J ack schätzte, dass der Bus die Stadt vor zehn Minuten verlassen hatte.
Das reichte.
Er ging nach vorn und bat den Fahrer in seinem gebrochenen Spanisch, kurz anzuhalten. Der Fahrer weigerte sich. Darauf zog Jack den Absolventenring der Georgetown University, seine letzte Habe, vom Finger und reichte ihn dem Mann. Der zeigte ein Zahnlückenlächeln, das die ledrige Haut um seine schwarzen Augen in Falten legte. Er steckte den Ring ein, fuhr rechts ran und öffnete die Türen.
Jack sprang hinaus und quetschte sich bei der Landung in den zu engen Schuhen die Zehen. Die Türen schlugen hinter ihm zu, und der Bus rauschte davon, während Jack sich umdrehte und wieder bergauf in Richtung Cielo Santo stapfte.
Es war ein verdammt langer Weg dorthin und dann hinauf auf die Hermana, aber er würde ihn gehen, egal, was passierte. Wenn er schon nicht Corys Asche auf dem Berg verstreuen konnte, wie er versprochen hatte, so wollte er doch wenigstens das Foto oben vergraben. Wenn er wieder zu Hause war, würde er Corys Grab besuchen und ihm alles erklären und ihn für sein Versagen um Verzeihung bitten. Aber Cory würde ihm ganz sicher nicht vergeben, wenn er es nicht wenigstens versuchte.
Jack hatte keinen genauen Plan. Sands und die beiden Arschlöcher, die ihn beklaut hatten, hatten ihn wegfahren sehen, deshalb dürften sie nicht damit rechnen, dass er zurückkam, geschweige denn auf den Berg kletterte. Er hatte den Einstieg in den Trail gestern Abend beim Essen auf einer alten Landkarte gefunden, die in dem Restaurant an der Wand hing, und so brauchte er in dieser Hinsicht keine Hilfe von Sands. Wenn er sich beeilte, konnte er vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Gipfel sein. Dann schleunigst wieder runter, noch bei Dämmerung durch die schwierigste Passage. Für den restlichen Abstieg würde der Halbmond genug Licht spenden, solange keine neuen Wolken aufzogen, womit nicht zu rechnen war. Anschließend würde er sich überlegen, wie er nach Lima zurückkam.
Als Jack die Stadt erreichte, hatte er die ersten Blasen an den Füßen. Sands war verschwunden, und auch von den beiden Schlägern war nichts zu sehen. Da er keine Ahnung hatte, wer sonst noch in der Stadt mit den Typen verbandelt war, mied er die offenen Straßen. Zwanzig Minuten später war er am Stadtrand und in der Nähe des Trails. Er bemerkte zwei Männer, die Pistolen an der Hüfte trugen und Zigaretten rauchten. Offensichtlich bewachten sie den Zugang zu dem schmalen Bergpfad. Sie saßen auf grünen Plastikstühlen, spielten Karten, lachten und fluchten.
Ein paar knorrige Quenual-Bäume auf der einen Straßenseite boten Deckung. Jack schlich unterhalb der Straße um die Wachleute herum und kletterte dann einen steilen, bröckeligen Hang hinauf, auf dem er immer wieder ins Rutschen kam, bis er etwa eine halbe Meile weiter oben und außerhalb ihrer Sichtweite wieder auf den Trail gelangte.
Obwohl von dem kurzen Aufstieg jetzt schon erschöpft und in der trockenen Luft am Verdursten, marschierte Jack weiter. Dann war er endlich aus dem Drecksloch, das sich Cielo Santo nannte, heraus und auf dem Trail, der auf den Granitberg führte, dessen nach oben abgeflachter Gipfel hoch emporragte. Die höheren Gipfel um ihn herum waren mit blendend weißem Schnee bedeckt. Sie boten einen herrlichen Anblick, der ihn an die Julischen Alpen in Slowenien erinnerte, die er letztes Jahr besucht hatte.
Die Hermana Alta musste nach seiner Schätzung gut 4500 Meter hoch sein. Die dünne, kühle Luft war noch dünner und kühler geworden, seit er aus dem Bus gesprungen war. Er spürte schon jetzt leichten Schwindel. In dieser Höhe bestand die Gefahr von Höhenkrankheit, zumindest in einer milden Form. Das Tröstliche dabei war, dass er katerbedingt und wegen der Prügel, die er bezogen hatte, bereits unter ihren Symptomen litt – Muskelschmerzen, Kopfweh und Übelkeit.
Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden?
Jack legte einen Zahn zu. Er konnte von Glück sagen, wenn er in fünf Stunden auf dem Gipfel stand, und wenn nicht, würde er trotzdem nicht umkehren, selbst wenn er im Dunkeln weiterklettern musste.
Je höher er kam, desto steiler und schmaler wurde der Trail, obwohl die Felsen und Granitblöcke, die ihn flankierten, immer größer wurden. Die Stellen, an denen Pflanzen mit langen, grünen Blättern wie Palmwedel wuchsen, wurden kleiner und seltener. Die krummen Quenual-Bäume waren komplett verschwunden.
Nach dreißig Minuten auf dem Trail hatte er das Gefühl, durch Sirup zu waten, und in seinem mit Sauerstoff unterversorgten Hirn tobte ein wilder Schmerz. Doch das trieb ihn nur noch mehr an. Jeder Schritt eine Buße für die Fehler der Vergangenheit, jeder Tritt die Chance, vor den Schuldgefühlen davonzulaufen, die an seiner Seele nagten.
Ohne Wasser und Proviant und gepeinigt von den Schmerzen, die ihm die geprellten Rippen bei jedem Atemzug bereiteten, erkannte Jack plötzlich, dass er es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gar nicht bis zum Gipfel schaffen würde.
Ein lauter Knall erschütterte den Himmel, scharf wie von einer Artilleriegranate, so deutlich spürte er den Schalldruck. Ein gezackter Blitz zerriss den Himmel.
Und dann setzte eiskalter Regen ein.
Das wenige, was er an Regenzeug besessen hatte, war zusammen mit dem Rucksack gestohlen worden. Schon nach wenigen Augenblicken war er nass bis auf die Haut und durchgefroren bis auf die Knochen.
Er stapfte weiter.