C HIBI s Computer erhielt die letzte von vier Bestätigungen. Angesichts von vier – na ja, eigentlich fünf – Machbarkeitsnachweisen erkannte jetzt jeder der vier Bieter – der Iran, China, Russland und das Eiserne Syndikat – den Wert dessen, was zur Versteigerung stand.
Der Zeitpunkt war festgelegt – heute in zwei Tagen –, ebenso Ort und Rahmen. Alles war nach Plan gelaufen.
Wie hoch die Gebote gehen würden, ließ sich nur vermuten. Aber das war ja der Witz bei einer blinden Auktion. Welchen Preis waren Amerikas erbittertste Feinde dafür zu zahlen bereit, dass sie unbegrenzten und nicht nachweisbaren Zugriff auf das gesamte Wissen der westlichen Nachrichtendienste in Vergangenheit und Gegenwart bekamen und zwar rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche?
Eine Milliarde? Zehn Milliarden?
Mehr?
Wie hoch die Gebote auch gehen mochten – nach oben waren wahrlich keine Grenzen gesetzt –, alles würde in CHIBI s digitaler Tasche landen.
Mehr als genug Geld, um zu verschwinden, sich neu zu erfinden, mit einem neuen Gesicht, einem neuen Körper in einer neuen Wirklichkeit wieder aufzuerstehen.
Good-bye, CloudServe.
Jack kletterte wieder den Hang hinauf, zurück auf den Trail.
Der Cayuse war verschwunden und außer Hörweite; ob er wieder auf der Bergkuppe gelandet oder fortgeflogen war, ließ sich nicht sagen. Er konnte jederzeit wieder auftauchen, und der Trail wurde wahrscheinlich überwacht. Tief geduckt und jede mögliche Deckung nutzend, schlüpfte Jack an den zerklüfteten Felsbrocken vorbei, zwischen denen sich der Pfad jetzt hindurchschlängelte.
Von weiter oben drang ein Knirschen an sein Ohr – schwere Stiefel auf steinigem Boden. Es kam näher. Bestimmt jemand, der heruntergeschickt worden war, um sich vom Tod des Mädchens zu überzeugen und seine Leiche zu beseitigen. Jack schlüpfte hinter einen Felsblock neben dem Pfad und hielt den Atem an.
Eine Stimme krächzte aus einem Funkgerät, dann war das Knirschen auf seiner Höhe. Jacks Schlag war perfekt getimt. Der kantige, überfaustgroße Stein in seiner Hand krachte so hart gegen die Schläfe des bärtigen Mannes, dass heißes Blut in Jacks taubes Gesicht spritzte.
Der Bärtige stürzte mit dem Gesicht voraus zu Boden und war tot, noch bevor seine Stirn gegen einen spitzen, aus dem Boden ragenden Stein schlug und aufplatzte.
Jack zog den Toten rasch hinter den Felsblock, hinter dem er sich versteckt hatte, falls ein zweiter Mann folgte oder von oben jemand den Pfad beobachtete.
Der Bärtige war ungefähr so groß wie Jack – oder sogar etwas größer. Das traf sich gut. Er zog dem Mann die Tarnjacke aus, schlüpfte selbst hinein und stülpte sich seine schwarze Strickmütze über. Der Wind war stärker und kühler geworden und wälzte schwarze Wolken über den Spätnachmittagshimmel.
Jack sicherte die 10-mm-Glock des Toten und steckte sie zusammen mit den beiden Magazinen, die er bei ihm fand, in die Jackentasche. Dann schnürte er ihm rasch die Stiefel auf und zog sie ihm aus. Als Nächstes schlüpfte er aus seinen nassen Socken und in die trockenen, aber stinkenden Wollsocken des Mannes. Dann probierte er einen Stiefel an. Sein geschwollener, mit Blasen bedeckter Fuß passte nahezu perfekt hinein.
Er stieg in den anderen Stiefel, ergriff das Handfunkgerät und spähte nach oben. Stimmen plapperten aus dem Lautsprecher, vorwiegend auf Englisch mit Akzent.
Er hörte, wie ein Name – Rodrigo – gerufen wurde, drei oder vier Mal. Das musste der Name des Kerls sein, den er getötet hatte. Jack hob das Funkgerät hoch, erweckte durch ständiges Drücken und Loslassen der Sprechtaste den Anschein, als wäre es kaputt, und murmelte dazu irgendwelches Kauderwelsch, bis er die Antwort hörte: »Scheißfunkgeräte. Aber egal. Beweg deinen Arsch hier rauf. Es wird bald regnen. Ende.«
Rodrigo wird der Regen jetzt nichts mehr ausmachen, dachte Jack.
Und bald wird sich auch das Arschloch am anderen Funkgerät deswegen keine Sorgen mehr machen müssen.
Nichts hatte sich geändert. Tatsächlich war alles noch schlimmer geworden.
Die Temperatur war weiter gefallen, der Trail noch steiler, und die letzten 300 Meter waren genauso, wie Cory vorausgesagt hatte – ein schroffer Aufstieg, bei dem er sich über zerklüftete Granitfelsen hangeln musste.
Aber seine neue Aufgabe hatte ungeahnte Energien in ihm freigesetzt und wirkte wie ein Adrenalinschub, der ihn trotz seiner schmerzenden Blasen Schritt um Schritt den Berg hinauftrieb. Jetzt ging es nur noch darum, das, was da oben vorging, zu stoppen, und das ermordete Mädchen zu rächen. Ihm war klar, dass er die Vergangenheit nicht ändern konnte, wenn er Menschen tötete, aber vielleicht konnte er die Zukunft für jemanden da oben verändern – wenn er Erfolg hatte.
Wenn nicht, war der Tod seine Buße.
Ihm sollte beides recht sein.
Der leichte Regen, der vor einer halben Stunde eingesetzt hatte, war in Graupel übergegangen, der flüsternd über seine Jacke strich. Er zählte ein gutes Dutzend verschiedene Stimmen im Funkgerät, wahrscheinlich lauter Auftragskiller wie der, den er bereits getötet hatte. Er schaltete das Funkgerät aus. Jetzt galt es, keinen unnötigen Lärm mehr zu machen.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Der Halbmond hatte sich hinter dichten Wolken verkrochen, spendete aber noch so viel Licht, dass Jack wenigstens ein paar Schritte weit sehen konnte. Etwa 30 Meter trennten ihn noch von der Bergkuppe. Oben brummten Dieselmotoren, die wohl den Strom für die Glühlampen lieferten, die oberhalb der Felsen brannten. Günstig für Jack. Der erste Wachposten, den er entdeckte, hob sich deutlich gegen das Generatorlicht ab, das nicht bis zu ihm herunterreichte.
Der Posten rauchte gelangweilt eine Zigarette. Jack kletterte vorsichtig weiter, tastete sich mit seinen kalten Händen über den schlüpfrigen Granit und achtete darauf, keine Steine loszutreten, die ihn verraten könnten. Gleichzeitig arbeitete er sich etwa 30 Meter weiter nach links, um aus dem Blickfeld des Mannes zu geraten. Oben angekommen, spähte er zwischen den Felsen hindurch.
Seine Hoffnung sank.
Die flache Bergkuppe beherbergte einen vorübergehenden Minenbetrieb. Genauer gesagt, einen wiederbelebten. Neue Gerätschaften standen verstreut zwischen alten Anlageteilen – verrosteten Blechdächern, verwittertem Bauholz. Das ganze Gelände war ungefähr so lang wie zwei und so breit wie drei Fußballfelder.
An einem Ende bemerkte Jack eine Holzkonstruktion, mit der eine Art Schacht überbaut war. Dutzende von Minenarbeitern wuselten umher, schleppten schwere Säcke, die aus dem Schacht herausgehoben wurden, oder schoben mit Schutt beladene Schubkarren zu Sortier- und Waschtischen. Ganz in der Nähe standen zwei Wachleute mit Gewehren schimpfend und schwatzend im Eingang einer Höhle, die ihnen Schutz vor dem Eisregen bot.
Am anderen Ende des Lagers reihten sich ein halbes Dutzend Baracken, Unterkünfte für die Wachmannschaft, vermutete Jack. Eine davon war hell erleuchtet. Ein Ofenrohr auf dem Dach verriet ihm, dass es sich wahrscheinlich um die Kantine handelte. Ein großer stählerner Propangastank hinter dem Holzbau bestärkte ihn in dieser Annahme. Ein riesiger Schuppen, kaum mehr als ein verrostetes Wellblechdach auf Pfählen, diente möglicherweise als Gerätelager, oder auch als Unterkunft für Menschen, die schlimmer als Vieh behandelt wurden.
Jack sah sich vorsichtig weiter um. Er entdeckte Sauerstoff- und Acetylenflaschen zum Schweißen, verschiedenste Werkzeuge und Plastiktanks für Wasser und Diesel. Sogar einen Bobcat-Minibagger. All das konnte mit dem großen russischen Hubschrauber, den er gestern gesehen hatte, hier heraufgeflogen worden sein.
Jemand schrie. Jack wandte den Kopf. Ein Wachmann zog lachend eine junge Frau an den Haaren in eine Baracke. Ein Kollege von ihm pfiff und feuerte ihn lautstark an, auf Ukrainisch.
Jeder Muskel in Jacks Körper spannte sich an. Am liebsten wäre er gleich losgestürmt. Doch nicht einmal seine Wut konnte vergessen machen, was er sich antrainiert hatte. Er musste sich gedulden, bis er seine Gegner gezählt hatte, dann einen Plan fassen.
Erst dann war es so weit.