F oley las den letzten Bericht noch einmal. Irgendwas fehlte. Die Zahlen lagen auf dem Tisch, aber sie gingen nicht auf.
Sie sprach fließend Russisch. Mary Patricia Kaminsky Foley hatte die elegante Form der Sprache auf dem Schoß ihres Großvaters gelernt und als Außenagentin in Moskau gedient, als ihr Mann Ed die dortige CIA -Station leitete. Sie kannte die Sprache, die Menschen und die Politik so gut, wie jemand Außenstehendes sie nur kennen konnte in einem Land, von dem Churchill gesagt hatte: »Russland ist ein Rätsel, verpackt in einem Mysterium im Buch der sieben Siegel.«
Als Russland-Expertin im Kalten Krieg kannte sie die operative Vergangenheit des Landes in Afrika. Angola, eine ehemalige portugiesische Kolonie, war zwar mit Moskaus Unterstützung an die einheimischen Kommunisten gefallen, dann aber zu Castros Spielwiese auf dem Kontinent und zum Schauplatz einer massiven kubanischen Militärintervention geworden. Zur damaligen Zeit hatte Amerika einen Dominoeffekt in Afrika befürchtet. Was aus heutiger Sicht beinahe albern anmutete. Von Lobito oder der NFLA hatte sie noch nie gehört. Aber der Tod chinesischer Staatsbürger in Angola war ein Alarmsignal. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie DEFCON 3 auslösen sollte.
Zehn Tage zuvor hatten vom Iran unterstützte Hisbollah-Aktivisten ein argentinisches Sondereinsatzkommando vom Himmel geschossen. Auch das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Ebenso die Tötung türkischer Maroon-Berets in Syrien – eine unerhörte Provokation durch die Russen.
Und dann die Sache mit dem NFLA -Kommando, das innerhalb weniger Tage aufgespürt und mit einem einzigen gezielten Angriff ausgelöscht worden war. So gut konnte die nachrichtendienstliche Aufklärung der Chinesen in Afrika doch nicht sein, oder? Die CIA hatte von der NFLA nicht das Geringste gewusst, bis vor wenigen Tagen der portugiesische Nachrichtendienst die NATO kontaktiert und um eine Konsultation ersucht hatte.
Anders als in Spionagefilmen wurde im wahren Leben gewöhnlich nicht mit höchstem Einsatz gespielt. In Friedenszeiten Gegner umzubringen war eine ernste Eskalation und eine offene Einladung zu einem Vergeltungsschlag, der in der Regel ungleich gewalttätiger und zerstörerischer ausfiel, um von weiteren Grobheiten abzuschrecken. Aus diesem Grund war die Ermordung des deutschen BKA -Agenten durch einen unbekannten Dienst so beunruhigend. Doch die drei anderen Gewaltaktionen stimmten nicht weniger bedenklich.
Die vier Angriffe waren in unterschiedlichen Weltregionen erfolgt – Südamerika, Naher Osten, Afrika und Europa. Die drei Militäroperationen, durchgeführt vom Iran, von Russland und China, hatten sich gegen staatliche Polizeikräfte, gegen das türkische Militär bzw. gegen eine Rebellengruppe gerichtet. Der vierte Angriff – kalendarisch der erste – hatte einem verdeckten Ermittler gegolten, der an einem Drogenfall arbeitete und auf offener Straße hinterrücks erstochen wurde.
Alle diese Fälle erschienen ganz unterschiedlich. Worin bestand die Verbindung? Sie konnte keine erkennen, aber sie war sich verdammt sicher, dass es eine gab.
Was hatten sie alle gemeinsam? Die Waffen waren es nicht, auch nicht die Opfer oder die Ziele. Sie alle unterschieden sich in vielerlei Hinsicht. Und doch verband sie etwas. Davon war sie überzeugt. Nur was?
Denk nach, verdammt!
Ihr Mann, Ed, mittlerweile im Ruhestand, war der Kopfmensch in der Familie. Schon als junger Mann wortkarg und kühl bis ins Mark, war er stets objektiv und analytisch geblieben, wenn es schwierig wurde. Sie war diejenige gewesen, die immer mit der Pistole in der Hand über eine Mauer oder durch ein Fenster klettern wollte, was ihr den Spitznamen »Cowboy« einbrachte, bis sie damit aufhörte.
Aber schon damals war ihr klar gewesen, dass Geheimdienstarbeit, wie Wissenschaft, hauptsächlich im Beobachten bestand. Aus Beobachtungen ließen sich Vergleiche ziehen und aus Vergleichen Schlüsse. Worin glichen sich die Dinge? Wodurch unterschieden sie sich? Die Fähigkeit zur Kategorisierung reichte bis zur Genesis zurück, als Gott zu Adam sagte, er solle den Tieren Namen geben.
Foley hatte alle Unterschiede zwischen diesen Vorfällen herausgearbeitet. Aber worin bestand ihre Gemeinsamkeit? Die Argentinier waren in eine Falle gelockt und dann vom Himmel gepustet worden. Die Türken waren mit einer Langstreckenrakete ausgelöscht, die NFLA -Kämpfer von einem Bodenangriff im Schlaf überrascht worden. Und der BKA -Agent war einem fingierten Raubüberfall zum Opfer gefallen.
Wenn es eine Ähnlichkeit zwischen den vier Angriffen gab, dann die, dass keiner ohne bestimmte Informationen möglich gewesen wäre.
Nun ja. Galt das nicht für jede Operation?
Schon, aber die Informationen, die diese Operationen erfordert hatten, waren sehr spezieller Natur.
Was war die Quelle? Könnten alle vier Attacken mit einer einzigen Informationsquelle im Zusammenhang stehen?
Nein. Wie denn?
Es passte einfach nicht zusammen.
»Du wirst zu alt für so was, Mary Pat«, sagte sie sich. Vielleicht hatte Ed ja recht. Vielleicht wurde es Zeit, mit dem Golfen anzufangen und mit ihm und seinen Freunden im Club zu spielen.
Bei der Vorstellung schüttelte sie den Kopf.
Noch nicht, mein Mädel.
Noch nicht.
Sie griff zum Telefon und rief ihren alten Freund Jesse Benson an, den National Counterintelligence Executive (NCIX ) der CIA und besten Zahlenknacker in der Branche. Er war nach einer doppelten Knieprothesen-OP zwar noch in der Reha, arbeitete aber bereits wieder. Sie setzte ihn kurz ins Bild und schickte ihm einen Link zu den vier Berichten.
»Jesse, ich kann den Rauch riechen, aber das Feuer nicht sehen.«
»Bis wann brauchst du eine Antwort?«
»Am besten bis gestern. Aber schnellstmöglich genügt. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.«
»Dann kümmere ich mich persönlich darum, Mary Pat.«
»Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Wie wär’s, wenn du mit Melinda mal wieder zum Essen kommst? Wir haben uns ewig nicht gesehen.«
»Lass mich das für dich erledigen, dann checken wir unsere Terminkalender.«
»Danke, Jesse.«
Sie legte auf. Wenn jemand in Rekordzeit ein Kaninchen aus dem Zylinder zaubern konnte, dann Jesse.
Sie hoffte nur, dass das Kaninchen nicht mit C4-Sprengstoff nebst Zeitzünder vollgestopft war und explodierte, bevor Jesses Zauber wirkte.