Mein Herz klopfte so stark, es sprang beinahe aus meiner Brust. Ich lief die breiten Treppen hoch, wusste nicht, wohin mit mir. Zu meiner Erleichterung begegnete mir niemand. Fenrirs Räume waren keine Option.
Die ersten Türen, die ich nach seinem Zimmer öffnen wollte, waren versperrt. Endlich, eine weiter vorn ging auf, ich stolperte regelrecht in die Kammer. Das war kein richtig großer Raum und doch hatte er etwas … Interessantes. Es roch nach altem Metall, erinnerte mich an den Geruch in einem Museum. War das eine Schatzkammer? Auf jeden Fall spürte ich, dass mir der Zutritt hier eigentlich verboten wäre, aber der ganze Glitzer zog mich magisch an. Leise schloss ich die Tür, die viel zu leicht nachgegeben hatte, als würde hier wirklich jeden Tag jemand ein- und ausgehen. Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet.
Diesiges Licht erhellte durch zugezogene halbtransparente purpurfarbene Vorhänge den Raum, der nicht größer war als mein Zimmer zuhause. Dort, wo das Licht ungehindert eindringen konnte, tanzten kleine Universen aus Staubpartikeln in der Luft. Ich fühlte mich, als wäre ich einem alten Geheimnis auf der Spur, meine angeborene Neugierde war entfacht. Links und rechts von mir standen hohe Vitrinen, deren Inhalt meine Augen überforderte. Kurz lenkte ich meinen Fokus auf den steinernen Fußboden. Schwarzer Schiefer oder so. Edel. Dann blickte ich in die erste Glasvitrine zu meiner Linken.
Ein Kelch stand darin, der aussah, als wäre er der Heilige Gral aus der Artussage. Wahrscheinlich aus Silber, mit vielen blutroten Steinen und Runen-Inschriften, die ich nicht entziffern konnte. Der Kelch war bestimmt alarmgesichert, aber ich wollte nichts entwenden, ich fand alles hier nur irre spannend. Wofür sie dieses Artefakt wohl verwendeten? Es sah sehr kostbar aus.
Meine Neugierde machte mich mutiger, ich schritt weiter voran. In der Vitrine zu meiner Rechten schimmerte alles. Geschmeide, Ketten, Ringe, Armbänder, Diademe? Wer besaß in Fenrirs Haus Diademe, als wäre er eine royale Ausstellung? Kurz poppte in meinen Gedanken ein verrücktes Bild von Fenrir als Prinzessin auf einem Thron auf, über und über behängt mit Ketten, und auf dem Kopf eine glitzernde Tiara. Das ließ mich auflachen. Aber ich verdrängte die skurrile Fantasie. Alles lag auf eleganten schwarzen Samtkissen. Ich war verblüfft, dieser Schmuck sah so exquisit verarbeitet und einfach wunderschön aus. Steine in allen Farben des Regenbogens verarbeitet in filigranen Goldschmiedearbeiten, echtes Kunsthandwerk. Jemand hier sammelte Funkelndes. Hätte nicht vermutet, dass in Fenrir eine Elster steckte.
Interessant. Noch zwei weitere Vitrinen besah ich mir, ein extrem fein gearbeitetes Diadem blieb mir dabei regelrecht in der Netzhaut haften. Orange Steine funkelten mit gelben Steinsplittern um die Wette, das Weißgold war wie feinstes Blattwerk herumgearbeitet und bildete die Krone einer Fee. Jedes Mädchen träumte von solchem Haarschmuck.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Luft in dem kleinen Raum viel zu stickig wurde. Außerdem war es garantiert verboten, dass ich hier war, und ich wollte keinen Ärger. Ich hatte nur ein wenig für mich sein wollen. Superleise öffnete ich die Tür, auf dem Gang war Gott sei Dank niemand. Dann schloss ich sie hinter mir und lief wahllos weiter.
Schließlich fand ich eine offene Tür zu meiner Linken und trat ein. Sah unbewohnt aus, ein Gästezimmer. Ein weiteres. Aber ich war allein, das zählte. Erhitzt schlug ich die Tür ins Schloss, lehnte mich mit dem Rücken an die kühle Innenseite der Holztür und rutschte daran hinunter. Umfasste mit meinen Händen die Region meiner Brust, wo mein Herz immer noch zu schnell schlug.
Ich konnte all diese Emotionen nicht in Worte packen, von denen mich die Schatzkammer kurz abgelenkt hatte. Warum gefiel es mir in seiner Nähe? Wieso störte es mich, wenn er abends fortging? Und warum zur Hölle beschleunigte seine Nähe meinen Puls?
All diese Fragen schwirrten in meinem Kopf umher. Dabei musste ich nur den ersten Schritt über eine imaginäre Linie aus Anstandsregeln wagen. Dieses Korsett aus Moral und auf bravem Bürgertum basierenden Vorstellungen loswerden, das mich seit Jahren fast erdrückte und mir die Luft zum Atmen nahm.
Fenrir war ein Verbrecher, und es machte mich an.
Das war die bittere Wahrheit. Ich hatte eine verborgene Neigung zur Schattenwelt. Er hatte mir mein normales Leben geraubt, und genau das schürte dunkle Begierden in mir. Ich hatte mich nach dieser Finsternis gesehnt, darum hatte ich wohl sämtliche Annäherungsversuche irgendwelcher Jungs ignoriert. In mir hatte stets die Sehnsucht nach dem bösen Wolf existiert, nach jemandem, der mir seine düstere Welt zeigte und mich für sich beanspruchte. Jesus, Maria und bei allen Heiligen.
Angespannt erhob ich mich, schritt in dem Zimmer auf und ab, hatte dabei keinen Blick für das Interieur übrig, haderte mit meinen inneren Dämonen. Ich hatte Angst, Fenrir wieder zu begegnen, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis ich alles riskieren würde.
Da öffnete sich die Tür. Ich hielt den Atem an, aber es war nur ein Hausmädchen oder so.
»Oh, Entschuldigung, Miss.«
Sie sprach Englisch? »Kein Problem. Kommen Sie rein.«
»Danke, Miss.« Sie trug einen Korb mit frischer schwarzer Bettwäsche.
»In welchem Zimmer sind wir?« Mir wurde bewusst, dass dieser Raum vielleicht jemandem gehörte. Die junge Frau schwieg kurz, sie musste ungefähr in meinem Alter sein.
»In welchem Zimmer?« Sie zog ihre Nase kraus und sah mich an, als wäre ich nicht Herrin meines Verstands. »Das ist das Schlafzimmer von Sir Liam.«
Damit rauschte sie an mir vorbei und stellte den Korb vor das große, breite Bett. Zum ersten Mal nahm ich diesen Raum wirklich wahr. »Liam?« Wer war Sir Liam ? War ich jetzt bei den Rittern der Tafelrunde oder so gelandet?
»Ich dachte, Sie seien Gast des Hauses, Miss. Wessen Gast sind Sie?«
Kurz atmete ich durch, Haltung bewahren, Fassung bewahren und keinem zeigen, wie es wirklich in mir aussah. Wessen Gast ? Verrückt. Gab es hier noch mehr Irre? »Fenrirs.« Sein Name kam mir kaum über die Lippen.
»Ah.« Das Zimmermädchen öffnete die anthrazitgoldfarbenen, schweren Vorhänge, ließ damit endgültig das Tageslicht ein. Dann öffnete sie die großen Fensterfronten, Flügeltüren, alles hier war breit und dekadent. Die frische Sommerluft vom See trat ein, erfüllte mich und beruhigte meine Nerven.
»Ich bin noch nicht mit allen Räumen vertraut.«
»Oh, verständlich, das dauert auch, Miss, es gibt unzählige Räume.«
»Hat Fenrir oft Besuch?«
Sie lachte ob meiner Frage. »Nein, Miss. Sie sind die erste Frau, die ich hier sehe, seit …« Sie verfiel in ein kurzes Schweigen. »Sehr langer Zeit.«
Oh, noch mehr Leichen im Keller. Das war klar, Fenrir. »Und Liam ist sein Freund?«
»Bruder, Miss. Aber fragen Sie doch den Hausherrn selbst, Tratsch ist nicht gern gesehen.«
Okay, aber die junge Frau war bereit, ein wenig preiszugeben, ich trickste ein bisschen. »Ja, klar. Ähm, ich habe mein Handy verlegt. Hätten Sie zufällig …«
»Nein. Hier gibt es keine Mobiltelefone. Wir geben sie beim Portier ab, nach dem Ende unserer Schicht bekommen wir sie wieder. Die Familie Morgonstirna schätzt ihre Privatsphäre, und durch Handys wäre diese gefährdet.« Sie tat, als wäre es das Natürlichste der Welt, diese Freiheitseinschränkung. »Fragen Sie doch Fenrir bei Gelegenheit, er hat bestimmt Ihr Smartphone, damit Sie ihn nicht beim Duschen fotografieren oder so.« Sie lachte. »Wie heißen Sie?«
»Soley, und sag ruhig du zu mir.«
Daraufhin strahlte sie wirklich. »Ich bin Martha. Meine Mutter kocht für die Morgonstirnas, seit ich klein bin, und ich helfe ihr in den Ferien mit dem Haushalt, wenn das andere Personal frei hat.«
»Hast du da viel zu tun, Martha?«
»Du stellst komische Fragen, Soley. Aber: nein. Es ist zwar ein riesiges Haus, aber bewohnt werden nur drei Schlafzimmer und die untere Etage. Viele Teile des Hauses sind in einem Dämmerschlaf, einfach unbewohnt.« Sie zuckte mit ihren Schultern.
»Oh, okay. Drei Schlafzimmer?« Also gab es noch mehr Männer hier außer Fenrir und Liam?
»Drei Brüder, drei Schlafzimmer. Ganz einfach, oder? Kennst du nur Fenrir?«
»Ja, ich habe ihn in Stockholm … kennengelernt.« Das war nicht mal gelogen. Und dieses Gespräch half mir enorm weiter: So wusste ich nun, dass es drei Brüder gab, aber mein persönlicher Psychopath wusste nicht, dass ich diese Informationen besaß. Vielleicht wäre das später noch hilfreich.
»Mama sagte, er habe eine Frau hier, aber ich konnte es kaum glauben. Das ist eine Premiere.«
»Warum?« Wollte sie mir ernsthaft erzählen, ich sei ein Gast ? Was für ein Wort, Gefangene Nummer eins passte besser. Das glaubte sie doch selbst nicht.
»Ähm, die Morgonstirnas, hm … Sie vergnügen sich in Stockholm. Nie hier oben in Morgonstirnagården. Das ist ihr privater Rückzugsort. Wir haben hier noch nie Gäste gesehen.«
Martha war gesprächig. Das musste ich ausnutzen, also fragte ich sie, ob ich ihr beim Bettenbeziehen helfen könne. Etwas zögerlich reichte sie mir eines der Kissen.
»Du kannst sie abziehen.«
»Okay.«
Als wir die Bettwäsche wechselten, fragte sie mich spontan aus. »Warum hat du die Einrichtung in deinem Gästezimmer, ähm, ruiniert?«
Oh. Peinlich. »Fenrir hat mich gereizt.« Ich blieb so gelassen wie möglich.
»Interessant. Hat er dich dafür übers Knie gelegt?«
Die Vibes zwischen mir und Martha waren unerwartet gut, ich kicherte bei der Vorstellung, was sie über mich und Fenrir dachte. Dann warf ich eines der Kissen nach ihr und sie nach mir.
Plötzlich stockte ich in der Bewegung. Dieser Geruch. Das Kissen, mit dem sie mich getroffen hatte … Leder und Neroli. Frisch, nicht zu erdig oder süßlich. Ich hatte genau diese Kombination schon einmal wahrgenommen. Es war wie ein kleiner Flashback zu dem Moment, als der Träger dieses Parfüms mir die Tür aus Fenrirs Séparée geöffnet hatte. Fuck. War der Wauwau im Club etwa Fenrirs Bruder gewesen?
Da traf mich noch ein Kissen, die Erinnerung verflog sofort, obwohl sie so einprägsam gewesen war. Ich war den Rätseln langsam auf der Spur.
»Was machst du da?«
Wie vom Donner gerührt hielten wir beide inne. Unsere kleine erneute Kissenschlacht, nachdem wir das Bett fertig bezogen hatten, fand ein jähes Ende. Fenrir stand wie ein miesgelaunter Gott im Türrahmen.
»Wonach sieht es aus, großer, böser Wolf?« Ich hatte Lust, ihn herauszufordern. Fühlte mich in Marthas Gegenwart sicherer, schlagfertiger. Trotzdem stieg in mir eine dunkle Hitze auf, als er vor uns stand und abwartete.
»Kann ich dich sprechen, Soley?«
»Später. Erst, wenn wir hier fertig sind. Dann komme ich zu dir.«
Scheiße, aus seinen Augen loderten regelrecht Flammen, so zuwider war ihm meine Antwort. Doch er gab nach, drehte sich um.
»Schließ die Tür hinter dir.«
Martha blieb wegen meiner Ansage beinahe das Herz stehen. Sie sah mich aus riesigen, dunkelbraunen Augen und mit angehaltenem Atem an. Doch ich zuckte mit keiner Wimper und die Tür knallte ins Schloss.
»O mein Gott, Soley!« Sie griff nach dem letzten Kissen, drückte es beschützend vor ihre Brust. In ihr rangen Angst und Belustigung miteinander. »Einem Morgonstirna widerspricht man nicht.«
»Das mag in eurer Welt so sein, aber ich gehöre nur mir selbst.«
»Er wird dich übers Knie legen, Soley.«
»Soll er nur kommen. Vielleicht gefällt es mir.«
Wir tauschten einen Blick, dann lachten wir, befreit und einfach deswegen, weil es ein seltsames und doch witziges Bild bot. Wir beide beim Bettenbeziehen, während ich es gewagt hatte, Fenrir in seine Schranken zu weisen.
»Darf ich dich fragen, wie er so ist? Also … Ich kenne ihn nur mürrisch und wortkarg.« Dabei zog sie eine Fratze, als wäre sie ein Monster aus der Märchenwelt, das war irgendwie witzig.
»Hm, ich weiß nicht. Er ist anders als alle anderen Männer, die mir bisher begegnet sind.«
»Ja, das ist wahr.«
Martha war rot, knallrot. Und auch an mir ging dieses Gespräch nicht spurlos vorbei. Ich spürte, dass sie mir weitere Fragen stellen wollte, aber sich nicht traute. Und genau in dieser Stunde mit Martha legte sich in mir ein Schalter um, als hätten sich Mut und Neugierde die Hand gereicht.
»Du lächelst, woran denkst du?«
»An die Zukunft, Martha.« Dabei klang meine Stimme überzeugt, das war seltsam und doch befreiend.
»Das klingt vielversprechend.«
»Ja.« Der umgelegte Schalter in mir war wie die Lösung zu einem Rätsel, der Schlüssel zu einem Schatz. Ich musste zu Fenrir. Die dunkle Hitze in mir brodelte. »Brauchst du mich noch?«
»Nein, komme klar. Vielen Dank für deine Hilfe.«
»Okay. Gerne. Wir sehen uns.«
Plötzlich konnte es mir gar nicht schnell genug gehen. Ich hatte keine logische Erklärung dafür, aber ich wollte zu ihm, meinem Entführer, dem verrückten Wolf.