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Fenrir

So konn­te sie nicht mit mir re­den. Ich tat mich schwer da­mit, wuss­te nicht, was ich als Nächs­tes tun soll­te. Am liebs­ten wür­de ich die klei­ne Wi­der­spens­tig­keit übers Knie le­gen. Sie hat­te mich vor Mar­tha ab­ser­viert. Spä­ter?! Ich kam nicht dar­auf klar.

Un­ru­hig ti­ger­te ich in ei­nem der Sa­lons im Erd­ge­schoss her­um. War­um war ich über­haupt wie­der nach un­ten ge­gan­gen? Sie wür­de doch in mein Zim­mer kom­men. Der Ge­dan­ke ließ mich den Kopf schüt­teln. War ich ein Schoß­hund, der auf sein Frau­chen war­te­te? Si­cher nicht.

Mein Blick fiel auf ein sonst von mir we­nig be­ach­te­tes Ge­mäl­de in ei­nem sil­ber­nen Rah­men, ein Fa­mi­li­en­bild, bes­ser ge­sagt ein mit­tel­gro­ßes Kunst­werk, das zwei Ju­gend­li­che, ein Kind und ein Klein­kind zeig­te und über ei­nem mar­mor­nen Ka­min plat­ziert war. An dem Mäd­chen, das in ei­nem wei­ßen Som­mer­kleid im Gras saß, blieb mein Blick hän­gen. Esme. War­um stahl sie sich aus­ge­rech­net jetzt in mei­ne Ge­dan­ken?

Nor­ma­le­r­wei­se kam ich hier zur Ruhe. Im­mer. Aber ge­ra­de brach­te So­ley al­les durch­ein­an­der.

Wie­der über­mann­ten mich Er­in­ne­run­gen an Esme und an un­se­re ka­put­te Ver­gan­gen­heit. Eine Sei­te von mir, die ich nie­man­dem zeig­te, be­stimmt kei­nem of­fen­bar­te. Ich hat­te sie ver­sperrt.

Esme war zehn Jah­re jün­ger als ich, mei­ne klei­ne Schwes­ter, und sie war ein Geist, mehr nicht. Als ich da­mals ge­bo­ren wor­den war, hat­ten mei­ne El­tern gar nicht mehr dar­an ge­dacht, nach mir noch ein leib­li­ches Kind zu ha­ben. Bei mei­ner Ge­burt wäre mei­ne Mut­ter bei­na­he ver­blu­tet. Der Fa­mi­lie­n­a­rzt hat­te sie ge­ra­de eben noch ret­ten kön­nen. Bei Un­ter­su­chun­gen da­nach hat­te es ge­hei­ßen, wei­te­re Schwan­ger­schaf­ten sei­en aus­ge­schlos­sen. Dar­um hat­te mein Va­ter im Lau­fe der nächs­ten Jah­re um die Söh­ne sei­ner engs­ten Ver­bün­de­ten ge­be­ten.

Mein Blick fi­xier­te sich auf die bei­den Jun­gen, die rechts und links ne­ben mir und Esme im Gras sa­ßen. Or­dent­li­che Klei­dung, sau­be­res Auf­tre­ten, eine Idyl­le. Das Bild wirk­te so echt und war doch nichts wei­ter als ein fah­ler Nach­ge­schmack der Ver­gan­gen­heit.

Da Mor­g­onstir­nas im­mer Bluts­brü­der um sich hat­ten und ich laut Aus­sa­ge der Ärz­te nie ech­te Brü­der hät­te ha­ben kön­nen, war dies die Lö­sung der Wahl ge­we­sen. Bei mei­nem Va­ter war es auch schon so ab­ge­lau­fen, sei­ne Ka­me­ra­den aus der Ju­gend wa­ren bis heu­te sei­ne Freun­de.

Liam war ge­bo­ren wor­den, als ich vier Jah­re alt war. An un­se­re ge­mein­sa­me Kind­heit er­in­ner­te ich mich. Schon als Baby ver­brach­te er viel Zeit mit sei­ner Mut­ter bei uns, und kaum konn­te er lau­fen, ad­op­tier­te Va­ter ihn. Die Jah­re ver­gin­gen. Ich lern­te, Rück­sicht auf je­man­den zu neh­men. Wenn Liam fiel, half ich ihm hoch, und um­ge­kehrt half er mir. Wir wa­ren ein ein­ge­schwo­re­nes Team. Dann, kurz vor mei­nem ach­ten Ge­burts­tag, for­der­te mein Va­ter noch einen Sohn ei­nes Ver­trau­ten. Ru­rik war nach vie­len Pro­tes­ten sei­ner Mut­ter zu uns ge­kom­men.

Noch­mals sah ich den dun­kel­blon­den Jun­gen auf dem Bild ge­nau­er an. War­um hat­te Ha­l­var uns über­haupt zeich­nen las­sen? War si­cher ein Spleen sei­ner Freun­de ge­we­sen.

Mei­ne Ge­dan­ken kehr­ten zur Ver­gan­gen­heit zu­rück. Va­ter hat­te sich nicht mehr so un­ko­ope­ra­tiv ver­hal­ten wie da­mals bei Liams Mut­ter, aber Ru­riks Mut­ter war trotz­dem kom­pli­zier­ter ge­we­sen. Sie konn­te sich da­mals ein­fach nicht da­mit ab­fin­den, dass ihr Sohn nicht bei ihr auf­wach­sen soll­te, weil mein und sein Va­ter es so woll­ten. Sie trenn­te sich von Ru­riks Va­ter, kapp­te das Band kom­plett. Ver­ließ Schwe­den. Er­klär­te alle zu Wahn­sin­ni­gen. Sie leb­te seit­her in Süd­frank­reich, hat­te dort einen rei­chen Mann ge­fun­den und mehr Kin­der be­kom­men. Ru­rik war da­durch kom­plett al­lein ge­we­sen und wir hat­ten ihn auf­ge­nom­men, als hät­te ihn mei­ne Mut­ter ge­bo­ren.

Ich mach­te eine ge­dank­li­che Pau­se, blick­te wie­der auf das Ge­mäl­de. An den Künst­ler, der es ge­malt hat­te, er­in­ner­te ich mich nicht. Da­bei war ich be­stimmt schon vier­zehn Jah­re alt ge­we­sen, als wir ihm Mo­dell ge­ses­sen hat­ten.

Un­se­re Fa­mi­li­en­ge­schich­te war kein Mär­chen, son­dern ein Alp­traum, und doch mit un­se­rem Blut ge­schrie­ben. Wir alle wa­ren Mor­g­onstir­nas, durch un­se­re Gene oder Ver­trä­ge. Of­fi­zi­ell war un­ser Ge­schlecht im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert er­lo­schen, aber wir wa­ren nie fort ge­we­sen. Kin­der über­leb­ten, über­dau­er­ten alle Krie­ge, Feh­den und Zer­würf­nis­se.

Es­mes Aus­druck in ih­ren Au­gen zog mich ma­gisch an, als ich das Kunst­werk wei­ter­hin be­trach­te­te. Sie sah so sorg­los aus. Strahl­te. Die Un­schuld ei­ner Vier­jäh­ri­gen.

Als ich zehn Jah­re alt ge­we­sen war, hat­te ich be­merkt, wie die zar­te Tail­le mei­ner Mut­ter sich ge­run­det hat­te. Liam war als Sechs­jäh­ri­ger in die­ser Zeit schon non­stop an mei­ner Sei­te. Ru­rik patsch­te uns hin­ter­her, aber sei­ne Kin­der­mäd­chen hol­ten ihn stets wie­der von uns weg, brach­ten ihn in den Be­reich für klei­ne Kin­der. Ich schmun­zel­te, die Er­in­ne­run­gen an die­se Zeit wa­ren die letz­ten sor­gen­frei­en. Denn mit Es­mes Ge­burt än­der­te sich al­les.

Sie kam im Som­mer auf die Welt, aus Vor­sichts­maß­nah­men we­gen Mut­ters Schwan­ger­schaft mit mir in dem re­nom­mier­tes­ten Kran­ken­haus Schwe­dens. Aber nur Va­ter kehr­te mit ei­nem Bün­del in sei­nen Ar­men heim. Nie zu­vor und nie da­nach habe ich ihn wei­nen ge­se­hen. Er wein­te wie der von schwa­r­zen Re­gen­wol­ken be­deck­te Him­mel, als er uns un­se­re klei­ne Schwes­ter zeig­te. Ein Som­mer­re­gen.

Mut­ter war bei der Ge­burt ver­blu­tet, es hat­te dies­mal fa­ta­le Kom­pli­ka­ti­o­nen ge­ge­ben. Da­mals ver­dun­kel­te sich zum ers­ten Mal der Him­mel in mei­nem Le­ben. Auch Liam war schon alt ge­nug, um zu ver­ste­hen, dass nichts mehr so sein wür­de wie zu­vor. Na­tür­lich man­gel­te es uns Kin­dern an nichts, aber Va­ter ver­än­der­te sich. Er wur­de hart, sehr hart. Das dien­te je­doch un­se­rer Aus­bil­dung, denn wir er­hiel­ten nicht nur eine klas­si­sche Schul­aus­bil­dung, son­dern wur­den auf die Zu­kunft des Mor­g­onstir­na-Im­pe­ri­ums vor­be­rei­tet.

Ja, die­se Jah­re wa­ren dun­kel. Ge­prägt von Dis­zi­plin und Här­te. Ich sah mei­nen Va­ter nie wie­der aus ech­ter Her­zens­wär­me lä­cheln. Sei­ne Son­ne war mit dem Tod mei­ner Mut­ter un­ter­ge­gan­gen. Auch wenn er sich um ein gu­tes Ver­hält­nis zu Esme be­müh­te, merk­te man ihm an, dass er ihr die Schuld gab. Un­se­re Schwes­ter, ja, ich weiß, das klang selt­sam, aber wir sa­hen uns alle als eine Art Fa­mi­lie. Sie war nicht nur mei­ne, son­dern die Schwes­ter von uns al­len drei­en. So, wie Liam und Ru­rik mei­ne Brü­der wa­ren, ohne dass uns je mehr als ein paar Trop­fen Blut aus ei­nem al­ten Ar­te­fakt ver­bun­den hät­ten.

Esme wuchs zu ei­ner Prin­zes­sin her­an. Sie war un­fass­bar schön, dazu freund­lich und lie­be­voll. Mit der Zeit ver­blass­te bei uns Jungs die Er­in­ne­rung an un­se­re Mut­ter, und Esme hat­te nie eine ge­habt. Sie frag­te auch sel­ten nach ihr. Wenn, dann nur mich.

So ge­fühls­du­se­lig kann­te ich mich nicht. Wü­tend ball­te ich mei­ne Hän­de zu Fäus­ten, rang um Fas­sung, at­me­te durch. Plötz­lich eng­te mich der Sa­lon ein, ich woll­te die Er­in­ne­run­gen, den Schmerz, das Alte hin­ter mir las­sen. Ging schnel­len Schrit­tes hin­aus in die weit­läu­fi­ge Ein­gangs­hal­le, rutsch­te da­bei fast auf dem frisch ge­wisch­ten stei­ner­nen Bo­den aus, mahn­te mich zur Ruhe.

War­um brach­ten mich die­se Er­in­ne­run­gen so aus dem Kon­zept? Ich dreh­te mei­nen Kopf, bis es im Nacken knack­te, dann ging ich über die brei­te Haupt­trep­pe nach oben, in mein Zim­mer, zog drin­nen mei­ne Schu­he aus, fläz­te mich auf mein brei­tes Bett, nahm mein Smart­pho­ne und scroll­te durch die schon wie­der un­zäh­li­gen Nach­rich­ten. Ar­bei­ten wür­de wohl nicht aus­blei­ben. Aber al­les war an­ge­neh­mer, als ver­gan­ge­nen Träu­men nach­zu­hän­gen. Sie dien­ten nie­man­dem.