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Cielo Santo, Peru

D er Nachtflug von Dulles zum Flughafen Jorge Chávez in Lima war der schnellste, den Jack finden konnte, obwohl er mit einer Zwischenlandung in Dallas verbunden war. Sein einziges Gepäckstück war ein handgepäcktauglicher Rucksack, der nur das Nötigste enthielt.

Nach dem Verlassen der Maschine, die kurz nach fünf Uhr früh landete, ging er auf die Herrentoilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend besorgte er sich einen schwarzen Starbucks-Kaffee im Venti-Becher und musste bis sieben warten, ehe er in ein Kleinflugzeug steigen konnte, das eine Stunde später auf einem Regionalflugplatz bei Anta in der nördlich von Lima gelegenen Provinz Carhuaz landete.

In der bunten und blitzsauberen Kleinstadt mit wenigen Tausend Einwohnern suchte Jack einen Laden auf, den er im Internet entdeckt hatte, und kaufte sich ein winziges, aber brauchbares Taschenmesser und ein Einwegfeuerzeug, beides hatte er nicht mit ins Flugzeug nehmen können. Er befand sich hier auf rund zweitausendfünfhundert Meter Höhe, und es war deutlich kühler als in Lima. Hinter den Hügeln, die den Ort umgaben, ragte in der Ferne ein schneebedeckter Gipfel empor.

In Anta stieg er in einen bunt bemalten GMC -Schulbus, der die lange, gewundene Straße in die Anden hinauffuhr. Der Bus war voll mit Einheimischen, hauptsächlich Arbeitern, nach ihren schwieligen Händen, abgetragenen Kleidern und spärlichen Habseligkeiten zu urteilen. Von kleiner Statur, mit dunklen, mandelförmigen Augen und scharfen, breiten Nasen, fuhren die indigenen Quechua Schulter an Schulter in grimmigem Schweigen. Jacks Sitznachbar blieb die ganze Fahrt über stumm wie ein Fisch und starrte aus dem Fenster. Jack störte das nicht. Ihm war ohnehin nicht nach Reden zumute.

Nach der Hälfte der vierstündigen Fahrt verdunkelte sich der blaue Himmel, und sintflutartiger Regen überraschte Jack. Laut seiner kurzen Internetrecherche war jetzt keine Regenzeit. Eigentlich stand in Peru der Sommer vor der Tür, doch die Kälte ließ vermuten, dass die Berge davon noch nichts mitbekommen hatten.

Der steiler werdende Anstieg machte dem Motor zu schaffen, und der Bus rumpelte über die Steine, die zusammen mit Schlamm auf die Straße gespült worden waren. Die Scheibenwischer arbeiteten wie wild gegen die Wassermassen an, die gegen die Windschutzscheibe klatschten, und die tief hängenden Wolken verhüllten die atemberaubende Schönheit der Anden.

Kurz nach Mittag kam der Bus an der Endstation in Cielo Santo, Jacks Fahrtziel, quietschend zum Stehen. Der Fahrer stellte den lärmenden Achtzylindermotor ab. Niemand sprach.

Im Stehen war Jack anderthalb Köpfe größer als die Männer vor und hinter ihm, und nur Zentimeter über seiner Baseball-Mütze trommelte der Regen aufs Dach. Er zog seinen Einweg-Regenponcho an und trottete hinter den anderen her, die aus dem Bus stiegen und in Dantes Höllenkreisen landeten.

Jack hatte Cielo Santo auf keiner Karte gefunden, aber Cory hatte ihn vorgewarnt. Das einstmals malerische Bergdorf, das sich auf halbem Weg zwischen den aufragenden Zwillingsgipfeln La Hermana Alta und El Hermano Gordo an den Fuß des Berges schmiegte, lag in annähernd viertausend Meter Höhe und nur rund hundertsechzig Kilometer vom Pazifischen Ozean entfernt, was typisch war für Perus dramatische Topografie.

Laut Cory hatte ein Goldrausch in den 1940er-Jahren die Einwohnerzahl auf mehrere Tausend explodieren lassen und dafür gesorgt, dass viele neue Häuser gebaut wurden, darunter auch mindestens ein Hotel, La Vicuña Roja. Als das Gold in den Sechzigern zur Neige ging und die Regierung in den Neunzigern den weiteren Abbau in der Region verbot, waren die Goldgräber gegangen und die Abenteuerurlauber gekommen, unter ihnen Corys Vater, der als junger Mann die Zwillingsgipfel bestiegen hatte.

Jack stand unter dem Stahldach des Busbahnhofs – einer Tankstelle – und blickte in den prasselnden Regen hinaus. Im Gegensatz zu den sauberen und ordentlichen Dörfern wie Anta, die er bisher gesehen hatte, war Cielo Santo ein heruntergekommenes Kaff.

Die Straße, die er einsehen konnte, war von baufälligen zwei- und dreistöckigen Häusern gesäumt, an denen der Rost und der Zahn der Zeit nagten und über denen sich ein Gewirr aus behelfsmäßigen Stromleitungen spannte. Der Regen hatte weder dort, wo er stand, den Dieselgestank vertrieben, noch hatte er den Müll und Urin aus der Gasse hinter ihm fortgespült.

Dutzende Quechua mit dunklen Gesichtern in Ponchos und Regenkleidung standen in kleinen Gruppen unter undichten Markisen oder hasteten die matschige, müllübersäte Straße rauf und runter. Andere trugen Bauarbeiterhelme und schwere Gummistiefel und schleppten Werkzeug und Plastikeimer wie Bergleute. Jack hatte gelesen, dass angesichts der schlechten Wirtschaftslage viele Peruaner – hauptsächlich Quechua und Mestizen – in ihrer Verzweiflung illegalen Bergbau betrieben, der überall in den Anden blühte. Dabei wurden Abraumhalden durchstöbert oder Versuche unternommen, verlassene Gold- und Silberminen wie die in den Bergen oberhalb der Stadt wieder in Betrieb zu nehmen.

Cory hatte ihm den Weg zu dem Hotel La Vicuña Roja beschrieben, in dem sein Vater vor Jahrzehnten abgestiegen war. Cory hatte alles für Jack zu Papier gebracht, aber der Ton seiner Totenbettstimme trug schwer unter der Last eines nicht eingelösten Versprechens, das er seinem Vater gegeben hatte, nämlich gemeinsam die Hermana zu besteigen. Die beiden hatten zusammen ein Dutzend Berge in Amerika erklettert, bevor sein Vater starb, als Cory noch aufs College ging. Sein tragischer Tod hatte ihre Pläne zunichtegemacht, zusammen nach Peru zu reisen und eine Trekkingtour zu unternehmen, die auch auf die Hermana bei Cielo Santo führen sollte, wo der Vater eine Zeit lang gelebt hatte.

Jack tastete zum tausendsten Mal nach dem hohlen Holzamulett, das um seinen Hals hing, eine unbewusste Geste, um sich zu vergewissern, dass Corys Asche noch da war, aber auch um wieder den Kontakt zu seinem toten Freund herzustellen. Jack trug zudem ein verblasstes Polaroid-Foto bei sich, das Corys Vater zeigte, wie er auf dem Gipfel stand. Jack hatte den Auftrag, Corys Asche auf den Gipfel der Hermana zu tragen, dort zu verstreuen, um auf diese Weise Corys Versprechen an seinen Vater einzulösen, den Berg eines Tages gemeinsam zu besteigen, und dann das Foto an der Stelle zu vergraben, wo sein Vater gestanden hatte.

Jack hatte gelobt, Corys Versprechen einzulösen, und war entschlossen, sich durch nichts davon abbringen zu lassen.

Nach Corys Schätzung würde Jack fünf Stunden für den steilen Aufstieg benötigen, der meist einem schroffen Trail folgte und auf den letzten 100 Metern in eine leichte Kletterpartie über Granitblöcke überging.

Sein Plan war, um ein Uhr aufzubrechen und bei Sonnenuntergang den Gipfel zu erreichen, dann mit Taschenlampe den Rückweg anzutreten und am nächsten Tag mit dem Mittagsbus wieder nach Anta hinunterzufahren, dorthin zurückzufliegen, wo er hergekommen war, und am übernächsten Tag gegen 15 Uhr in Washington, D.C. zu landen.

Es war ein guter Plan.

Bis ihn der Regen durchkreuzte.