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Washington, D.C.

D ie Q Group , die NSA -Abteilung Spionageabwehr, litt noch schwer unter den Nachwirkungen des Snowden-Fiaskos. Sie hatten die Spur des Verräters bis nach Hongkong verfolgt, ihn dort aber nicht gefunden, obwohl er in einem Hotel nur wenige Blocks von der US -Botschaft entfernt wohnte und einem Journalisten sein Herz ausschüttete, bevor er nach Russland entkam.

Der Direktor der Q Group wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich dasselbe mit Fung wiederholte.

DCI Foleys Anruf hatte die gesamte Abteilung in Alarmstimmung versetzt. Sie betrauten ihre beste Spürnase, Lynette Fortson, die eigentlich in einem Monat in den Vorruhestand gehen sollte, mit der Leitung der Ermittlungen, die Wochen, Monate oder sogar Jahre in Anspruch nehmen konnten. Es gab niemanden, der besser war, und es verstand sich von selbst, dass sie erst aus dem Dienst scheiden würde, wenn Fung gefasst und verhört war, geplanter Ruhestand hin oder her.

Als Erstes setzte sie zusammen mit einem FISA -Richter, der Angelegenheiten der nationalen Sicherheit gegenüber besonders aufgeschlossen war, die erforderlichen Dokumente auf. Diese Dokumente stützten sich auf die Daten, die Jesse Bensons Büro bereitgestellt hatte, und auf Amanda Watsons eidesstattliche Erklärungen hinsichtlich ihrer starken Bedenken in Bezug auf Lawrence Fung.

Wenn Fung clever genug war, sich Zugriff auf die IC -Cloud zu verschaffen, ohne erwischt zu werden, hatte er wahrscheinlich auch ein Frühwarnsystem installiert, das ihn alarmierte, wenn ihm die NSA  – oder ein anderer Nachrichtendienst – auf die Schliche kam. Fortson ging es auf die altmodische Art an: nur Telefonate und Kuriere.

An Fungs Stelle wäre ihr erster Gedanke, in ein Land zu fliehen, das keinen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten hatte. Derzeit waren das über 70 Staaten, darunter auch Russland, wohin sich Snowden abgesetzt hatte. Der Vatikan kam wohl eher nicht infrage, ebenso wenig China, denn das erschien zu naheliegend. Auch Burkina Faso, der Jemen und ein paar andere Horrorstaaten standen auf der Liste. Wenn sie er wäre, würde sie nach Andorra gehen, ein kleines Stück vom Paradies in den Pyrenäen, eingekeilt zwischen Frankreich und Spanien. Es war unmöglich zu sagen, wofür er sich entscheiden würde. Fahndungsmeldungen gingen an private und öffentliche Fluggesellschaften sowie an alle TSA -Passkontrollstellen, die mit Gesichtserkennung arbeiteten. Sie konnte nur hoffen, dass Fung nicht auch die Prioritätsalarme der Transsportsicherheitsbehörde überwachte, aber das Risiko ging sie bereitwillig ein.

Ihre Bedenken erwiesen sich als völlig unnötig.

Sie erhielt einen Anruf von dem Team in Kalifornien. Lawrence Fung war in einer Hütte am Lake Arrowhead tot aufgefunden worden. Selbstmord, nach einem Abschiedsbrief auf seinem Laptop zu urteilen, in dem er auch ein Geständnis ablegte und beschrieb, wie er seine Verbrechen begangen hatte.

Eine vorläufige Untersuchung des forensischen Datenanalysten vor Ort ergab, dass sich auf Fungs Laptop die erforderlichen Links zum Portal des Kommunikationssatelliten befanden, zu dem er sich Zugang verschafft hatte, und weitere Daten, die sein Geständnis stützten.

Als Erstes würde Fortson Foley anrufen, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen. Der erfolgreiche Abschluss des Falls Fung war die ruhmreiche Krönung von Fortsons ohnehin schon bemerkenswerter Karriere.

Als Zweites würde sie ihren Mann anrufen, damit er das Wohnmobil startklar machte. Die Pläne für den Ruhestand waren wieder aktuell, und in Idaho wartete ein neugeborener Enkel, den sie beide unbedingt kennenlernen wollten.

An den Hängen der Hermana Alta in den peruanischen Anden

Jacks unter Sauerstoffmangel leidendes Gehirn pochte bei jedem Herzschlag, und seine Lunge rang nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er delirierte leicht vom Hyperventilieren. Sein Gedankenkarussell lief auf Hochtouren, Schuld und Bedauern nagten an seinem Herzen.

Der Gedanke an den Tod seines Cousins Brian Caruso und Sam Driscolls – zwei seiner besten Freunde beim Campus – stürzte ihn wieder in tiefe Trauer. Er vermisste die beiden jeden Tag. Er hatte plötzlich den aufopferungsvollen Tod von Paul Brown in Singapur vor Augen, was einen neuen Anfall von Selbsthass auslöste. Nicht der schwergewichtige Wirtschaftsprüfer, sondern er selbst hätte in jener Nacht eigentlich sterben sollen. Doch es waren die ständig wiederkehrenden Bilder von Lilianas Ertrinken, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgten, ihr letzter, verzweifelter Schrei nach ihrem Sohn, der in seinem Kopf widerhallte. Er war dankbar für die Schmerzen, die seinen Körper peinigten, denn jeder qualvolle Schritt stumpfte ihn gegen seine seelischen Qualen ab. Auch halfen die Schmerzen gegen die zunehmende Kälte.

Wolken verwehrten ihm das bisschen Wärme, das die Sonne spendete. Der Regen hatte zwar endlich aufgehört, doch dunkle, schwere Wolken kündigten weiteren an, und zwar bald.

Da die Sonne verdeckt war und er keine Uhr hatte, konnte er nur raten, wie spät es war. Er hatte das Gefühl, schon seit zwei Wochen zu marschieren, doch wahrscheinlich waren es nur zwei Stunden. Er gelangte immer höher. Der Trail führte jetzt über einen schmalen Grat. Die steilen Hänge links und rechts waren bis hinunter ins Tal mit Geröll übersät. Jack schätzte, dass etwa die Hälfte der Strecke hinter ihm lag. Er würde den Gipfel also erst nach Sonnenuntergang erreichen, aber das war okay, erst recht, wenn die Wolken sich verzogen und der Mond ihm beim Abstieg den Weg leuchtete.

Und wenn nicht? Na ja, irgendwie würde er es schon schaffen. Wenn David Goggins in 17 Stunden 4025 Klimmzüge schaffte und Ultramarathons von über 150 Kilometern absolvierte, dann konnte er doch noch ein paar Stunden hier oben herumspazieren, verdammt noch mal.

Zum ersten Mal fragte sich Jack, ob er seine physischen Grenzen überschritten hatte. Erschöpft und von Schüttelfrost geplagt, hatte er noch zwei weitere Stunden vor sich und dann den fünfstündigen Abstieg im Dunkeln ohne Wasser. Er begann zu verzweifeln. Nicht weil er sterben könnte – was gut möglich war, vor allem wenn die Temperatur noch weiter sank –, sondern weil die Gefahr bestand, dass er den Gipfel nicht erreichte und seine Aufgabe nicht zu Ende bringen konnte.

Etwas sagte ihm, dass das ein blöder Gedanke sei, der Cory gar nicht gefallen würde.

Aber geht es hier überhaupt noch um Cory?

Ein Schrei ertönte von weiter oben und riss Jack aus seinem Delirium. Er hob den Kopf und erblickte ein junges Mädchen, das ihn, schmutzig und dunkelhaarig, aus weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen anstarrte.

Bevor er ihr etwas zurufen konnte, sprang sie vom Trail auf den Hang und lief heulend und wimmernd, halb stolpernd, halb rutschend, Richtung Tal.

In der nächsten Sekunde tauchte wie aus dem Nichts ein tropfenförmiger OH -6 Cayuse am Himmel auf, dessen knatternde Rotoren die Luft durchschnitten.

Der Hubschrauber stieß auf das Mädchen herab.

Ein Maschinengewehr feuerte. Kugeln schlugen rings um das Mädchen ein und fällten es schließlich in vollem Lauf. Es stürzte wie eine Stoffpuppe mit dem Gesicht nach unten zu Boden und blieb mit verdrehten Gliedern im Gras zwischen den Felsen liegen. Der Cayuse schwebte noch eine Weile über der Stelle, dann jagte er davon, zurück zum Gipfel der Hermana Alta.

Jack rannte vom Trail zu dem Mädchen hinunter. Seine müden, kraftlosen Beine trugen ihn nur mit Mühe den Steilhang hinab. Auf halber Strecke stolperte er über einen Stein, schlug der Länge nach hin und stieß mit dem Arm gegen einen anderen Stein. Er stöhnte vor Schmerz, rappelte sich aber wieder auf und rannte weiter, betend, das Mädchen möge noch leben.

Er sank neben dem blutüberströmten Körper nieder. Das Gesicht war unversehrt, die Augen starrten gen Himmel. Jack tastete nach einem Puls, aber er wusste, noch bevor er sie berührte, dass sie tot war.

Jack weinte.

Das Mädchen war, abgesehen von den Schusswunden, schwer misshandelt worden. An seinen schwieligen Fingern waren die Nägel ausgerissen, das Fleisch war mit verschorften Wunden und Blutergüssen übersät. Sie war in panischer Angst vom Gipfel geflohen und hätte entkommen können, wenn sie auf dem Trail geblieben wäre und sich zwischen Felsblöcken versteckt hätte. Aber dann hatte sie ihn gesehen und gedacht, er sei hinter ihr her wie die anderen.

In gewisser Weise war das Mädchen seinetwegen gestorben.

Jack spähte zum Gipfel hinauf.

Wer immer es getötet hatte, er war da oben.

Etwas in seinem Innern zerbrach.

Er stand auf, zitternd vor Wut.

Plötzlich fokussierten sich seine Gedanken auf ein einziges, klares Ziel.

Als hätte sein ganzes Leben auf diesen Augenblick hingeführt.

Und wenn es sein letzter sein sollte, dann sollte es eben so sein.

Jemand musste bezahlen.

Für all das Böse und all das Leid und die ganze Hölle auf Erden, oder zumindest für den Anteil, den er daran hatte.

Hier und jetzt.

Er wusste, dass er keine Chance hatte. Er hatte keine Waffe, nichts zu essen, keine Kraft.

Er konnte nur eines tun.

Trotzdem kämpfen wie ein Löwe.