J ack kämpfte sich von der Tankstelle zum Hotel durch, vorbei an notdürftigen Wellblechhütten, wobei er durch Pfützen waten und über ein paar Betrunkene hinwegsteigen musste, die in den Gassen lagen. Gehwege gab es in diesem beschissenen Shangri-La nicht.
Das Schild des Vicuña Roja zeigte das, was der Name versprach – ein handgemaltes rotes Tier, das einem Lama, seinem größeren, domestizierten Verwandten, sehr ähnlich sah. Jacks ursprünglicher Plan hatte einen Besuch hier ausgeschlossen, da ihm aber der Regen einen Strich durch die Rechnung machte, beschloss er, hier zu übernachten, da er nicht glaubte, anderswo ein Zimmer zu finden. Er ging hinein. Irgendwo in der Ferne zerschnitten die schweren Rotorblätter eines Hubschraubers die Luft.
Das Erdgeschoss des Hotels nahm eine schäbige, kleine Bar ein, in der es trist und dunkel war und nach Zigarrenrauch stank. Waylon Jennings quäkte aus den Lautsprechern der Musicbox. Verstaubte Trophäen in Gestalt ausgestopfter Regenbogenforellen, Gänse und Enten schmückten die nikotingelben Wände.
Hinter dem Tresen stand ein Angloamerikaner, der, an die Theke gelehnt, in eine Zeitung starrte und an einem Whiskey nippte. In einem Aschenbecher neben ihm glomm eine Zigarre.
Jack hatte sich draußen so gut es ging den Regen aus den Kleidern geschüttelt, tropfte aber trotzdem den verblichenen Vinylboden voll.
Eine schlecht geschminkte Mestizin in einem zu engen Kleid und mit der Figur eines Weihnachtsschinkens saß in der hinteren Ecke neben einem Quechua, der, die Arme über dem runden Bauch verschränkt, mit verquollenen Augen und grüblerischer Miene die Wand anstarrte. Große Flaschen mit peruanischem Bier standen vor ihnen auf dem Tisch. Die Frau ließ für Jack ein kokettes Lächeln zwischen dick aufgetragenem roten Lippenstift hervorblitzen, doch er lehnte mit einem höflichen Lächeln und leichten Kopfschütteln ab.
Ein weiterer Gast in einem billigen Anzug und Cowboystiefeln lag in der anderen Ecke halb auf dem Tisch und schnarchte auf seinen verschränkten Armen. Eine halb leere Flasche süßen, klaren Piscos stand neben seinem Kopf.
Jack trat auf den Barkeeper zu, der noch über eine Zeitung gebeugt war. Sein langes dunkles Haar und sein Bart waren von grauen Strähnen durchzogen. Er faltete die Zeitung zusammen, richtete sich auf und nahm mit seinen scharfen, braunen Augen eine rasche Musterung vor.
»Amerikaner?« Es war nicht wirklich eine Frage.
»Ist das so offensichtlich?« Jack streckte ihm die Hand hin. »Ich heiße Jack.«
»Sands.« Er schlug ein. Ein fester Händedruck. Er war zwei, drei Zentimeter größer als Jack und schlanker, aber nicht im positiven Sinn. Die Krähenfüße um seine Augen waren tiefer, als sie hätten sein sollen. Geplatzte Äderchen um die Nase und Rosacea an der Stirn erzählten den Rest der Geschichte. Sands war Alkoholiker.
»Wo kommen Sie her, Jack?«
»Virginia.« Wann immer möglich vermied es Jack, Washington zu erwähnen, besonders gegenüber Fremden.
»War ich noch nie. Und was in aller Welt führt Sie in dieses Drecksloch am Arsch der Welt?«
»Meinen Sie die Bar oder die Stadt?«
Obwohl Alkoholiker, sah Sands durchaus so aus, als könnte er in einem Kampf seinen Mann stehen.
Zum Glück lachte er. »Das macht keinen Unterschied.« Wieder sah er Jack prüfend an. »Wer hierherkommt, hat eine Geschichte zu erzählen.«
»Möglich.« Jacks Augen verengten sich. Irgendwas lastete auf Sands wie eine bleierne Decke. »Aber die Leute, die hierbleiben, haben die besten.«
Dafür erntete er ein missbilligendes Lächeln. Der Blick des anderen senkte sich suchend, doch wonach er suchte, vermochte Jack nicht zu sagen.
»Schnappen Sie sich einen Hocker. Ich habe kaltes Bier und warmen Whiskey und alle Zeit der Welt. Was wollen Sie trinken?«
Normalerweise trank Jack nicht so früh am Tag, aber er war deprimiert und ärgerte sich darüber, dass er den Aufstieg wahrscheinlich verschieben musste.
»Bier.«
»Ein dunkles oder ein helles?«
»Ein nasses.«
»Kommt sofort, Kumpel.«
Sands griff nach unten, zog eine Flasche aus dem Eis und machte sie auf, während sich Jack einen Hocker heranzog.
Der Hubschrauber von vorhin dröhnte jetzt über ihnen. Sein lautes Knattern peitschte die Luft und rüttelte an den Fenstern. Er flog schnell vorüber.
»Was war das denn?«
»Ein Halo«, antwortete Sands. »Ein großer, russischer Vogel. Mi-26. Ein echt starker Transport-Hubschrauber.«
»Was macht der hier oben?«
»Schwere Sachen transportieren, schätze ich.«
»Für wen?«
»Für Leute, die schwere Sachen brauchen.«
Jack wollte nachhaken, besann sich dann aber anders.
»Ich schätze, ich werde ein Zimmer brauchen.«
»Stundenweise oder für die Nacht?«
»Für die Nacht. Haben Sie eins?«
Sands stellte das Cusqueña Dorada vor Jack hin. »Kommt drauf an. Haben Sie Kohle?«
»Ja.«
Sands grinste und entblößte gelbliche Raucherzähne. »Dann habe ich ein Zimmer. Wie lange bleiben Sie?«
»Hängt vom Regen ab.«
»Der soll heute Nacht aufhören.«
Jack stellte eine kurze Berechnung an. Wenn er morgen aufsteigen konnte, war er rechtzeitig zurück, um übermorgen den Mittagsbus zu nehmen. Sein Rückflugticket von Lima aus war unbefristet, er musste nur die Reservierung ändern.
»Zwei Nächte.«
»Das macht … fünfzig. Amerikanische.«
»Pro Nacht?«
»Zusammen.«
Jack erhob sein Bier. »Abgemacht.«
Sands stieß sein Whiskey-Glas gegen Jacks Flasche. »Skol.«
Jack nahm einen großen Schluck, während Sands sein Glas in einem Zug leerte.
»Carlita, die Frau da hinten in der Ecke, kann Sie verwöhnen, Sie müssen ihrem Mann aber fünf amerikanische Dollar geben, wenn Sie sie ausprobieren wollen.«
»Nein danke.«
Sands goss sich noch einen ein und fragte dabei: »Und? Wie geht Ihre Geschichte?«
»Nichts Großes. Ich möchte auf die Hermana steigen, um die Asche eines Freundes zu verstreuen.«
»Das muss aber ein besonderer Freund gewesen sein, wenn Sie dafür den weiten Weg in dieses Kaff auf sich nehmen.«
»Na ja, er hat mir die Stadt nicht ganz so beschrieben, wie sie ist. Ich vermute, dass das hier früher mal ein hübsches Fleckchen Erde war.«
»Bis vor fünf Jahren hat es hier wie auf einer Postkarte ausgesehen. Dann hat der illegale Goldabbau am Gordo angefangen, und seitdem haben wir hier die Scheiße, die Sie überall sehen. Arme Schlucker strömen wie Ameisen in die Minen. Ohne Ausbildung, ohne Ausrüstung, außer vielleicht einem Helm oder einem Pickel. Wenn sie Glück haben, kratzen sie in ein, zwei Wochen ein paar Unzen heraus, aber die meisten haben kein Glück. Und die wenigen Glückspilze bekommen wahrscheinlich irgendwann von einem Banditen, der zu faul oder zu feige ist, um selbst in die Schächte runterzusteigen, ein Messer zwischen die Rippen.«
»Warum tun die Behörden nichts dagegen?«
»Menschen, die fleißig nach Gold graben, sind zu müde, um Krawall zu machen, und zu abgelenkt für eine Revolution.« Er trank einen Schluck Whiskey.
»Jammerschade. Die Gegend ist wirklich schön.«
»Früher habe ich Touren mit Guides veranstaltet. Wir haben hier einen See, in dem gab es die schönsten Forellen, die Sie je gesehen haben, aber das Quecksilber und die anderen Chemikalien, die ins Wasser gelangen, haben sie vergiftet. Ich habe hier seit Jahren keine Touristen mehr gesehen, schon gar keine Amerikaner. Es ist irgendwie schön, mal wieder heimatliche Klänge zu hören.«
Jack ließ den Blick durch die Bar schweifen. Im Regal hinter Sands entdeckte er ein Schnapsglas mit einem vertrauten Wappen und Wahlspruch.
»›Sua sponte‹« , sagte er. »Aus eigenem Antrieb.«
Sands zog überrascht die Stirn kraus. »Waren Sie im Fünfundsiebzigsten?«
»Ich? Nein. Ich habe meine Dienstzeit in teuren Privatschulen mit Jesuiten abgerissen, die uns Latein eingebläut haben, als wären wir Packesel.«
Das trug ihm ein weiteres Kichern von Sands ein.
»Aber Sie waren ein Ranger«, sagte Jack.
Sands kniff die Augen zusammen. »Warum sagen Sie das?«
»Weil Sie nicht wie ein Ordensbruder aussehen.« Jack deutete mit dem Kopf auf das Schnapsglas.
»Aha«, sagte Sands und musterte Jack von Neuem. »Sie waren nicht bei den Rangers, aber Sie sehen aus, als hätten Sie gedient.«
»Nein, aber Freunde von mir, und mein Vater war bei den Marines. Wo waren Sie im Einsatz?«
»Da, wo sie mich hingeschickt haben.« Seine Miene verdunkelte sich, und einen Moment lang verlor er sich in einer Erinnerung.
»Ein Freund von mir war bei den Rangers. Ein echt netter Kerl namens Jankowski.«
»Midas Jankowski?«, fragte Sands ungläubig.
Jack lächelte, nicht minder überrascht. »Ja.«
Sands fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare. »Mann, der Teufelskerl hat mir mehr als einmal den Arsch gerettet. Wie geht’s ihm?«
»Er ist ein zäher Bursche, wie jeder Ranger, den ich kennengelernt habe.«
Abgesehen von dir vielleicht, dachte Jack und trank sein Bier aus.
Sands drehte sich um, nahm das Ranger-Schnapsglas aus dem Regal, wischte es mit einem Lappen aus und goss Whiskey hinein. Er schob das Glas zu Jack hinüber und erhob sein eigenes.
»Auf Midas.«
»Auf Midas.«
Sie stießen miteinander an und kippten den Whiskey hinunter.
»Wenn Sie ihn das nächste Mal treffen, sagen Sie ihm …« Sands’ Augen bekamen einen glasigen Glanz.
»Was? Was soll ich ihm sagen?«
»Nichts. Lassen Sie’s.«
Sands schenkte sich noch mal das Glas voll, leerte es in einem Zug und knallte es auf den Tresen, mit den Gedanken in einer anderen Zeit.
Bier und Whiskey waren nicht unbedingt das Richtige für Jacks leeren Magen. Und möglicherweise lag es am Alkohol, dass er plötzlich tiefes Mitleid mit dem Ex-Ranger bekam, der schon bessere Tage gesehen hatte. Irgendetwas fraß den Mann innerlich auf, zusätzlich zu dem Schnaps, in dem er es zu ertränken versuchte. Irgendwelche Schuldgefühle, die ihm den Schlaf raubten, vermutete Jack, nach den Ringen unter seinen großen, traurigen Augen zu urteilen.
Ein Schauder lief Jack über den Rücken. Einen flüchtigen Moment lang fragte er sich, ob er nicht vielleicht in einen Spiegel blickte und sein zukünftiges Ich sah.
»Noch einen Whiskey«, sagte er.
Sands fuhr aus seiner Erstarrung hoch und füllte Jacks Glas und seines gleich mit.
»So, ich habe Ihnen meine Geschichte erzählt. Was ist mit Ihrer?«, fragte Jack.
»Einen Scheiß haben Sie mir erzählt. Außerdem haben wir Barkeeper eine eiserne Regel. Wir reden nicht, wir hören zu.« Er schüttete den Whiskey hinunter.
Jack ließ den Blick wieder durch die Bar schweifen. »Wenn das Geschäft mit den Touristen so schlecht läuft, warum sind Sie dann noch hier?«
Sands zuckte mit den Schultern. »Wo sollte ich denn hin? Ich habe niemanden. Außerdem ist ein Ort wie der andere.«
Was nichts anderes bedeutet, als dass man vor sich selbst nicht davonlaufen kann, dachte Jack.
Sands fügte hinzu: »Außerdem gehört das Haus mir, und my home is my castle.«
»Was haben Sie dafür bezahlt?«
»Ich habe es beim Pokern gewonnen, schon eine Weile her.« Sands grinste. »Aber vielleicht habe ich auch verloren.«
»Sie waren also Tour-Guide. Was hat Sie ursprünglich hierher verschlagen?«, fragte Jack und führte das Glas zum Mund.
Sands’ Miene trübte sich, doch er fing sich gleich wieder. »So was Ähnliches.«
»Aber wenn Sie Tour-Guide waren, haben Sie dann vielleicht ein Karte, auf die ich einen Blick werfen kann? Ich muss wissen, wie ich auf die Hermana komme.«
»Tut mir leid, Kumpel. Der Berg ist gesperrt. Felsstürze und giftige Chemikalien, die man da oben beim Goldabbau eingesetzt hat. Das ist verdammt gefährlich.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
»Nein, das werden Sie nicht. Es gibt keinen Weg nach oben. Glauben Sie mir. Ihr Freund wird den Unterschied nicht merken, wenn Sie seine Asche auf einem anderen Berg hier in der Gegend verstreuen.«
»Er nicht, aber ich.« Er trank sein Glas leer.
In Sands’ Augen blitzte Zustimmung auf, doch dann sagte er: »Versprechen sind wie Fürze. Jeder produziert welche, keiner hält sie.«
Jack erstarrte. »Nicht in meiner Familie.«
»Hören Sie, Jack. Zehn Kilometer von hier ist ein Berg, der haut Sie aus den Socken, und Ihr Freund wird ihn lieben. Ich fahre Sie morgen hin.«
»Danke, aber ich verzichte.«
»Im Ernst, mein Junge. Auf der Hermana erwartet Sie nur üble Scheiße, die Sie bestimmt nicht erleben wollen. Ich sage Ihnen, bleiben Sie da weg.«
Jack streckte sich und gähnte. Er war ganz steif vom langen Sitzen im Bus und jetzt hier auf dem Barhocker. Er musste aufstehen und sich ein wenig bewegen. »Was schulde ich Ihnen für das Bier und den Whiskey?«
»Die Runde geht aufs Haus. Sonst einen Dollar für ein Bier, zwei für einen Whiskey, amerikanische.«
»Danke.«
»Geben Sie mir dreißig Minuten, dann habe ich Ihr Zimmer hergerichtet. Falls Sie Hunger haben, um die Ecke gibt es ein Lokal, in dem man leidlich essen kann. Das Meerschweinchen ist ausgezeichnet, falls Sie auf gegrillte Nager stehen. Ich persönlich ziehe bisteca con huevos vor.«
Der Betrunkene an dem einen Tisch gab plötzlich einen spanischen Kraftausdruck von sich, schreckte aus einem Albtraum hoch und ließ in einem imaginären Kampf die Fäuste fliegen. Er traf die Pisco-Flasche, die zu Boden fiel, zerbrach und die Hure und ihren Zuhälter-Gatten erschreckte.
»Ach, leck mich doch«, knurrte Sands und schoss mit einem Handtuch in der Hand hinter dem Tresen hervor. Wüste spanische Flüche ausstoßend, lief er zu dem Betrunkenen, der seine Unschuld beteuerte.
Jack nahm das als Aufforderung zu gehen, um frische Luft zu schnappen und den Kopf wieder frei zu bekommen.