Häppchen schnitt.
Maria befahl Alexa, während des Essens sanfte spanische Gitarrenmusik zu spielen. Das Gespräch floss leicht dahin, von Musikvorlieben zu Filmen, zur Geschichte und schließlich auch zu politischen Themen, denen Jack aber schnell auswich, wobei er Unkenntnis und sogar eine leichte Politikverdrossenheit vortäuschte. Er wollte vermeiden, dass die beiden Frauen aufgrund der Namensgleichheit Folgerungen zogen, dass er mit dem Präsidenten verwandt sei, zumal er diesem trotz des Barts immer noch entfernt ähnlich sah. Als sich das Gespräch schließlich dem Thema Wirtschaft zuwandte, in dem sich Maria sehr gut auskannte, hob Liliana beide Hände in die Höhe.
»O nein. Wenn ihr jetzt über Gewinnmargen und protektionistische Importzölle reden wollt, werde ich wohl das Geschirr abwaschen müssen.« Sie stand auf und sammelte Teller und Besteck ein.
Jack stand ebenfalls auf. »Ich helfe Ihnen.«
Aber Maria legte ihm die Hand auf den Arm. »Unsinn. Sie sind unser Gast. Jetzt kommt zuerst noch der Nachtisch.« Sie flüsterte Tomasz etwas ins Ohr.
Der kleine Junge quiekte fröhlich. »Szarlotka!«
Maria befragte Jack intensiv über den amerikanischen Aktienmarkt – schließlich war er Finanzanalyst – und wie sich die Märkte nach der von der amerikanischen Zentralbank angekündigten Zinserhöhung um einen halben Prozentpunkt entwickeln würden. Er beantwortete ihre Fragen geduldig und befragte sie seinerseits über die EZB und deren Aufkauf von Staatsanleihen. So ging es die nächsten zwanzig Minuten hin und her.
Tomasz langweilte sich, hatte es aber irgendwann während des Gesprächs geschafft, sich auf Jacks Schoß zu schleichen. Sein Blick zuckte zwischen den beiden Erwachsenen hin und her, als könne er dem Gespräch Wort für Wort folgen.
Liliana kam aus der Küche zurück und sagte resolut: »Okay, Mutter, hast du uns nicht Szarlotka versprochen?«
In dem Moment klingelte der Timer.
»Kommt sofort.« Maria stand auf. »Kaffee?«
»Gern, danke.« Tomasz befühlte Jacks Bart mit seinen kurzen, fettverschmierten Fingern.
»Tomasz! Hör sofort auf damit!«, sagte Liliana streng. »Soll ich ihn nehmen?«
»Nein, nicht nötig. Ich hatte früher oft meinen kleinen Bruder und meine Schwester auf dem Schoß, vor einer Million Jahren. Es fehlt mir ein bisschen.«
Maria trug mehrere Schalen mit großen Stücken Szarlotka herein. Auf den warmen Apfelkuchen hatte sie große Kugeln Vanilleeis gelegt, das bereits zu schmelzen begann.
»Mama – das ist wirklich zu viel!«
»Unsinn. Du bist dünn wie eine Bohnenstange. Und Jack hat so viel Muskeln, der verbrennt schon beim Sitzen so viel Kalorien, dass er den ganzen Kuchen allein essen könnte.«
Sie stellte eine kleinere Schale Szarlotka mit Eiscreme vor Tomasz’ Hochstuhl auf den Tisch.
»Lass Mr. Ryan jetzt in Ruhe, damit er sein Dessert essen kann«, befahl sie auf Polnisch, wie Jack nach ihrem Tonfall und ihren Gesten erriet.
»Nie« , gab Tomasz stur zurück. Er beugte sich vor und zog mit seinen kleinen Fingern sein Tischset samt dem Teller zu sich herüber, stieß den Löffel in den Kuchen und hob ihn an den Mund.
»Vorsicht, Kumpel, es ist heiß«, sagte Jack und blies auf seinen eigenen Löffel, um es ihm zu zeigen.
Tomasz schaute ihn fragend an, dann blies er ebenfalls auf seinen Löffel, bevor er ihn in den Mund schob.
»Sie verderben meinen Sohn«, sagte Liliana. »Oder ist es anders herum?«
Jack zuckte die Schultern und lächelte, aß aber weiter. »Mann, der Kuchen schmeckt fantastisch.«
Nach dem Essen spielten Jack und Tomasz ihr Plastik-Safariabenteuer weiter, während Maria und Liliana den Tisch abräumten und in der Küche arbeiteten.
Nach etwa zwanzig Minuten kam Liliana wieder ins Wohnzimmer und erklärte ihrem Sohn unmissverständlich: »Zeit fürs Bett.«
Tomasz schaute bekümmert zu Jack auf. Hilf mir, Kumpel .
Jack zuckte die Schultern. »Tut mir leid, kleiner Mann. Wenn dein Boss sagt, es ist Bettzeit, kann man nichts machen.«
Er stand auf, und Liliana nahm ihren Sohn auf den Arm. Der kleine Junge lachte und versuchte, sich freizustrampeln. Doch schließlich brachte sie ihn unter Kontrolle und drehte ihn um, Kopf nach unten. Er quietschte vor Vergnügen.
»Puh, du bist wirklich ein großer Junge – bald bist du zu groß, und Mami kann dich nicht mehr tragen.« Sie schaute Jack kurz an. »Dauert nur ein paar Minuten, dann fahre ich Sie zum Hotel zurück.«
»Nur keine Umstände! Ich nehme ein Taxi.«
»Nein, bitte. Das mache ich gerne. In einer Viertelstunde, okay?«
»Ja, okay.«
Jack setzte sich auf die bequeme Couch, zog sein Smartphone heraus und öffnete das Postfach. Er grinste, als er hörte, dass sich Tomasz im Badezimmer sträubte, sich die Zähne putzen und das Gesicht waschen zu lassen.
Eine kurze Nachricht von Gerry, eingegangen vor ungefähr einer Stunde. Jack öffnete sie.
Alles okay dort drüben?
Jack schrieb zurück.
Alles gut, aber ich habe noch nichts vorzuweisen. Fahre morgen an die Küste. Melde mich dann wieder.
Vom anderen Ende des Flurs hörte er Stimmen. Die Tür zu Tomasz’ Zimmer stand offen. Sie beteten auf Polnisch. Jack fragte sich, ob es dieselben oder ähnliche Gebete waren wie die, die seine Eltern mit ihm gebetet hatten, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Er war erleichtert, dass Liliana und Tomasz ihn nicht eingeladen hatten mitzubeten – er hatte es seit Jahren nicht mehr getan.
Aber warum hätten sie ihn dabeihaben wollen?
Die Gebete verstummten in dem Moment, in dem Jack die letzte Mail gelesen hatte. Liliana und Maria kamen wieder ins Wohnzimmer, und Jack stand auf.
»Noch einen Drink, Jack? Cognac? Wodka?«
Jack klopfte sich auf den Bauch. »Ich habe keinen Millimeter mehr Platz im Magen. Das Essen war fantastisch. Ich möchte mich sehr herzlich für die Einladung und einen wunderbaren Abend bedanken.«
Maria lächelte. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Passen Sie auf sich auf, Jack, und ich hoffe, dass Sie finden, was immer Sie suchen.«
»Vielleicht.«
»Und, bitte, wenn Sie wieder in Warschau sind, müssen Sie uns besuchen kommen. Unsere Tür steht Ihnen immer offen.«
»Tomasz sagt auch Auf Wiedersehn«, fügte Liliana hinzu. »Am liebsten würde er Sie gar nicht mehr gehen lassen.«
Maria umarmte ihn zum Abschied und flüsterte: »Ich glaube, Sie erinnern ihn an seinen Vater. Oder vielleicht auch nur an das Foto von ihm.«
Jack war nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Aber er musste zugeben, dass der Junge auch ihn innerlich berührt hatte.
»Es tut mir sehr leid, dass er schon in diesem Alter seinen Vater verlieren musste, Maria. Aber wenigstens hat er Sie und Liliana, und das ist für ihn ein großes Glück.«
Liliana hatte inzwischen ihren Mantel angezogen. »Fahren wir?«
»Ja, fahren wir.«