W atson saß in ihrem Büro und starrte nachdenklich auf ihren Computermonitor, doch schließlich wanderte ihr Blick zu Fungs gläsernem Büroabteil auf der anderen Seite des Großraums hinüber. Frustriert seufzte sie auf.
Fung war der beste Hacker im Red Team, ihrer handverlesenen Gruppe von Spezialisten für Cyber-Kriegsführung. Das Team hatte die Aufgabe, die IC -Cloud anzugreifen, um auf diese Weise die Schwachstellen und Verwundbarkeiten der Cloud aufzuspüren, bevor sie von den Feinden Amerikas entdeckt würden.
Aber die Gefährdungen und Schwachstellen in einem solchen System hatten viel häufiger menschliche als technische Ursachen. Die Menschen selbst waren die Schwachstelle, wie sie immer wieder hatte feststellen müssen. Ob sie böswillig Hintertüren einprogrammierten oder ob ihnen aus Übermüdung oder Sorglosigkeit Fehler unterliefen, spielte letztendlich keine große Rolle, denn beides lief auf dasselbe Ergebnis hinaus. Watson war jedoch zuversichtlich, dass ihr CloudServe-Team nicht nachlässig gewesen war. Sollten in der Software, die für die Cloud der Nachrichtendienste entwickelt worden war, tatsächlich noch irgendwelche Schwachstellen vorhanden sein, die Angriffsflächen boten, dann waren sie sicherlich nicht der Inkompetenz oder Nachlässigkeit ihrer Team-Mitarbeiter zuzuschreiben.
Wenn es denn ein Problem gab, war es mit Sicherheit einem böswilligen Akteur zuzuschreiben.
Aus ihrer Sicht zeigten sich allerdings bei Fung alle Anzeichen, die einen böswilligen Akteur ausmachten. Bei ihrem Sicherheitstraining war ihr immer wieder ein Akronym eingebläut worden: MICE – Money, Ideology, Compromise, Ego.
Fungs Geldprobleme waren allgemein bekannt; er machte kein Geheimnis daraus, sondern präsentierte sie sogar wie Stigmata oder in seinem Fall wie die Wunden eines selbst ernannten Märtyrers, der sich ständig um irgendwelche armen Seelen kümmern musste, die er an sich zog, darunter auch sein Boyfriend, der sich sozusagen im Übergangsstadium befand. Irgendwie schaffte Fung es nicht einzusehen, dass sein chronischer Geldmangel mit seinem extravaganten Lebensstil zusammenhing. Aber in dieser Hinsicht war er nicht der Einzige. Auf Millionen amerikanischer Familien lastete ein gigantischer Schuldenberg in Billionenhöhe – Studiendarlehen, Autokredite, Kreditkarten, Haushypotheken. Aber machte sie das zu Spionen? Wohl kaum.
Vielleicht wurde Fung in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt oder erpresst? Wer sein überempfindliches Ego und sein arrogantes Benehmen genauer kannte, würde sich kaum vorstellen können, dass er von jemand anders ausgenutzt oder missbraucht würde. Zwar war Fungs Lebensstil ziemlich ausgefallen und extravagant. Vor dreißig Jahren wäre er damit in große Schwierigkeiten geraten, aber heutzutage nicht mehr. Und er war auch kein Kandidat für Anschuldigungen im Stil von #MeToo. Aber wer konnte schon wissen, mit welchen Problemen sich manche Menschen in ihrem Privatleben konfrontiert sahen?
Und was war Fungs Ideologie? Dem oberflächlichen Beobachter mochte Fung als politisch neutral erscheinen. Im Büro redete er niemals über Politik, und sicherlich war er auch zu smart, um offen auf die Regierung in Washington, D.C. zu schimpfen. Aber wer privaten Umgang mit ihm hatte, kannte seine festgefügten progressiven Ansichten und wusste, dass er liberale Kandidaten unterstützte. Es wäre bestimmt nicht abwegig zu vermuten, dass er kein großer Fan von Präsident Ryan war und sicherlich auch nicht von Ryans Politik, bei der die Stärkung der USA und ihre Verteidigung im Mittelpunkt standen. Aber hier im Haus teilten wahrscheinlich gut achtzig Prozent der Belegschaft Fungs Meinung und im Umkreis von vierzig Kilometern vermutlich sogar neunzig Prozent. Der Patriotismus war in dieser Stadt mindestens genauso verpönt wie Sandalen mit weißen Socken, und der Nationalismus war so populär wie ein Krebsgeschwür.
Fungs Ego? Das war unübersehbar, wie Watson zugeben musste. Selbst ein Jurastudent im ersten Semester würde Fungs Selbstgefälligkeit an ihm riechen können wie das Creed-Aventus-Aftershave, das er sich jeden Morgen viel zu großzügig ins Gesicht spritzte. Wenn Fungs Ego ein Motivator war, dann war Fung sicherlich hochgradig motiviert. Andererseits: Warum sollte er weniger stolz auf sich sein, als sie auf sich selbst war? Was Software anging, war er ein Virtuose. Hatte ein Michael Jordan oder ein Tiger Woods nicht ebenfalls ein übergroßes Ego? Watson war davon überzeugt. Aber sie würde darauf wetten, dass weder Jordan noch Woods russische FSB -Spione waren.
Zwischen Watson und Fung hatte sich ein freundschaftlich-angespanntes Verhältnis entwickelt. Es war keine einfache Beziehung, aber Watson konnte sich nicht so recht vorstellen, dass Fungs Charakterfehler und persönlichen Marotten etwas mit Spionage zu tun hatten.
Aber ihr Job war es definitiv nicht, diese Dinge wegzuerklären.
Sie würde ihm genauer auf die Finger schauen müssen. Alles Auffällige, Unnormale dokumentieren, selbst wenn das bedeutete, dass er für das größere Ganze geopfert werden müsste. Was sie brauchte, waren Beweise, keine vagen Vermutungen.
Watson wandte sich wieder ihrem Monitor zu und tippte ein paar Befehle ein. Ein weiteres Fenster öffnete sich; es zeigte Fungs Desktop. Mit dieser verborgenen Screen-Mirroring-App konnte sie nicht nur jede Tastatureingabe, sondern auch jede App und jede Website verfolgen, die Fung aufrief, ohne dass er es bemerkte.
Wenn Fung irgendeine Dummheit anstellte, würde sie es sofort sehen und in Echtzeit aufzeichnen.
Fung saß derweil in seinem Büro und starrte auf seinen Monitor, doch dann zuckte sein Blick kurz zu Watson in ihrem gläsernen Eckbüro auf der anderen Seite des großen Raums hinüber. Sie schien konzentriert an ihrem Computer zu arbeiten. Er hätte schwören können, dass sie ihn beobachtet hatte, schrieb es aber seinem immer schlimmer werdenden Verfolgungswahn zu. Wenn er so weitermachte, würden seine Nerven völlig ruiniert sein, noch bevor er es schaffte, Torré nächsten Monat in Thailand zu besuchen.
Fung war damit beschäftigt, ein Softwareprogramm für eine Wireless-Kamera mit Audiogerät zu schreiben. Das Red Team plante, die Geräte an zahlreichen Punkten überall im LED -Beleuchtungssystem des Hauptsitzes des Nachrichtendienstes der U.S. Coast Guard (CG -2) in Washington, D.C. zu installieren. Die Coast Guard Intelligence war einer der 16 Nachrichtendienste, die gemeinsam die Intelligence Community (IC ) bildeten, und gewissen Hinweisen zufolge könnte sie für Hackerangriffe möglicherweise besonders anfällig sein. Der Auftrag des Hauptquartiers bestand darin, weltweit die geplanten nachrichtendienstlichen Aktivitäten nachgeordneter Behörden zu unterstützen und gleichzeitig für einen reibungslosen Informations- und Kommunikationsaustausch mit der übrigen Intelligence Community zu sorgen. Wer es schaffte, den Datenverkehr der CG -2-Behörde zu hacken, würde folglich Zugang zur gesamten Community und zur IC -Cloud haben.
Fung war vollkommen auf ein Interface-Problem konzentriert, für das er dringend eine Lösung finden musste, als sein Smartphone in der Hosentasche vibrierte. Außer Fungs Eltern und Torré kannten nur sehr wenige Menschen diese bestimmte Privatnummer. Seine Eltern riefen selten während Fungs Arbeitszeit an, und Torré hatte ihn seit Wochen nicht auf dieser Nummer angerufen.
Er zog das Telefon heraus. Die Nummer des Anrufers wurde auf dem Display angezeigt, aber Fung kannte sie nicht. Darunter stand eine kurze Textnachricht:
Hallo, Lawrence, ich muss Sie um einen Gefallen bitten.
Fast panisch zuckte Fungs Blick durch das Großraumbüro. Er wusste nicht genau warum, schließlich konnte es niemand hier im Büro sein – wer etwas von ihm wollte, würde einfach zu ihm herüberkommen oder ihn über das interne Telefon anrufen. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Er tippte die Frage ein, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
Wer sind Sie?
Ihr alter Freund. CHIBI .
Der kalte Schauder fühlte sich plötzlich an wie ein Vollbad in einem Tank mit Flüssigstickstoff. Fung hatte CHIBI noch nie diese Privatnummer mitgeteilt, und sie war auch in keinem Verzeichnis aufgeführt. Dass er dieses ungesicherte Telefon überhaupt hier im Büro benutzte, war ein schwerer Verstoß gegen die strengen firmeninternen Sicherheitsvorschriften. Ein gewaltiger Adrenalinschub schoss durch seinen Körper. Am liebsten wäre er aufgesprungen und geflohen. Für das FBI stellte der Verstoß praktisch eine Einladung dar, das Büro mit einem Sonderkommando zu stürmen. Sein Entsetzen verwandelte sich in blanke Wut.
Was soll der Scheiß?!
Sorry. Aber ich bin in einer Notsituation und brauche Ihre Hilfe ASAP .
Wir waren fertig miteinander. Schon vergessen?
Ja, nun, es ist etwas passiert. Ich muss Sie noch einmal um einen letzten Gefallen bitten.
Das haben Sie schon letztes Mal gesagt.
Wieder ließ Fung den Blick durch das Großraumbüro gleiten. Watson blickte von ihrer Arbeit auf. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihm zu.
Fung hätte sich beinahe in die Hose gepisst. Er zwang sich zurückzulächeln, wandte sich wieder seinem Monitor zu, legte das Handy so unauffällig wie möglich auf den Schoß und unterbrach die Verbindung.
Ahnte oder wusste sie, dass etwas nicht stimmte? Hatte sie ihn beim Eintippen der Nachrichten beobachtet? Hier im Büro war jede Form privater Telefonaktivität während der Arbeitszeit verpönt. Von den offensichtlichen Sicherheitsbedenken abgesehen, hatten alle viel zu viel zu tun, um Zeit für persönliche Angelegenheiten zu verschwenden.
Fungs Herz hämmerte in seiner mageren Brust. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich wieder auf die Programmbefehle auf dem Monitor zu konzentrieren, als könne er damit CHIBI vertreiben.
Wieder vibrierte das Handy. Er fürchtete sich vor dem, was passieren könnte, wenn er nicht antwortete. Er beugte sich tiefer über die Tastatur, als müsse er etwas auf dem Monitor genauer anschauen, während er heimlich das Smartphone wieder einschaltete. Wieder wurde die ihm nicht bekannte Nummer angezeigt, darunter die Message:
Das war nicht sehr nett. Wir sind doch noch Freunde, oder nicht?
Shit. Was jetzt? War das eine versteckte Drohung? Was würde CHIBI tun, wenn sie keine »Freunde« mehr wären?, fragte sich Fung. Ja, total beschissene Freunde .
Natürlich sind wir das. Ich wurde beobachtet und musste auflegen.
Von wem?
Watson. Sie sitzt in ihrem Büro und beobachtet mich. Tut sie IMMER .
Vielleicht ist sie verliebt.😍
Sie steht nicht auf schwulen Asiaten.
Dann sollten wir uns kurz fassen. Ich will, dass Sie sofort mit einer Suche anfangen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie wichtig diese Sache für mich ist, und sie ist extrem zeitkritisch. Ich bin bereit, Sie entsprechend zu bezahlen.
Es ist gerade sehr ungünstig. Ich stecke mitten in einem großen Projekt mit harter Deadline, alle sind hier im Büro, und Watson sitzt mir praktisch im Nacken.
Sie haben mich nicht richtig verstanden.
Nein, SIE haben mich nicht richtig verstanden. Ich will nicht im Knast landen! Auf keinen Fall! Eher bringe ich mich um. Meine Eltern würden es nicht überleben. Torré würde vor Scham versinken.
Sie gehen nicht ins Gefängnis. Wer sollte es schon herausfinden?
Watson! Ich sage Ihnen doch, sie hat Verdacht geschöpft. Ich spüre es! Die Schlampe ist schlimmer als ein Pitbull.
Machen Sie sich um Watson keinen Kopf.
Sie haben gut reden.
Ja, habe ich. Passen Sie auf, was passiert.
Fung starrte weiter auf den Monitor, konzentrierte sich aber auf sein peripheres Blickfeld. Mit einer leichten Kopfbewegung seitwärts sah er, wie Watson aufstand, ihr Büro verließ und geradewegs zu ihm herüberkam.
Fungs Herzschlag beschleunigte sich. Was jetzt? Alles gestehen? Watson niederschlagen und fliehen? Er wünschte, er hätte ein Messer in Griffnähe. Er würde ihr die Kehle durchschneiden und …
»Lawrence?«
Fung tat so, als sei er überrascht. Sie hielt ihr Smartphone in der Hand und sah besorgt aus.
»Oh, hi, Amanda. Was ist los?«
»Tut mir leid, Sie damit belasten zu müssen, aber es ist etwas passiert, und ich muss mich darum kümmern. Macht es Ihnen etwas aus, so lange hier im Büro für mich die Stellung zu halten?«
»Nein, nein, kein Problem. Ich bin noch eine ganze Weile hier. Diese Codierung hier macht mich wahnsinnig.«
Sie lächelte. »Ich denke, Sie werden eine Lösung finden. Tun Sie doch immer. Danke.«
»Ist alles in Ordnung? Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein, nicht nötig. Ich muss zur Bank – könnte sein, dass jemand mein Konto gehackt hat. Ich habe gerade eine SMS bekommen.«
»Ach du Scheiße. Echt jetzt? So etwas kann einen wirklich nerven.«
»Wir können es bestimmt klären. Aber ich muss mich jetzt sofort darum kümmern.«
»Ja, klar. Gehen Sie nur. Ich bin hier, machen Sie sich keinen Kopf. Und rufen Sie mich an, falls Sie etwas brauchen.«
Watson nickte und ging zum Fahrstuhl. Kaum hatten sich die Lifttüren geschlossen, als sein Handy auch schon vibrierte.
Shit . Hatte CHIBI etwa eine Videokamera hier im Büro? Wie konnte er …?
Fung fühlte sich plötzlich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Wenn CHIBI Watson so einfach manipulieren konnte, würde er wohl auch ihn, Fung, manipulieren können. Das hatte CHIBI mit dieser kleinen Show doch beweisen wollen, oder nicht?
Verzweiflung legte sich über ihn wie eine kalte, nasse Decke.
Er las CHIBI s Text.
Also dann: Das hier muss ich haben.
Fung las alles genau durch und prägte sich die Details ein. Er hatte noch nie von einer Organisation namens NFLA gehört, auch Lobito-1 sagte ihm nichts, und ein Land namens Angola kannte er nur aus Kreuzworträtseln. Aber die Aufgabe war klar beschrieben; er glaubte einen Weg zu kennen, wie er möglichst schnell an die Informationsdaten kommen konnte. Oder jedenfalls hoffte er es. Noch nie hatte er CHIBI so angespannt erlebt.
Und das machte CHIBI extrem gefährlich.