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Alexandria, Virginia

J ack saß auf seiner Couch und stierte, eine halb leere Flasche Bier in der Hand, ins Leere. Was wenige Tage zuvor in der Ostsee geschehen war, verfolgte ihn wie ein nie endenderAlbtraum.

Auf dem Rücken im kalten Meer treibend, gefühllos vor Kälte und entkräftet, hatte er die Augen geschlossen und sich dem Schlaf ergeben, der nach ihm griff, wohl wissend, dass er nie wieder aufwachen würde.

Doch jetzt war er hier, hellwach und am Leben. Seine Nerven waren angegriffen und sein Herz gebrochen. Wut, Trauer und Schuldgefühle betäubten seine Sinne wie das kalte Wasser der Ostsee in jener Nacht. Lilianas entsetztes, in der unbarmherzigen Dunkelheit verschwindendes Gesicht zog in Endlosschleife vor seinem geistigen Auge vorüber. Als er in dem polnischen Krankenhaus lag, hatte er einen Moment lang geglaubt, er sei tatsächlich gestorben, und diese immer wiederkehrende Vorstellung war seine persönliche Hölle.

Ein Klopfen an der Wohnungstür stoppte die Endlosschleife und holte ihn von der Couch.

»Hallo, mein Junge. Was dagegen, wenn ich reinkomme?«

John Clark stand in der Tür, nur wenig größer als Jack, aber schmaler gebaut. Der ehemalige SEAL war sein Chef im Campus und zudem ein enger Freund. Obwohl er bereits jenseits der siebzig war, trainierte er noch mit dem von ihm geleiteten Team, weshalb er auch gut und gerne zwanzig Jahre jünger aussah, als er tatsächlich war.

Jacks Körpersprache signalisierte verschwinde. Trotzdem winkte er ihn mit der Bierflasche herein.

»Nein. Natürlich nicht. Komm rein.«

Clark sah die Flasche. »Ich trinke dasselbe wie du.«

Jack schlurfte in die Küche, fischte ein Bier aus dem Kühlschrank und reichte es Clark.

Clark öffnete die Flasche und stieß mit Jack an, dass es klirrte. »Wie ich höre, ist bei dir medizinisch alles in Ordnung.« Er nahm einen Schluck.

»Sagen jedenfalls die Ärzte.«

»Du siehst gut aus. Vielleicht etwas abgespannt.«

»Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen. Aber sonst geht es mir gut.«

»Könntest du das deinem alten Herrn sagen? Er hat mich heute angerufen.«

Jacks Augen verengten sich. »Ich habe ihm eine SMS geschickt.«

»Das ist nicht dasselbe. Deine Eltern haben gehofft, dass du vorbeischaust. Sie würden dich gern in den Arm nehmen und sich persönlich davon überzeugen.«

Jack ging ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Clark nahm einen Stuhl und noch einen Schluck Bier.

»Es ist eine Sache, wenn du deinen Vater nicht anrufst, aber mit deiner Mutter solltest du wirklich sprechen. Glaub mir.«

Jack schüttelte frustriert den Kopf. Der Präsident der Vereinigten Staaten schickte ihm einen der besten Krieger, den dieses Land jemals hervorgebracht hatte, nur um ihn dazu zu bewegen, seine Mami anzurufen?

»Sie wissen, dass ich okay bin. Ich bin noch nicht bereit, darüber zu reden.« Er sah Clark fest in die Augen. »Mit niemandem.«

»Ich verstehe, mein Junge«, sagte Clark, fuhr aber trotzdem fort: »Ich habe den Bericht gelesen, den Lisanne erstellt hat. Du kannst von Glück sagen, dass du noch am Leben bist.«

Der Bericht war Clark an die Nieren gegangen. Jack müsste eigentlich tot sein. Wenn dieser polnische Fischer seinen Motor zehn Minuten früher repariert hätte und zum Hafen zurückgefahren wäre, hätte er Jack niemals bemerkt. Er hatte ihn in Decken gewickelt und gerade noch rechtzeitig in ein Krankenhaus an der Küste gebracht. Dort hatte man ihn mit warmer Kochsalzlösung vollgepumpt und seinen Körper wieder auf Normaltemperatur gebracht, bevor bleibende Schäden entstanden.

»Du solltest dem da oben dankbar sein, Jack. Und nicht in der Wohnung rumhängen und dich selbst bemitleiden.«

Jack presste die Kiefer zusammen. »Du weißt ja nicht, was in jener Nacht passiert ist.«

»Dann klär mich auf.«

»Glück ist nicht der einzige Grund, warum ich noch am Leben bin. Der Bastard wusste, dass ich für Gerry Hendley arbeite.«

»Wie konnte er das wissen?«

»Liliana muss ihnen gesagt haben, dass sie mein Leben schonen sollen.«

»Es hat funktioniert.«

»Aber ihres hat es nicht gerettet.«

»Das ist nicht deine Schuld. Du hast dein Möglichstes getan und dein Leben riskiert, um ihres zu retten.«

»Du verstehst nicht …«

»Und ob ich verstehe!«

Im Krieg war Clark einmal gezwungen worden, mitanzusehen, wie die Mitglieder einer vietnamesischen Familie nacheinander abgeschlachtet wurden, bis er beschloss, gegen seine Befehle zu handeln. Er stoppte das Morden, wurde dafür aber niedergeschossen und wäre beinahe krepiert.

»Du kannst immer nur dein Bestes geben, mehr nicht. Wie es ausgeht, liegt nicht in deiner Hand.«

»Sie wurde erwischt, als sie versucht hat, mich zu schützen.«

»Das war ihre Aufgabe, und ich würde sagen, sie hat einen guten Job gemacht, denn du sitzt hier, atmest und bemitleidest dich selbst.«

»Ich hätte sie aus der Operation heraushalten sollen. Ich hätte allein und ohne ihr Wissen da reingehen sollen.«

»Warum hast du es nicht getan?«

»Sie war ein Profi. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es Probleme geben würde. Ich habe gern mit ihr zusammengearbeitet. Und es war ja auch ihr Fall.«

»Hast du sie gezwungen reinzugehen? Hast du sie belogen, bestochen oder in irgendeiner Weise bedroht, damit sie reingeht?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann sehe ich das Problem nicht. Sie hat ihren Job gemacht und du deinen. Junge, du weißt doch inzwischen, dass in unserem Beruf nicht alles eitel Sonnenschein ist. Und der schlimmste Feind, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht der da draußen, sondern der Typ, der uns jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickt. Du musst das in den Griff kriegen, Jack.«

»Sie hatte ein Kind. Einen kleinen Jungen. Tomasz.«

Das Bild, wie sie seinen Namen schreiend in der Dunkelheit versank, schoss ihm wieder durch den Kopf. Er ertränkte es in einem langen Schluck Bier, mit dem er die Flasche leerte.

»Sein Vater wurde vor ein paar Jahren in Afghanistan getötet und jetzt das. Es ist so verdammt unfair.«

»Ich weiß. Und ich habe keine Ahnung, wie man das alles auf dieser Seite des Himmels auseinanderklamüsern soll. Deswegen überlasse ich den metaphysischen Kram den Priestern. Ich kann nicht kontrollieren, was nicht zu kontrollieren ist. Und übrigens: Dank deinem Anruf aus dem Krankenhaus sind der Junge und seine Großmutter in ein sicheres Haus in Polen gebracht worden. Also hör auf, dir in den Arsch zu treten.«

»Ja. Ein Telefonanruf. Eine wahre Heldentat.«

»Falls es dich interessiert: Dein Vater hat seine Kontakte spielen lassen. Die Briten schicken ein Tiefwasser-Tauchboot zu der Stelle, die uns der polnische Fischer bezeichnet hat. Seine Angaben waren nicht besonders präzise, aber mit etwas Glück finden sie deine Freundin und können sie zu ihrer Familie bringen, damit sie ein anständiges Begräbnis bekommt.«

Jacks Miene verdüsterte sich. »Ja, das wäre zumindest etwas.«

Eine Weile saßen sie schweigend da. Clark sah zu, wie Jack immer tiefer in sein Loch fiel.

»Der Typ, den du in die Irre geschickt hast. Wie hieß der noch mal?«

»Goralski.«

»Ja, richtig. Er ist in Düsseldorf gelandet und dort geschnappt worden, hat aber der Polizei nichts erzählt. Ein teurer Anwalt hat ihn vor ein paar Stunden rausgeholt. Sie konnten ihn nicht festhalten, denn er hatte alle behördlichen Genehmigungen für sein Treiben, und anscheinend verstößt es da drüben nicht gegen das Gesetz, jemanden zu beschatten.« Er kicherte. »Die Nummer, die du mit ihm abgezogen hast, war ganz schön clever, mein Junge.«

»Was ist mit Christopher Gage?«

»Er wurde befragt, aber auf die sanfte Tour, wegen seiner Stiefmutter, der Senatorin. Er hat ein Alibi für die fragliche Nacht, und er hat ausgesagt, dass er keine Ahnung habe, was in dem Lagerhaus vorgegangen sei – er habe es lediglich vermietet. Nach Auskunft der Leute von der Botschaft schien er ehrlich überrascht und aufgebracht, als er hörte, was mit dir und der Frau passiert war. Und wenn er dich nicht bedroht hat oder du ihn weder in der Lagerhalle noch auf dem Boot gesehen hast, ist da nichts mehr zu machen – unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils.«

»Ich weiß, wer der Schuldige ist.«

»Du meinst den Fallschirmjäger von der Fremdenlegion?«

»Ich werde dem Kerl das Herz aus dem Leib schneiden.«

»Erst musst du ihn finden.«

»Das dürfte nicht so schwer sein. Ich habe im Flieger darüber nachgedacht und zwischen meinen Nickerchen ein paar Nachforschungen angestellt. Die Tätowierung, die ich gesehen habe, verweist auf das zweite Fallschirmjäger-Regiment der französischen Fremdenlegion. Das Regiment umfasst tausenddreihundert Offiziere und Mannschaften. In so einer Eliteeinheit dürfte es in den letzten siebzehn Jahren nicht viele blonde Jungs zwischen achtzehn und fünfunddreißig gegeben haben.«

»Das ist immerhin ein Anfang. Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann.«

»Ich brauche Gavin und seine Hacker-Künste. Steht er noch zur Verfügung?«

»Gerry hat mir gesagt, dass er morgen früh wieder anfängt. Er wird sich bestimmt gleich dahinterklemmen.«

Jack stand auf, um Biernachschub zu holen. »Willst du noch eins?«

»Ich bin noch mit dem beschäftigt.«

Jack riss die Kühlschranktür auf. »Läuft die Suche nach der Baltic Princess noch?«

»Ja. Sie ist irgendwo mitten in der Wüste Gobi.«

Jack runzelte die Stirn, während er den Deckel der Flasche abschraubte. »Wie meinst du das?«

»Das Schiff hat mittels Spoofing seinen Standort verschleiert. Unsere Leute haben versucht, sein AIS -Signal zu empfangen, aber es muss abgeschaltet worden sein, denn niemand hat es auf den Schirm gekriegt. Doch vor einer Stunde ist das Signal des Schiffs in der Wüste Gobi aufgetaucht. Irgendein Witzbold muss den Transponder ausgebaut, in ein Flugzeug verfrachtet und dann per Kamel dorthin geschafft haben, nur um uns den Stinkefinger zu zeigen.«

»Na toll.« Jack nahm nachdenklich einen langen Zug von seinem Bier.

Clark sah ihm an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Und? Wie geht’s jetzt weiter?«

»Ich hab noch etwas zu erledigen. Ich muss mir beweisen, dass ich ein Versprechen halten kann und nicht drauf scheiße.«

»Weiß Gerry davon?«

»Er weiß, dass ich den Trip geplant hatte, als er mich nach Polen geschickt hat.«

»Wann willst du los?«

»Morgen.«

»Wie lange wirst du wegbleiben?«

»Einen Tag hin. Maximal einen Tag dort. Einen Tag zurück. Höchstens drei Tage.«

»Brauchst du einen von uns zur Unterstützung?«

»Nein. Das ist kein Einsatz. Es handelt sich um einen Gefallen für einen alten Freund, der vor zwei Wochen gestorben ist. Ich muss es tun.«

»Dann wirst du also einem Freund einen Gefallen erweisen, aber für deine Mutter willst du nicht das Richtige tun?«

»Ich kann im Moment einfach nicht darüber reden. Ich muss es erst verarbeiten.«

»Das leuchtet ein. Du kannst sie aber trotzdem anrufen und ihr sagen, dass alles in Ordnung ist und dass du in ein paar Tagen vorbeischauen wirst.«

Clark konnte einen Vorschlag in einen Befehl verwandeln, ohne dass es den Anschein hatte.

Außerdem hatte er recht, wie Jack sich eingestand.

Er würde seine Mom anrufen, dann die letzten Reisevorbereitungen treffen. Ein Besuch in der »Pfarrei«, wie sein Vater die kostenlose Sozialwohnung namens Weißes Haus nannte, würde warten müssen, bis er mit Cory im Reinen war und den Kopf wieder frei hatte.

Danach würde er auf die Jagd gehen.