J eder Schlag seines Herzens schoss scharf wie eine Nadel durch Jacks Schädel.
Zuckend öffneten sich seine Augen, als der Gestank einer Säure in seine Nase stieg. Zuerst sah er nichts in der Dunkelheit, außer gelegentlich aufflackernden, schwachen Lichtern. Er spürte Schmerzen in den Händen und machte sich klar, dass sie gefesselt waren, vermutlich mit starken Kabelbindern. Mühsam hob er sie an, bis sie an eine runde, kalte, ölige Stahlwand stießen.
Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass er sich in einem Stahlfass befand. Panik überkam ihn; er riss die Augen weit auf, all seine Sinne plötzlich aufs Höchste angespannt. Sein Gleichgewichtssinn registrierte ein leichtes, wellenartiges Schaukeln. Das Fass befand sich in Bewegung.
Ein Schiff? Auf dem Meer …
Der beißende Chemiegestank war kaum zu ertragen. Die Augen tränten, Schleim rann ihm aus der Nase, panikartig begann er zu keuchen. Von draußen hörte er Männerstimmen, raues Gelächter, Gebrüll.
Ein ohrenbetäubender Schlag auf den Fassdeckel riss ihn aus seiner Benommenheit. Stahl scharrte mit metallischem Knirschen über Stahl, und plötzlich flog der Deckel auf.
Cluzets grinsendes Bauernjungengesicht schaute auf Jack herab. Das harte Sodiumlicht vom Mast umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein.
»Holt ihn raus«, befahl Cluzet den Männern, die Jack nicht sehen konnte.
Raue Hände packten ihn an den Armen, wobei sie ihm fast die Schultergelenke ausrenkten, und hoben ihn fluchend und stöhnend aus dem Fass. Das schwere Stahlspundfass rührte sich kaum von der Stelle, als sie Jacks schweren Rumpf über den Fassrand zerrten – er war zu groß, um ihn völlig aus dem Fass zu heben. Sie wuchteten seine Beine über den Rand der Tonne, aber sie waren völlig gefühllos geworden und knickten unter ihm weg. Jack brach auf dem Deck zusammen.
»Helft ihm auf die Beine!«, rief Cluzet.
Jack schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden, aber das war ein schwerer Fehler. Es fühlte sich an, als würde sein Gehirn gegen die Schädeldecke geschleudert. Die beiden Männer hievten ihn hoch und hielten ihn fest. Jack verspürte eine kühle Meeresbrise und roch salzige Luft. Kribbelnde Schmerzen breiteten sich in seinen Beinen aus, als das Blut wieder zu zirkulieren begann, aber das Licht war so grell, dass er kaum die Augen öffnen konnte.
»Jack? Hörst du mich?«, fragte Cluzet.
Eine Hand packte Jacks Haarschopf und riss seinen Kopf nach hinten. »Jefe redet mit dir!«, bellte ihn ein Mann mit spanischem Akzent an.
»Wer zum Teufel ist Jack?«, stieß Jack hervor und zwang sich, die Augen vollends zu öffnen.
Soweit er erkennen konnte, standen sie auf dem Heck eines Schiffs – der Baltic Princess , vermutete er. Am wolkenlosen Himmel funkelten Millionen Sterne, und der silbern glänzende Halbmond schimmerte auf dem Meer. Aber Jacks Blick wurde sofort von einem weiteren Fass mit Luftlöchern angezogen, das neben Cluzet auf dem Deck stand. Dicht am Rand des Decks, dort, wo sich keine Reling befand.
Cluzet grinste. Er kratzte sich mit der Klaue eines Stemmeisens am bartlosen Kinn, als müsse er nachdenken. Jack sah die Tätowierung auf dem Unterarm des Franzosen: ein Flügel mit Arm und Schwert. Der Mann gehörte zu den Fallschirmjägern der Fremdenlegion. Oder war es gewesen.
Ein harter Bursche also.
»Jack? Jack!« Lilianas Stimme klang gedämpft und hohl aus dem Fass. Sie hämmerte verzweifelt gegen die Fasswand.
»Siehst du? Sie ruft nach Jack. Aber wie heißt du? Im Hotel bist du unter dem Namen Paul Gray gemeldet, und das Passbild zeigt eindeutig deine Fresse. Jetzt bin ich wirklich total verwirrt.«
»Mach dir um mich keine Gedanken. Weißt du, wer sie ist?«
»Oui, oui, certainement . Meine Freunde haben euch beide schon eine ganze Weile auf dem Schirm. Dein kleiner Trick mit dem GPS -Tracker war einfach lächerlich. Sie heißt Liliana Pilecki und ist beim polnischen ABW . Habe ich recht?«
Jack schenkte sich die Antwort. Sein verschwommener Blick fiel auf einen großen, bärtigen Mann, der etwas abseits stand. Er trug einen beigen Marineoverall mit Kapitänsepauletten auf den Schultern.
Cluzet grinste wie ein Pferd. »Und sie ist deine Freundin, Jack, stimmt’s? Eine sehr schöne Frau.«
Der Deutsche und der Spanier lachten hämisch.
»Ich frage dich noch einmal: Wer bist du, Jack?«
»Was zum Teufel willst du?«
Cluzet versetzte dem Fassdeckel mit dem Stemmeisen einen harten Schlag und starrte Jack wütend an.
»Ich stelle hier die Fragen, friendo , nicht du.«
Die Hand in Jacks Haar packte noch fester zu, sodass ihm fast ein großes Büschel ausgerissen wurde.
»Sag mir, dass ihr nichts geschieht, dann sage ich dir, wer ich bin.«
Cluzet ließ das Stemmeisen fallen. Es klapperte über das Deck, während er herumwirbelte, das Fass mit beiden Händen am oberen Rand packte und es seitwärts so weit kippte, dass die obere Hälfte über die Bordkante ragte.
Liliana schrie.
»OKAY , OKAY ! ICH SAG DIR , WER ICH BIN !«
Cluzet ließ das Fass mit lautem Klappern wieder in seine aufrechte Stellung zurückkippen und hob das Stemmeisen vom Deck auf.
»Sag mir deinen Namen, Jack. Deinen vollen Namen. Und lüge nicht. Ich werde es merken.«
»Mein Name ist John Patrick Ryan … junior. Jack ist die Kurzform von John.«
Cluzet zuckte leicht mit den Schultern. »Siehst du, Jack? War doch gar nicht so schwer, oder?«
»Und wer bist du?«
»Oje, jetzt fängt er schon wieder an, Fragen zu stellen.« Cluzet drehte sich wieder zu Lilianas Fass um.
»Stopp, bitte! Wird nicht wieder vorkommen.«
Cluzet grinste. »Ich spiele nur ein wenig mit dir, John Patrick Ryan junior. Aber was soll ich mit ihr machen? Oder mit dir?«
»Sie arbeitet bei der polnischen Agentur für Innere Sicherheit und damit für die polnische Regierung. Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, wird man euch gnadenlos jagen.«
Cluzet wandte sich zum Kapitän um, der immer noch abseits stand. »Sehen Sie? Das ist doch wirklich sehr eindrucksvoll!«
Statt einer Antwort grinste Kapitän Woroschilow und nickte.
Der Ex-Fallschirmjäger drehte sich abrupt wieder um und richtete den Zeigefinder auf Jack.
»Jeder andere Mann in deiner Lage würde versuchen, den eigenen Arsch zu retten. Du nicht. Du hättest sagen können, du seist amerikanischer Staatsbürger oder dass du mächtige Freunde hast, die dich schützen, zum Beispiel Senator Hendley. Hast du aber nicht gesagt. Und warum nicht, frage ich mich?«
Wieder flog ein zweideutiges Lächeln über das knabenhafte Gesicht. »CIA vielleicht? Oder DEA ?«
Jack ersparte sich die Antwort.
»Aber nein, ich glaube nicht, Jack. Diese Sicherheitstypen arbeiten immer im Team. Aber du arbeitest allein, oder sollte ich sagen, allein mit der Frau hier? Nein, nein, es muss noch einen anderen Grund geben, der dich davon abhält, dich selbst zu retten. Ich zerbreche mir den Kopf, was der Grund sein mag?« Cluzet ging einen Moment lang nachdenklich hin und her. »Weißt du, Jack, unser Schicksal ist immer eng mit unserer Treue, unseren Verpflichtungen verbunden. Meinst du nicht auch?«
Jack antwortete nur mit einem vernichtenden Blick.
»Natürlich meinst du das auch. Die meisten Menschen sind nur sich selbst gegenüber loyal. Sicher, manche werden behaupten, auch loyal zu ihren Familien oder Freunden zu sein, aber nach meiner Erfahrung werfen sie solche Loyalitäten ziemlich schnell über Bord, wenn man sie hart genug unter Druck setzt. Den meisten Leuten ist die eigene Haut mehr wert als alles andere auf der Welt.«
Cluzet trat näher an Jack heran. »Aber du, Jack? Bei dir bin ich mir nicht so sicher. Liliana hier hat mir erzählt, du hättest mit Finanzen zu tun – bist ein Analyst bei irgendeiner spießigen Finanzfirma, richtig?«
»Yeah.«
»Typen wie du denken immer nur ans Geld. Aber beim Geld geht es in Wirklichkeit immer um Macht, und bei Macht geht es um das eigene Ego, Passt das zu dir, Jack?«
Jack wusste, dass der Mann an seiner Antwort nicht wirklich interessiert war.
»Einige wenige sind nobel genug, um keinerlei Loyalitäten zu haben, nicht einmal sich selbst gegenüber. Das sind die wirklich Edlen, Jack. Männer, die sich nicht an die Absurditäten dieses Lebens klammern und sich keinerlei Illusionen über das nächste Leben machen. Nur solche Männer sind wirklich frei.«
Cluzet trat noch einen Schritt näher. »Bist du so einer, Jack?« Cluzet schnüffelte an Jacks Kleider und verzog angewidert das Gesicht, als ihm der ekelhafte, chemische Gestank in die Nase stieg. Er schüttelte den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
Wieder ging Cluzet auf dem Deck hin und her. »Liliana hat uns alles erzählt, na ja, mit ein wenig Nachhilfe. Wir haben sofort alle Transportrouten und Verteiler umorganisiert. Du weißt nicht viel, und was du weißt, ist jetzt völlig nutzlos.«
Der Franzose schlug sich lässig mit dem Stemmeisen auf die Handfläche.
»Du kannst uns nichts mehr anhaben, Jack, aber wir können dir richtig wehtun.«