E lias Dahm saß im Achtern-Cockpit seines eigens für ihn gebauten HH 6-Katamarans BF lash, einem Hightech-Boot, das von der Mastspitze bis zu den Rümpfen aus Carbonfasern konstruiert war. Luxuriös ausgestattet sowohl an Deck als auch unter Deck, bestand die attraktivste Komponente in der voll automatisierten, Centerline-Kommandobrücke im Saloon, von der aus man eine fast perfekte Rundumsicht genießen konnte. Mit dem automatisierten Ruder konnte Elias das für Weltumsegelungen geeignete Boot als Einhandsegler steuern, da nicht nur die Großschot und die Segel, sondern auch die gesamte Navigation sowie Motor, Elektronik, Querstrahlruder, Pumpen und viele der übrigen Funktionen vom bequem gepolsterten Kapitänsstuhl aus gesteuert werden konnten.
Man konnte den Katamaran sogar mit dem langen Pinnenausleger im Achtern-Cockpit segeln. Genau hier saß Elias nun im Schalensitz, die Hand locker auf den Kontrollknopf der Segelwinschen gelegt.
Der HH 6-Katamaran war für Luxus, Schnelligkeit und hervorragende Handhabbarkeit konstruiert worden. Elias hatte ihn in den CloudServe-Farben Blau-Weiß und mit dem Firmenlogo auf dem Mylar-Carbonfaser-Großsegel liefern lassen.
Die klaren, scharfen Konturen des Katamarans zogen alle Blicke auf sich, wann immer Elias ihn aus dem Jachthafen hinaussteuerte, doch heute erregte auch eine langbeinige Brünette Aufmerksamkeit, die sich auf den Deckkissen vor ihm rekelte. Sie war die Hauptdarstellerin einer der populärsten Network-Serien. Im Moment verbarg sie ihr Gesicht hinter einer überdimensionalen Sonnenbrille und unter einem breitkrempigen Sonnenhut, stellte jedoch ihre Kurven bestens zur Schau, die gefährlicher waren als die Kurven der Lombard Street auf der anderen Seite der Bucht. Die Morgensonne strahlte hell vom Himmel, und das Cockpit schützte sie gegen den frischen, böigen Wind.
»Elias!«, tönte plötzlich eine Frauenstimme vom Pier herunter.
Dahm drehte sich um und schaute hinauf. Dorothy Stamps, sein Chief Financial Officer, winkte ihm aufgeregt zu. Die Afroamerikanerin wirkte viel jünger als ihre zweiundvierzig Jahre, was sie ihrem schönen, gepflegten Gesicht und ihrer durchtrainierten, athletischen Figur zu verdanken hatte. Die ehemalige Kapitänin des olympischen US -Frauen-Volleyballteams hielt sich vor allem durch Ultramarathons fit, aber ihr Verstand arbeitete schneller als ihre Laufzeiten. Sie hatte sich ein Vollstipendium der Pepperdine University gesichert, wo sie einen doppelten Abschluss in Amerikanistik und Finanzwesen mit Summa cum laude abgelegt hatte; später hatte sie auch noch ihren Master of Business Administration (MBA ) in Stanford gemacht.
»Hallo, Dorothy! Was bringt dich hierher?«, rief Dahm zurück. Seine Augen waren stark gerötet und glasig.
Die kurvenreiche Aktrice rührte sich nicht. Im Takt eines alten Guns-’n’-Roses-Songs, den die AirPods in ihren Schädel hämmerten, wiegte sie sich leicht hin und her. Auf einem Tisch in der Nähe stand ein langstieliges Glas mit Weißwein.
»Ich habe dir sieben Nachrichten geschickt! Wir hatten vor zwei Stunden einen Termin!«
»O Gott, das habe ich total vergessen. Tut mir leid. Bin heute Morgen aufgewacht und habe plötzlich gemerkt, dass ich Zeit auf dem Wasser brauche. Hilft enorm, Stress abzubauen.«
»Tut mir leid, was gestern Abend passiert ist.«
»Deshalb bist du doch hier, stimmt’s?«
Stamps hatte die Live-Übertragung des Starts verfolgt, wie mindestens zehn Millionen andere, darunter auch eine Reihe von Wall-Street-Analysten.
Der Verlust an Einnahmen, den Dahms Unternehmen allein durch den fehlgeschlagenen Start erlitten hatte, belief sich auf eine fast neunstellige Summe. Rechnete man die Materialverluste hinzu, kam man nach Abzug der Versicherungsleistungen leicht auf das Doppelte. Doch die sogenannten Opportunitätskosten, also der Verlust von Erträgen aus zukünftigen oder potenziellen Aufträgen, ging in die Milliarden. Kein Wunder, dass Dahm so aussah, als hätte er seit 24 Stunden nicht mehr geschlafen, dachte sie.
Dahm hob die Hand, um seine Augen gegen die grelle Sonne abzuschirmen. »Möchtest du nicht an Bord kommen?«
Sie wies mit einer Kopfbewegung auf die Brünette. »Sieht so aus, als hättest du schon genug zu tun. Es dauert auch nur eine Minute.«
Er schenkte ihr sein berühmtes jungenhaftes Grinsen. Ein so charmantes Lächeln, dass sie bei einem Skiurlaub-Geschäftsflug in seinem Learjet nach Vail all ihre guten Vorsätze vergessen hatte.
Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
»Na gut. Was kann ich für dich tun?«, fragte Elias. »Oder soll ich nur einfach deine Nachrichten abhören?«
»Du weißt genau, was ich dir sagen werde.«
»Ja, das weiß ich. Unsere Schuldenlast erdrückt uns. In einem Monat werden vier Milliarden an kurzfristigen Krediten fällig, und wir haben nicht genug Cashflow, um sie zu decken. Das alles haben wir schon bei der letzten Vorstandssitzung besprochen. Wir können noch weitere Vorzugsaktien herausgeben, um eine Kapitalerhöhung zu finanzieren.«
»Aber der Vorstand hat dem nicht zugestimmt, hast du das schon vergessen? Dadurch würde der Wert der anderen Aktien geschmälert. Und für meine Finanzplanung besonders wichtig ist, dass dadurch auch unsere Schuldenlast noch weiter in die Höhe getrieben würde, obwohl Vorzugsaktien eigentlich finanzielle Beteiligungen am Unternehmensvermögen sind.«
»Dann borgen wir uns einfach mehr Geld, um die fällig werdenden Kredite ablösen zu können.«
»Nach dem, was letzte Nacht passiert ist, hat S&P Global unsere Bonität auf Ramschniveau herabgestuft. Wir müssten für das neue Geld viel höhere Zinsraten zahlen, um die niedrigeren Zinszahlungen der alten Kredite bedienen zu können.«
»Ich könnte meine Risikokapitalanlagen heranziehen. Diese neue riesige Solarfarm hat unglaubliches Potenzial …«
»Elias, du hörst mir nicht zu! Wir können nicht noch mehr Geld borgen, um immer weitere Beteiligungen zu erwerben! Du musst dich endlich der Realität stellen! Es ist höchste Zeit, Beteiligungen und Vermögenswerte zu liquidieren! Und mit SpaceServe müssen wir anfangen!«
Der sonst so liebenswerte und charismatische Mann wurde plötzlich düster wie eine Sturmwolke.
»Das kommt nicht infrage!«
»Dir bleibt keine andere Wahl. Alle Beteiligungen, die dir Verluste einfahren, sind wie ein enormes schwarzes Loch, das CloudServe in den Bankrott reißen wird! CloudServe ist dein einziges überlebensfähiges Unternehmen! Du kannst es dir nicht leisten, es zu verlieren. Alles andere muss weg!«
Dahm sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Kai hinauf. Stamps wich unwillkürlich zurück, als er an ihr vorbei zum Bug des Katamarans stürmte. Trotz der immer wieder auffrischenden Böen konnte sie an ihm den süßlich-würzigen Duft von Dope riechen.
»Der Analyst von JP Morgan hat mir heute Morgen eine Vorwarnung geschickt!«, schrie sie ihm nach.
Inzwischen war er am Bug angekommen und löste die Festmacherleine, die noch mit dem Haken des Davit verbunden war. Er gab keine Antwort.
Sie ließ nicht locker. »Sie wollen nächste Woche eine große Herabstufung ankündigen, wenn wir bis dahin nicht einen Sanierungsplan vorlegen.«
Dahm warf das Ende des Taus auf das Deck und kam wieder auf sie zu. Sein Gesichtsdruck wirkte entschlossen und wie versteinert.
»Das muss doch wohl der Vorstand entscheiden, nicht wahr?«, sagte er, während er neben ihr niederkniete, um die Leine vom Poller auf der Kaimauer zu lösen. »Und wenn es hart auf hart kommt, wird der Vorstand das tun, was ich sage.« Offenbar fiel es ihm schwer, die Leine zu lösen.
»Ein Vorstandsmitglied hat mich ebenfalls angerufen. Sie sind alle fest entschlossen, die Krise direkt anzugehen, bevor es zu spät ist. Sie wollen sich heute Nachmittag um vier Uhr mit dir in einer Telekonferenz abstimmen.«
Dahm hatte die Leine endlich freibekommen, warf sie aufs Deck und sprang an Bord.
Dort drehte er sich zu ihr um. »Ich nehme an der Telekonferenz teil, aber ich werde keine Anlagen abstoßen. Das wäre eine völlig veraltete Methode.«
»Es ist die einzig richtige Methode, Elias!«
»Kannst du vergessen. Ich verkaufe nicht!« Dahm stürmte zur Kabine, in der sich das automatische Steuerpult befand.
»Dann trete ich zurück«, flüsterte sie ihm nach, als er in der Kabine verschwand.
Sie drehte sich um und ging mit entschlossenen Schritten davon, begleitet vom Aufheulen der Dieselmotoren. Verstohlen wischte sie sich Tränen der Wut und der Trauer um ihren Freund aus den Augen. Er war wie ein Seemann, der in einen Sturm hinausfuhr, den er nicht wahrhaben wollte. Wie in Longfellows Gedicht »Der Untergang der Hesperus«, dachte sie.
Dann schoss ihr noch eine andere Zeile aus einem anderen Longfellow-Gedicht in den Sinn, an die sie sich vage erinnerte.
Wen die Götter vernichten wollen, den treiben sie zuerst in den Wahnsinn.
Wie hieß das Gedicht gleich noch mal? Genau – »Die Maske der Pandora«. Aber wer sagt das? Ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken.
Sie drehte sich um und sah, dass sich der Katamaran vom Kai gelöst hatte und hinaus zum offenen Meer steuerte.
Die Antwort stand auf dem Heck.
Prometheus.