W as erwarten diese Mistkerle?
Chen schäumte innerlich vor Wut, als er sich zackig umdrehte und zur Tür ging. Der Angriff auf die Raffinerie war vor nicht einmal vier Stunden erfolgt. Kein anderer Geheimdienst auf dem Planeten hätte in dieser kurzen Zeit so viele Antworten liefern können, wie es sein Team geschafft hatte.
Glücklicherweise verfügte das Ministerium für Staatssicherheit praktisch auf dem ganzen afrikanischen Kontinent über hervorragende Informationsquellen, menschliche und technische.
Kaum hatte Chen die Tür hinter sich geschlossen, als er sich auch schon die keineswegs kurze Liste der Agenten in Erinnerung rief, die ihm in Angola zur Verfügung standen. Als er in die Aufzugkabine trat, war ihm bereits klar, dass sie ihm nicht viel nützen würde.
Er hatte keinerlei Zweifel daran, dass es einen Zusammenhang zwischen Fan Mins Tod und dem Angriff auf die Raffinerie geben müsse; schließlich war es Fan Mins Unternehmen, das die Raffinerie baute. Und was noch wichtiger war: Betrachtete man die beiden Ereignisse zusammen, ergab sich eine sehr mächtige politische Botschaft. Um sicherzugehen, hatte Chen seinen besten Operateur beauftragt, Fan Mins Privatleben zu durchleuchten, um ausschließen zu können, dass irgendeine persönliche Vendetta der Grund für Fan Mins Ermordung war, was Chen jedoch für höchst unwahrscheinlich hielt.
Chens größtes Problem war, dass die NFLA eine relativ neue Gruppierung war, die vor diesem Anschlag keine Gewaltaktionen mit Todesopfern durchgeführt hatte. Chen hatte bisher weder Zeit noch Gelegenheit gefunden, die Organisation zu infiltrieren, geschweige denn ihre Mitglieder, Finanzquellen und Waffenlieferanten zu identifizieren.
Aktuell wurde Chen durch ein ganz konkretes Problem daran gehindert, die Killer zu identifizieren, nämlich durch die Tatsache, dass sämtliche Personen, denen er nützliche Hinweise hätte entlocken können, tot waren.
Wer auch immer den Überfall auf die Raffinerie und die Ermordung Fan Mins durchgeführt hatte, war sowohl bei der Planung als auch bei der Ausführung außerordentlich gründlich vorgegangen. Alle denkbaren Spuren waren vernichtet oder verbrannt; die NFLA musste sehr gut organisiert und diszipliniert sein.
Eigentlich unmöglich, sagte er sich, als sich die Fahrstuhltüren wieder öffneten. Die meisten einheimischen Rebellenbewegungen waren kaum mehr als kriminelle Banden, die sich um eine politische Ideologie oder einen fanatisch-religiösen Glauben scharten. Wenn derartige Gruppen ihre ersten kinetischen Operationen planten und ausführten, agierten sie fast immer unsicher und zögernd. Dagegen ließ die operative Effizienz der NFLA vermuten, dass sie über fortgeschrittenes taktisches Training und Aufklärung verfügte, oder jedenfalls über Kapazitäten, die weit über die Fähigkeiten einer einheimischen Rebellenbande hinausgingen.
Chens Bodyguard-Fahrer öffnete die Hintertür des schwarzen Dienstwagens, einer H7-Limousine der Automarke Hongqi (Rote Fahne), die in der Tiefgarage genau gegenüber des VIP -Aufzugs auf ihn wartete.
»Zum Büro«, bellte Chen, als er einstieg, ohne sich von seinen Überlegungen ablenken zu lassen.
Die hochentwickelten Fähigkeiten der Angreifer waren vermutlich den Informationen zu verdanken, die von einem höchst effizienten Geheimdienst geliefert worden waren – von den Amerikanern, Franzosen, Briten, Russen oder Israelis –, also von den üblichen Verdächtigen mit den üblichen Motiven.
Wer kam sonst noch infrage? Vielleicht die Südafrikaner. Sie waren schon während des Bürgerkriegs in Angola einmarschiert, um ihre eigenen Interessen in dem Land zu schützen. Aber Chen hielt ihre Beteiligung für äußerst unwahrscheinlich. Nach dem radikalen Regimewechsel in Südafrika hatten die nachrichtendienstlichen Fähigkeiten der Südafrikaner drastisch abgenommen, vor allem in jüngster Zeit.
Was war mit den Nordkoreanern? Die machten immer und überall Probleme . Es war aber kaum anzunehmen, dass sie so fern von ihrer Heimat agieren und ihre dürftigen Ressourcen einsetzen würden, nur um ihrem chinesischen großen Bruder eins auszuwischen, zumal sie selbst keinen Nutzen daraus ziehen konnten.
Vielleicht steckte die kubanische DI – Dirección de Inteligencia – hinter diesem Desaster. Eine Zeit lang hatten sich 37 000 kubanische Soldaten an den Kämpfen in Angola beteiligt, und 10 000 von ihnen waren im Bürgerkrieg gefallen. Seither hatte China den Einfluss der Kubaner zurückgedrängt und war an deren Stelle getreten. Wollten die Kubaner ihren früheren Einfluss in der Region wieder zurückgewinnen?
Während die Limousine über Pekings Financial Street rauschte, geriet Chen allmählich in Panik. Natürlich hatte das MSS gewisse Informanten in westliche Geheimdienste eingeschleust oder auf seine Seite gezogen, und man konnte auch jederzeit anderen ansprechbaren Bürokraten Bestechungsgelder anbieten. Aber das würde Zeit kosten, und Zeit war genau das Gut, an dem es Chen momentan mangelte.
Er zündete sich eine Zigarette an. Irgendetwas übersah er. Was konnte es sein? Systematisch ließ er sich jeden Aspekt noch einmal durch den Kopf gehen.
Ein Ort? Ein Name?
Ja! Beides.
»CHIBI «, sagte er plötzlich laut.
»Bitte?«
»Nichts. Fahren Sie weiter.«
Chen drückte auf einen Schalter. Die Sicherheitsscheibe schloss sich, die Fahrerkabine und Rücksitze voneinander trennte.
Er verfluchte sich innerlich. Wie konnte er das vergessen? CHIBI gehörte zu den seltsamsten Erfahrungen seines beruflichen Lebens. Sein Gehirn musste es wie eine traumatische Erinnerung vergraben haben.
Als die Rote-Fahne-Limousine vor dem stalinistischen Marmorbau des Ministeriums für Staatssicherheit anhielt, traf Chen eine Entscheidung.
Er würde sich noch einmal mit CHIBI in Verbindung setzen. Glücklicherweise hatte ihm die rätselhafte Quelle für genau dieses Erfordernis genaue Anweisungen gegeben.
Chen würde seine Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass die zuletzt gelieferten Informationen zwar hochwillkommen, aber wahrscheinlich nichts weiter als ein Glückstreffer gewesen seien. Er sei weiterhin daran interessiert, an der Londoner Auktion teilzunehmen, aber brauche dafür noch einen weiteren Konzeptbeweis – einen, den er selbst bestimmen würde: belastbare Informationen über den Lobito-Angriff. Die fünf Soldaten, die den Angriff durchgeführt hatten, waren sicherlich leichter aufzuspüren als die unbekannte Zahl von unsichtbaren Attentätern, die Fan Min eliminiert hatten. Chen war sich sicher, dass er zuerst die NFLA -Angreifer finden müsse; sie würden ihn schließlich zu Fan Mins Mördern führen.
Das war allerdings reichlich spekulativ. Vielleicht war CHIBI an einem Deal auf Gegenseitigkeit gar nicht mehr interessiert? Oder vielleicht konnte er die Erkenntnisse gar nicht liefern, die Chen haben wollte? Vielleicht war CHIBI eine digitale Sexfalle?
Aber sollte CHIBI diesen Fall knacken können, wäre Chens Karriere gerettet – und, was noch wichtiger war, sein Leben.