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Washington, D.C.
American Policy and Security Institute (APSI)

S enatorin Dixon erhob sich und ging, begleitet von begeistertem Applaus, zum Rednerpult, neben dem auf beiden Seiten ein Teleprompter installiert war.

Sie schüttelte einem strahlenden Senator Blair die Hand. Blair, ein früherer Vorsitzender des U.S. Senate Select Committee on Intelligence, hatte sie derart überschwänglich als nächste Rednerin eingeführt, dass es wie eine Heiligenverehrung geklungen hatte – ein unverhohlener und reichlich tollpatschiger Versuch, sich nach Dixons Wahl zur Präsidentin der Vereinigten Staaten den Posten des Director of National Intelligence (DNI ) zu sichern.

Kannst du dir abschminken, dachte sie. Aber träum weiter.

Auch die übrigen Vorstandsmitglieder des APSI , die lächelnd in der ersten Reihe saßen, rechneten fest mit der Dixon-Präsidentschaft, allerdings aus ganz anderen Gründen. Im Verlauf der letzten drei Jahre hatte Dixon dafür gesorgt, dass der Thinktank an Status und Ansehen gewinnen konnte. Sie hatte Türen zu den militärischen, politischen und ministeriellen Eliten der Volksrepublik China geöffnet, zu denen nur wenige Außenstehende Zutritt bekamen. Der bevorzugte Zugang in China verschaffte dem APSI einen Informationsvorsprung gegenüber den Konkurrenten, der dafür sorgte, dass der Thinktank in Washington, D.C. zu privaten Beratungen mit den wichtigsten Akteuren im Kongress, Pentagon und in der Wall Street eingeladen wurde.

Dank seiner speziellen Expertise in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen von Europa bis Asien galt das APSI inzwischen als einflussreichster Thinktank in D.C.

Und was am wichtigsten war: Das APSI war auch finanziell extrem gut aufgestellt. Das Center for East-West Progress and Advancement (CEWPA ), eine in Hongkong angesiedelte Nonprofit-Organisation, hatte sich – natürlich völlig uneigennützig – nicht nur bereit erklärt, die gesamten Verwaltungs- und Personalkosten des Instituts zu übernehmen, sondern auch den leitenden Fellows großzügige Gehaltserhöhungen zu gewähren und der Institutsverwaltung fünf neue Personalstellen zu bewilligen. Darüber hinaus hatte CEWPA auch zwei weitere Lehrstühle gestiftet, einen für chinesisch-amerikanische Beziehungen und einen für Ost-West-Friedensforschung. Auch Lixia Yang, die Direktorin des CEWPA , war heute Abend anwesend, begleitet von ihrem Ehemann und ihren zwei hübschen Töchtern.

Senatorin Dixons Rede an diesem Abend würde die Reputation des Instituts noch weiter festigen, denn sie plante, am Ende ihrer Rede ihre Kandidatur für die Präsidentschaft offiziell bekannt zu geben. Die Rede der Senatorin würde außerdem Yangs Status im Vorstand des CEWPA noch größeren Glanz verleihen und, was noch wichtiger war, ihr Ansehen beim Leiter des United Front Work Department aufwerten, einem Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, das insgeheim die Operationen des CEWPA finanzierte.

»Ladies and Gentlemen«, begann Dixon ihre Rede, »ich danke Ihnen, dass Sie mich so freundlich empfangen haben. Ganz besonders danke ich Lixia Yang und dem CEWPA für ihre Freundschaft und Unterstützung, und vor allem auch Senator Blair für die vielen Jahre, in denen er unserer Nation gedient hat, und für seine freundliche Einführung.

Seit mehreren Jahren ist es mir eine Freude und ein Privileg, mit APSI zusammenzuarbeiten. Ich weiß, dass ich mich auf die hervorragende Expertise und die praktischen Erfahrungen der Forscher und Fellows des Instituts jederzeit verlassen kann.

Der Einsatz des APSI für Sicherheit, Frieden, Wohlstand und Fortschritt unserer großartigen Republik ist über jeden Zweifel erhaben und unerschütterlich. Heutzutage ist eine besondere Art von Moral und intellektuellem Mut erforderlich, um sich der Flut populärer Trends entgegenzustellen, die ihre Wurzeln in den bekannten Vorstellungen und alten Gewohnheiten haben.«

Dixon legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung zu steigern.

»Aber wir alle, die wir heute Abend hier versammelt sind, wissen, dass nicht alles Populäre immer richtig ist und das Richtige nicht immer populär.«

Im bis auf den letzten Platz gefüllten Auditorium brandete Applaus auf.

»Die NATO wurde in der Folge des Zweiten Weltkriegs gegründet, als Europa in Trümmern lag und die gewaltige Sowjetarmee im Begriff schien, über den gesamten Kontinent herzufallen. Das Bündnis sollte ein Bollwerk gegen das sowjetische Imperium und dessen Bestrebungen sein, den Kommunismus im Sowjetstil über den gesamten Erdkreis zu verbreiten. Die Mission der NATO war richtig, edel und gut. Und was noch besser war: sie wirkte. Dem sowjetischen Expansionsdrang Einhalt zu gebieten, bewahrte die Welt nicht nur vor der Vorherrschaft der Sowjets, sondern entblößte auch die Fehler und Widersprüche ihrer Planwirtschaft und führte letztendlich dazu, dass sie von innen her zusammenbrach.

Die sowjetische Aggression einzudämmen, verschaffte Westeuropa genügend Zeit, sich von den Verwüstungen des Krieges zu erholen. Die Europäische Union gehört heute zu den drei größten Wirtschaftsräumen auf dem Planeten, nach China und knapp hinter den Vereinigten Staaten, aber weit vor Russland und Japan.

Kurz gesagt, hat die NATO den Kalten Krieg gewonnen, und dieser Krieg ist auch deshalb vorüber, weil es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Man könnte also behaupten, der ursprüngliche Zweck der NATO sei mit dem Untergang der Sowjetunion gestorben. Aber heißt das auch, dass Russland keine Bedrohung mehr darstellt? Wohl kaum. Die russische Aggression ist sehr real. Ich würde sogar behaupten, dass die russische Aggression nach wie vor gegen den Westen gerichtet ist. Die Frage lautet daher, wie wir ihr begegnen sollen?

Der Zweck der NATO ist die Verteidigung Europas, und wir verteidigen Europa nicht, indem wir Kriege führen, sondern indem wir sie verhindern. Doch in den letzten Jahren der Ryan-Administration haben wir nicht nur einmal, sondern sogar zweimal mit den Russen gekämpft. Es ist eindeutig so, dass die Ryan-Administration bei der Verhinderung von Krieg versagt hat.

Fairerweise will ich Präsident Ryan zugestehen, dass er den Russen die Stirn geboten hat, als die Feindseligkeiten begannen. Aber ich werfe ihm auch ausdrücklich vor, zugelassen zu haben, dass die Feindseligkeiten überhaupt ausbrechen konnten. Und warum konnte das geschehen? Auf diese Frage gibt es drei Antworten.

Erstens kommen die größten europäischen NATO -Mitglieder – Frankreich und Deutschland – ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht nach, vor allem in finanzieller Hinsicht. Wir haben schon viel zu lange die Rechnung für die NATO bezahlt.

Zweitens sollte die NATO doch eigentlich eine Verteidigungsgemeinschaft sein. Sie hat jedoch den Kreis ihrer Mitglieder ständig erweitert, sodass nun auch Länder dazugehören, die früher dem kommunistischen Block angehörten. Die NATO hat sich kontinuierlich in Richtung der russischen Grenze ausgedehnt. Es ist verständlich, dass selbst eine rational und nüchtern agierende russische Regierung dies als aggressive Vorgehensweise interpretieren müsste. Noch konkreter auf den Punkt gebracht: Ist dem NATO -Bündnis wirklich besser gedient, wenn man sich vertraglich verpflichtet, notfalls für Länder wie Montenegro, Lettland oder Island in einen Krieg zu ziehen?

Der jüngste Versuch der Ryan-Administration, die Vereinigten Staaten unilateral zu verpflichten, eine ständige vorgeschobene Operationsbasis in Polen einzurichten, war der Gipfel der Torheit. Eine solche Basis würde eine völlig unnötige Provokation Russlands darstellen, und das ist der Grund, warum ich dagegen gestimmt habe.«

Das rief erneut starken Applaus hervor.

»Drittens sind auch die Vereinigten Staaten selbst, trotz ihrer aufgeblähten Verteidigungsausgaben – die der Gesamtsumme aller Verteidigungsausgaben der nächsten acht NATO -Länder entsprechen – leider völlig unzureichend darauf vorbereitet, den Kontinent Europa zu verteidigen. Wir bräuchten mindestens zwanzig Kampfbrigaden, um einen Krieg in Europa durchzustehen und zu gewinnen. Im Moment verfügen wir für unsere gesamten weltweiten Verteidigungsverpflichtungen lediglich über fünfzehn, und nur drei davon sind in Europa stationiert. Außerdem befinden sich von den fünfzehn Brigaden nur fünf in voller Kampfbereitschaft. Wie kann das sein? Eine andere Regierung …«

Sie unterbrach sich, und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem schönen Gesicht aus.

»Oder vielleicht sollte ich sagen: Eine Dixon -Regierung würde diesen Zustand sofort ändern.«

Donnernder Beifall ließ den Saal förmlich erbeben. Er steigerte sich schnell zu stehendem Applaus. Dixon strahlte vor Freude. Sie genoss den Beifall eine Weile, doch schließlich hob sie die perfekt manikürte Hand und bat um Ruhe.

»Auf dem Capitol Hill habe ich wie kein anderes Parlamentsmitglied für Fragen der Nationalen Sicherheit gekämpft. Ich glaube an eine starke und wirksame nationale Verteidigungspolitik, die unseren Streitkräften die neuesten Waffensysteme und die am besten ausgebildeten Soldaten, Seeleute, Piloten und Marines zur Verfügung stellt. Ich habe unsere strategischen Allianzen auf der ganzen Welt stets wirksam unterstützt. Aber ich glaube auch, dass alle ihren gerechten Anteil an den Lasten tragen müssen. Siebzig Jahre lang hat Amerika den Westen geführt und die Verteidigung Europas mit amerikanischem Geld und, ja, auch mit amerikanischem Blut bezahlt – ist es nicht an der Zeit, dass Europa für seine eigene Verteidigung sorgt?«

Wieder machte sie eine kleine Pause, und wieder brandete Applaus auf.

»Ich betone noch einmal: Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis auf Gegenseitigkeit. Nach Art. 5 des NATO -Vertrags ist ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat als Angriff auf die gesamte NATO anzusehen. Im Zeitalter der Nuklearwaffen könnte sich daher der nächste Weltkrieg sehr wohl als globaler Holocaust erweisen. Würden die Russen beschließen, in Montenegro, Island oder Polen einzumarschieren, wären wir folglich verpflichtet, Russland den Krieg zu erklären. Ich jedenfalls bin nicht bereit, amerikanische Leben zu opfern, um Montenegro zu beschützen – ganz zu schweigen davon, die Zerstörung unserer gesamten Nation zu riskieren, weil wir durch einen völlig veralteten, unzeitgemäßen, vor siebzig Jahren abgeschlossenen Vertrag dazu verpflichtet wären. Wenn die Europäer nicht kämpfen und sterben wollen, um Europa zu verteidigen, warum sollten dies dann die Amerikaner tun?«

Das war die entscheidende Frage. Die Frage, durch die sich Senatorin Dixon von Ryan und den übrigen Neokonservativen seiner Regierung unterschied, von all jenen also, die bereit waren, ihr politisches Gewicht auf einen anderen Kandidaten zu setzen, der mit ihren Überzeugungen übereinstimmte – und sicherlich saßen auch einige von ihnen hier in diesem Saal. Sie musste ihr zentrales Argument noch deutlicher klarmachen.

»Manche werden einwenden, dass wir Europa verteidigen müssten, auch wenn Europa den Job nicht selbst übernehmen will, weil es in unserem eigenen nationalen Interesse liege. Das erinnert mich an die Dominotheorie. Erinnern Sie sich noch daran? Eisenhower, Kennedy und Johnson erzählten uns, wir müssten in Vietnam kämpfen, um zu verhindern, dass der Rest von Südostasien an die Kommunisten fallen würde. Und wir kämpften! Unsere amerikanischen Streitkräfte kämpften tapfer und hervorragend gegen die Kommunisten aus Nord- und Südvietnam. Wir verloren keine einzige Schlacht. Und doch verloren wir den Krieg, auf Kosten von über 50 000 amerikanischen Leben.

Und was war das Ergebnis? Südostasien – Vietnam, Laos und Kambodscha – fielen an die Kommunisten. War unser Land nach diesen Ereignissen in irgendeiner Weise bedroht? Hat sich unsere Lebensweise verändert? Nein. Tatsache ist, dass sich all diese Länder vor Eifer fast überschlagen, mit uns Handel und Geschäfte zu treiben. Die Dominotheorie war zwar richtig – aber letztendlich spielte das keine Rolle.

Wie ich bereits erwähnt habe, ist das, was richtig ist, nicht immer populär. Die NATO war ein großartiger Erfolg, aber ihre Zeit ist vorüber. Der Zweck amerikanischer Außenpolitik sollte sein, den Interessen des amerikanischen Volkes zu dienen, nicht den Interessen der Europäer.

Wir brauchen neue Partnerschaften, neue Allianzen, neue Denkweisen. Die Ryan-Doktrin will unsere militärischen Verpflichtungen in Europa ausweiten, verwandelt dabei aber die NATO in einen gegenseitigen Selbstmordpakt. Wir brauchen eine neue Art von Führung. Wir brauchen eine neue Weltordnung, in der den Vereinigten Staaten Frieden und Freiheit durch die Kombination von militärischer Stärke und internationaler Zusammenarbeit gesichert werden. China ist ein natürliches Bollwerk gegen die russische Expansion in Europa. Die Zukunft gehört Amerika und China, den beiden stärksten Volkswirtschaften und den beiden stärksten Militärmächten auf diesem Planeten.

Was die NATO für Europa im letzten Jahrhundert erreicht hat, kann durch eine chinesisch-amerikanische Partnerschaft für die ganze Welt erreicht werden, nicht nur in unserer Zeit, sondern auch im nächsten Jahrhundert. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.«