15

Soley

Drei wei­te­re Tage wa­ren ver­gan­gen, an de­nen wir nur zum Es­sen das Bett ver­las­sen hat­ten, die Welt völ­lig aus­ge­blen­det hat­ten. Wo­bei »Bett« nur ein Ober­be­griff war, denn Fenr­ir hat­te mich in je­dem Raum ge­fickt, den wir ge­mein­sam be­tre­ten hat­ten.

Die­se dunk­le Ener­gie zwi­schen uns nahm lang­sam über­hand und ich ver­fiel dem Wunsch, ihn stän­dig an mir spü­ren zu wol­len. Je­des Mal, wenn er mich nahm und mich sein Um­fang über­dehn­te, woll­te ich mehr, er mach­te mich ab­hän­gig. Konn­te man mit sei­nem Ent­füh­rer eine Art kran­ken Ho­ney­moon er­le­ben? Be­stimmt gab es auch da­für The­ra­pi­en. Ich hat­te kei­ne neu­en Ant­wor­ten er­hal­ten, Fen hat­te mir jeg­li­che Skep­sis er­folg­reich aus dem Hirn ge­vö­gelt. Al­les an uns lös­te sich in Lei­den­schaft auf, wenn wir zu­sam­men wa­ren, un­se­re Kör­per rie­fen sich, woll­ten eins sein. Nur dann fan­den wir Ruhe im Her­zen des an­de­ren, so fühl­te es sich zu­min­dest an.

Für Fen war es neu, dass er eine Frau im­mer wie­der be­gehr­te, das hat­te er mir ges­tern Nacht ge­stan­den, nach­dem er mich hart an ei­ner Wand auf dem Gang ge­fickt hat­te. Sei­ne Stim­me, wie er mir die­se Wor­te flüs­ternd zu­ge­raunt hat­te, das war im­mer noch in mei­nem Kopf. Und von dem Sex wür­de ich blaue Fle­cken zu­rück­be­hal­ten. Trotz­dem hat­te ich die­ses Ge­fühl ge­nos­sen, den Schmerz ge­mischt mit der Lust. Für mich war al­les neu, au­ßer­dem mach­te Sex wirk­lich Spaß, viel Spaß, ich war un­er­sätt­lich ge­wor­den.

Ich muss­te mich kurz von all dem Te­s­tos­te­ron et­was ent­span­nen und woll­te schwim­men ge­hen. Das Wet­ter war wun­der­bar da­für und ich hat­te im­mens Sehn­sucht nach Sport.

Völ­li­ge Ruhe lag über dem weit­läu­fi­gen Gar­ten, als ich die brei­te Ter­ras­se be­trat. Die an­ge­neh­men di­rek­ten Son­nen­strah­len, ob­wohl es bald Abend wer­den wür­de, er­wärm­ten mei­ne Haut wohl­tu­end, es war im Haus kühl ge­we­sen. Ich leg­te mein Ba­de­tuch auf eine der Lie­gen, streck­te mich durch. Trug einen lä­cher­lich knap­pen gold­fa­r­be­nen Bi­ki­ni, wer den wohl aus­ge­sucht hat­te? In­ner­lich ver­dreh­te ich die Au­gen, aber sei es drum, ich seufz­te und lief ba­r­fuß zu ei­nem Be­reich, wo ich seicht ins küh­le Nass wa­ten konn­te, dann tauch­te ich ein.

Das Was­ser im See klär­te mei­ne Ge­dan­ken. Er­frisch­te und be­flü­gel­te mich. Zug um Zug, Herz­schlag um Herz­schlag. Weit drau­ßen im See kehr­te ich um, schwamm zu­rück zum Ufer. Ich wür­de heu­te um mein Smart­pho­ne ver­han­deln. Ewig konn­te Fen nicht mei­ne Se­kre­tä­rin spie­len, egal, wie amüsant er das fand, ir­gend­wann war es mal ge­nug mit mei­nem Frei­heits­ent­zug. Zu die­sem Ge­dan­ken ge­sell­ten sich al­ler­dings Ver­lust und die Angst, dass er mei­ner über­drüs­sig wer­den könn­te, mich weg­schick­te. Wenn ich dar­an dach­te, zog sich mein Herz zu­sam­men, und das lag nicht an den küh­len Tem­pe­ra­tu­ren des See­was­sers.

Eine Be­we­gung auf der Ter­ras­se zog mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich, das konn­te nur Fenr­ir sein, sonst war kei­ner im Haus. Ich hat­te zum Schwim­men die Stun­de ge­wählt, wenn die Haus­be­diens­te­ten die Vil­la be­reits ver­las­sen hat­ten. Ver­mut­lich war ich zu lan­ge fort aus sei­ner Reich­wei­te ge­we­sen. Viel­leicht ver­miss­te er mich? Er hat­te den rest­li­chen Tag nach un­se­rem, wie soll­te ich das nen­nen, Sex-Ma­ra­thon mit Ver­wal­tungs­a­r­bei­ten ver­bracht und mir Zeit für mich ge­ge­ben.

»Wir müs­sen uns un­ter­hal­ten.«

Sei­ne Stimm­la­ge war mehr Be­fehl als freund­li­che Auf­for­de­rung. Der Wind trug sei­ne Wor­te zu mir ins Was­ser. Fen stand auf der süd­li­chen Ve­ran­da sei­ner Vil­la, die Hän­de hat­te er hin­ter sei­nem Rü­cken ver­schränkt. Ich trat aus dem See auf den Kiess­trand, Fenr­ir be­ob­ach­te­te je­den mei­ner Schrit­te. Er sah be­sorgt aus und et­was Düs­te­res lag in sei­nem Blick.

»Ja, ich kom­me schon. Aber ich brau­che noch einen Mo­ment im Bad.« Als ich ihn pas­sier­te, nahm mich sei­ne Do­mi­nanz gleich wie­der in Be­schlag. Die­ser Te­s­tos­te­ron­über­schuss war ein­schüch­ternd, doch ich straff­te mei­ne Schul­tern, ging trop­fend an Fen vor­bei, schnapp­te mir ein an­de­res Ba­de­tuch von ei­ner der Lie­gen – er hat­te mich so ver­wirrt, dass ich nicht wuss­te, wo meins war – und husch­te die brei­ten Stu­fen hin­auf ins Haus.

Drin­nen um­fing mich Stil­le, ich wen­de­te mich nach links und ging die klei­ne­re Trep­pe hin­auf in den ers­ten Stock. Sie war mir sym­pa­thi­scher als die prot­zi­ge Haupt­trep­pe. Als ich end­lich Fens Räu­me er­reich­te, frös­tel­te ich be­reits, aber ich dusch­te kurz warm, zog mir fri­sche Sa­chen an, wähl­te enge wei­ße Jeans und ein wein­ro­tes tief aus­ge­schnit­te­nes Sei­den­top mit Flü­ge­l­är­mel­chen. Die Un­ter­wä­sche hat­te ich da­vor im glei­chen Fa­rb­ton aus­ge­sucht. Es war ein de­ka­den­tes, be­stimmt sünd­haft teu­res Spit­zen-Set. Lang­sam si­cker­te es in mei­nen Ver­stand, dass Geld in der Fa­mi­lie Mor­g­onstir­na nicht nur eine un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le spiel­te, son­dern es war wirk­lich egal, was et­was kos­te­te. Fenr­ir war stein­reich, jen­seits mei­ner Vor­stel­lungs­kraft, ich war nur ein ge­wöhn­li­ches Mäd­chen aus der Mit­tel­schicht.

Als Schu­he nahm ich wie­der die Riem­chen­san­da­len. Für die High Heels konn­te ich mich nicht er­wär­men, fand es lä­cher­lich, da­mit in die­sem Haus her­um­zu­lau­fen. Mei­ne Haa­re föhn­te ich, dann teil­te ich sie vor dem Spie­gel in Sträh­nen ab, nahm den Lo­cken­stab und dreh­te sie ver­ein­zelt da­mit auf. Für alle hat­te ich kei­ne Zeit, aber so sah es ein biss­chen ver­spielt aus und nicht, als wäre mir mei­ne Er­schei­nung voll­kom­men gleich. Mein Ge­sicht ließ ich je­doch frei von je­dem Make-up. Auch das hat­te Fen für mich be­sor­gen las­sen, aber ich brauch­te kei­nes. Das hat­te mir Fen nicht nur ge­sagt, es stimm­te auch. Zu­hau­se ver­wen­de­te ich ma­xi­mal Ka­jal, hier ver­zich­te­te ich so­gar dar­auf. Mir war von Na­tur aus pro­blem­lo­se Haut ge­schenkt wor­den.

Ich woll­te ihn nicht noch län­ger war­ten las­sen, ging wie­der nach un­ten. Di­rekt am Trep­pe­n­ab­satz stand er. Mein Ent­füh­rer, der Mann, der mich hier fest­hielt und dem ich doch nicht ent­kom­men woll­te. Es war wohl ein klas­si­sches Stock­holm-Syn­drom, wie es im Bu­che stand, wie pas­send dazu, dass wir in Schwe­den wa­ren. Bei dem Ge­dan­ken ver­dreh­te ich kurz mei­ne Au­gen, woll­te mich da­mit von mei­nem po­chen­den Her­zen ab­len­ken, denn Fen sah mich im­mer noch so düs­ter an, als wür­de er mich gleich übers Knie le­gen wol­len.

»Set­zen wir uns raus?«

Okay, raus. Wo­hin »raus«? Ich nick­te nur, nahm sei­ne Hand, die er mir ent­ge­gen­hielt. Händ­chen­hal­ten. War auch neu und ris­kant, denn jede sei­ner Be­rüh­run­gen schick­te Fun­ken aus Be­geh­ren durch mich. Sein Griff war fest, warm, ver­sprach mir Si­cher­heit. Trans­por­tier­te trü­ge­ri­sche stil­le Bot­schaf­ten, denn Fen war ge­fähr­lich. Ich wuss­te das und kämpf­te doch stän­dig ge­gen mei­nen Ver­stand an. Noch im­mer woll­ten Tei­le von mir ihn in Fet­zen rei­ßen und die an­de­ren sich an ihn schmie­gen. Das war irre.

Die Son­ne wech­sel­te in den ty­pi­schen Mid­som­mar-Mo­dus, als wir auf der Ter­ras­se in brei­ten, ge­pols­ter­ten Holz­ses­seln Platz nah­men. Wein in ei­nem Kühl­be­hält­nis und pas­sen­de, un­fass­bar ele­gan­te Glä­ser stan­den be­reit. Aber vom Per­so­nal war nichts zu se­hen, die wa­ren doch vor­hin ge­gan­gen? Hat­te er das kre­denzt?

Ein paar Atem­zü­ge ver­stri­chen, Fen sah mich ein­fach nur an. Dann rich­te­te er eine harm­lo­se Fra­ge an mich. »Darf ich dir Wein ein­schen­ken, Sol?«

»Ja, ger­ne.«

Es war Weiß­wein, dazu gab es Was­ser aus Kris­tall­glä­sern. No­bel ging die Welt zu­grun­de.

»Mei­ne Brü­der keh­ren heim, Sol.«

»Su­per, Fa­mi­li­en­tref­fen. Du hast zwei, nicht wahr?«

Lang­sam konn­te ich mich da­mit zum The­ma Esme vor­ar­bei­ten. Er ver­zog sei­nen schö­nen Mund bei mei­ner Ant­wort, dach­te be­stimmt an mein ver­bo­te­nes Ge­spräch mit der Kö­chin. Die we­ni­gen Ant­wor­ten, die ich ihr hat­te ent­lo­cken kön­nen, und spä­ter Mar­thas In­for­ma­ti­o­nen.

Er hob sein Wein­glas, pros­te­te mir zu. Ich er­wi­der­te sei­ne Ges­te, nahm einen klei­nen Schluck von dem Wein, war­te­te ab, was er mir ei­gent­lich sa­gen woll­te.

»Sie wer­den dich für sich be­an­spru­chen.«

Ich spuck­te bei­na­he den Wein aus. »Wie bit­te?«

»Es ist üb­lich, dass wir uns Frau­en tei­len. Was mei­nen Brü­dern ge­hört, steht auch mir zu, und um­ge­kehrt.« Er mein­te das ernst, sah mich voll­kom­men ru­hig an und ir­gend­wie … ver­dor­ben.

»Ent­zü­ckend.« Der war doch kom­plett irre. »Aber ich glau­be nicht, dass das …«

»Du ent­schei­dest das nicht, Sol. Ich müss­te es dir nicht ein­mal sa­gen, sie wer­den es dir zei­gen.« Oh, jetzt prä­sen­tier­te er mir wie­der sei­ne her­ri­sche Sei­te.

»Ich«, was er konn­te, konn­te ich schon lan­ge, »bin nicht euer Spiel­zeug.«

»Nein, das bist du nicht, ma­len’koye sol­nys­h­ko . Aber sie wer­den um dich wer­ben, nichts un­ver­sucht las­sen.«

»Und du lässt das zu?«

»Es ist im­mer so zwi­schen mir und mei­nen Brü­dern. Wenn wir Lust dar­auf ha­ben, tei­len wir uns eine Frau.«

»Das ist per­vers.«

Er grins­te dre­ckig, mein klei­ner Wi­der­stand amü­sier­te ihn köst­lich. »Du wirst ih­nen ver­fal­len, du bist hung­rig nach Sex, hast wohl viel auf­zu­ho­len.«

Das war so­gar für sei­ne Ver­hält­nis­se frech, so auf mei­ne Jung­fräu­lich­keit an­zu­spie­len. »Wer sagt das?«

»Ich ken­ne dich mitt­ler­wei­le, Sol. Und sei ge­wiss, ich wer­de kei­ne Ein­wän­de er­he­ben, wenn sie dich mit ins Bett neh­men, das ist wie ein Brü­der­ko­dex bei uns.«

»Fein, das ent­schei­de näm­lich wirk­lich ich.« Wü­tend schob ich mei­nen Ses­sel zu­rück, woll­te ge­hen.

»Wo­hin des Weges, Sol?« Na­tür­lich war er wie­der da, na­tür­lich hielt er mich wie­der am Hand­ge­lenk fest.

»Ich habe ge­nug. Ich möch­te nach Hau­se.«

Kaum hat­te ich die Wor­te aus­ge­spro­chen, be­reu­te ich sie. Sie wa­ren ge­lo­gen, denn mei­ne Fins­ter­nis, der ich mich an je­dem Tag hier mehr an­ver­trau­te, war ex­trem neu­gie­rig auf die bei­den. Mein Ge­hirn konn­te die In­for­ma­ti­on, alle drei ha­ben zu kön­nen, kaum ver­a­r­bei­ten.

»Bit­te, kein Pro­blem. Wann soll dich mein Fah­rer wo­hin brin­gen?«

War das sein Ernst? Wie­der die glei­che Flos­kel wie da­mals beim Früh­stück? Und war­um stör­te es mich, dass er mich ein­fach so losließ? Ich zö­ger­te, blieb mit­ten auf der Ter­ras­se ste­hen.

»Das ist es. Wenn ich dich jetzt frei­ge­be, dann kommt dein Herz nicht da­mit klar. Fast könn­te man mei­nen, du magst mich.«

Er wirk­te so selbst­si­cher, schenk­te sich Wein nach. Setz­te sich wie­der und sah mich an, als ge­hör­te ihm die gan­ze Welt. Und das Wi­der­sprüch­lichs­te dar­an: Mir ge­fiel sein Ge­ha­be. Dass er ein­fach so sei­nen An­spruch auf mich klar­stell­te, das Ur­sprüng­li­che. Fuck, die­se Er­kennt­nis er­hitz­te mich.

Ge­spielt trot­zig ging ich wie­der zu ihm, setz­te mich eben­falls. Nahm die Fla­sche aus dem Küh­ler, mach­te mir das Glas rand­voll.

»Kei­ne Ant­wort von mei­ner klei­nen Son­ne?«

Ich be­dach­te ihn mit ei­nem To­des­blick, doch was mich am meis­ten är­ger­te: Er. Hat­te. Recht. Es. Wür­de. Mich. Kil­len. Wenn. Er. Mich. Ein­fach. So. Frei­gab.

Da­bei woll­te ich doch frei sein?

Wie­der be­rühr­te er düs­te­re Sei­ten in mir, zeig­te mir, dass mir mei­ne Ver­gan­gen­heit, mein bis­he­ri­ges Le­ben nicht so wich­tig wa­ren wie die­ser »Ur­laub« hier mit ihm. Die­se auf­ge­zwun­ge­ne Zeit.

Aber ich woll­te das Ge­spräch in eine an­de­re Rich­tung len­ken. Nur wir bei­de, be­vor der Mo­ment durch je­mand an­de­res un­ter­bro­chen wur­de. »Wie hei­ßen dei­ne Brü­der?«

Das ent­lock­te ihm ein Lä­cheln, ein sel­te­nes ech­tes. »Liam und Ru­rik, aber das weißt du doch schon.«

»Wie alt sind sie?«

»Liam ist drei­ßig Jah­re alt und Ru­rik ist mit sechs­und­zwan­zig un­ser Baby.«

»Okay.« Das klang wie die Auf­zäh­lung von De­tails ei­nes Le­bens­laufs, es nerv­te, dass ich ihm al­les aus der Nase zie­hen muss­te. Ich seufz­te und sah ihn ver­stimmt an.

»War­um ist das wich­tig, Sol?«

»Also bist du der Äl­tes­te?« Ich gab nicht nach.

»Ja.«

Wie­der ein­sil­big, das hielt ich nicht mehr aus. Ich setz­te al­les auf eine Kar­te. »Der Stamm­baum in der Hal­le …« Da ver­fins­ter­te sich sein Blick. »Mir wur­de bis­her nur von Brü­dern er­zählt, wenn über­haupt. Du geizt mit In­for­ma­ti­o­nen über dei­ne Fa­mi­lie.«

Die ge­fähr­li­che Ruhe war bei­na­he kör­per­lich spür­bar. »Ja? Was willst du dazu wis­sen?«

Mein Herz klopf­te so stark. »Wer ist Esme? Und war­um feh­len dei­ne Brü­der auf dem Stamm­baum?«

Zu­erst dach­te ich, er wür­de gar nicht re­a­gie­ren, doch dann er­hielt ich zu­min­dest auf mei­ne zwei­te Fra­ge eine Ant­wort. Auch wenn er sie mir nur wi­der­wil­lig schenk­te, mich mit dunk­len Bli­cken be­dach­te.

»Wir sind nicht bluts­ver­wandt. Ich bin der Letz­te aus mei­ner Bluts­li­nie. Mehr musst du nicht wis­sen. Ich habe dir zwar ge­sagt, dass du dich in der Vil­la frei be­we­gen darfst, aber die Hal­le der Ah­nen ist tabu. Bit­te geh nicht wie­der dort­hin.«

Ich schluck­te. Wenn er so­gar ein »Bit­te« dran­setz­te, muss­te es ihm wirk­lich wich­tig sein. Aber: Sie wa­ren nicht ver­wandt? War das sein Ernst?

Wei­te­re Ant­wor­ten. Ich woll­te mehr wis­sen. Aber ich wag­te es nicht, mehr zu fra­gen, Fenr­irs Blick war eine Mi­schung aus Schmerz und sei­nem Wunsch, mich für mei­ne Spi­o­na­ge zu be­stra­fen. Män­ner wie er hiel­ten nur treue See­len um sich, des­sen war ich mir si­cher.

»Es war nicht mei­ne Ab­sicht, zu spio­nie­ren.« In dem Au­gen­blick tat mir mei­ne Streu­ne­rei wirk­lich leid.

»Ja, ich weiß.«

Esme muss­te ihm sehr na­he­ge­stan­den ha­ben, oder ihm na­he­ste­hen, kei­ner sag­te, dass sie tot war. Ich war mir si­cher, dass sie sei­ne Schwes­ter war. Wo­bei – war­um wa­ren die bei­den nicht bluts­ver­wandt? Ich ver­stand das Rät­sel nicht ein­mal an­satz­wei­se. Er be­schütz­te so­gar ih­ren Na­men. Ir­gend­wann wür­de ich er­fah­ren, was pas­siert war, und wes­halb er mir so wort­karg ant­wor­te­te. Der kunst­vol­le Stamm­baum aus Fa­r­be und Holz hat­te sich tief in mei­ne Netz­haut ein­ge­brannt, war dort für im­mer ver­an­kert. Er reich­te weit zu­rück. Und in Fenr­irs Rei­he stand Esme ne­ben ihm, ich hat­te es mir nicht ein­ge­bil­det.

»Hey, Fen, du hast was zum Trin­ken. Wun­der­bar.«

Die an­ge­neh­me, me­lo­di­sche Stim­me ei­nes jun­gen Man­nes er­klang aus dem Gar­ten. Und er nann­te ihn Fen, wie ich. Fenr­irs Lä­cheln ge­fror kurz, kehr­te aber so­fort wie­der zu ihm zu­rück. Dann sah ich, wer auf uns zu­kam. Mir blieb die Spu­cke weg.

»Ich ken­ne dich. Du bist der Wau­wau.« Aus Re­flex stand ich auf, das war der Typ, der mich im Club an­ge­spro­chen und zu Fenr­ir ge­bracht hat­te!

»Ja, hal­lo, So­ley. Du hast dich mitt­ler­wei­le bei Fen ein­ge­lebt? Klas­se. Sieht har­mo­nisch aus.« Er nahm sich un­ge­fragt zwei Wein­trau­ben, steck­te sie sich in den Mund, nahm mein Wein­glas. Es war noch bei­na­he voll, trank da­von.

»Al­ter, was geht mit dir?«

Er war frech, wenn auch un­fass­bar at­trak­tiv. Aber ich war böse auf ihn, aus vie­ler­lei Grün­den. Der Typ fläz­te sich, wie­der ohne zu fra­gen, auf einen Holz­ses­sel, auf die Stirn­sei­te des Ti­sches, zwi­schen mich und Fen. Er igno­rier­te ihn wei­test­ge­hend, scroll­te auf sei­nem Smart­pho­ne her­um.

»Du ver­damm­ter Arsch.«

»War­um? Ist doch schön hier.«

»Du warst das mit dem Tuch …«

»Nein, war ich nicht. Aber ja, sor­ry. Be­schwer dich nicht bei mir, ich hab nur ge­macht, was Fen mir ge­sagt hat.« Er wirk­te ge­spielt em­pört, als wür­de ich Rich­te­rin spie­len, mit ihm stimm­te was nicht.

»Ich lass euch mal al­lein.« Mein­te Fenr­ir das ernst? Er konn­te mich doch nicht mit ihm hier sit­zen las­sen?

»Fen, wur­de heu­te was ge­kocht? Ich hab Hun­ger.«

Fenr­ir igno­rier­te die Fra­ge. »Wo ist Ru­rik?«

Also muss­te das hier Liam sein? Ähn­lich sah er Fen wirk­lich nicht, auch wenn er auf sei­ne ei­ge­ne Wei­se wahn­sin­nig gut­aus­se­hend war. Aber nicht alle Brü­der die­ser Erde gli­chen sich. Also konn­te ich nicht hun­dert­pro­zen­tig wis­sen, ob es stimm­te, dass sie nicht bluts­ver­wandt wa­ren.

»Er sucht sich einen Wa­gen.«

»Was?«

»Er will mor­gen ein Ren­nen fah­ren.«

»Die­ser Idi­ot.«

Da­mit stand Fen wirk­lich auf, ließ mich mit mei­nem mög­li­cher­wei­se wah­ren Ent­füh­rer al­lein. Aber ich war auf Kon­fron­ta­ti­on aus, die­se Lau­ne be­kam er jetzt ab.

»Bist du sein bra­ver Hund?« Ich zog eine Au­gen­braue in die Höhe.

»Uh, das Kätz­chen fährt sei­ne Kral­len aus.« Liam nahm das al­les nicht ernst, mich nicht ernst. Ein ver­we­ge­nes Grin­sen um­spiel­te sei­nen schö­nen Mund.

»Ich bin kein Kätz­chen. Schon gar nicht deins.«

»Chal­len­ge an­ge­nom­men.«

»Wie bit­te?«

»Mach dich mal lo­cker, So­ley, Sol. Kätz­chen? Was darf ich zu dir sa­gen?« War das al­les für ihn ein Spaß? Er klang ent­spannt und wahn­sin­nig gut ge­launt.

»Am bes­ten gar nichts.« Sei­ne Art mir ge­gen­über em­pör­te mich. Lo­cker ma­chen. Mmh.

»Wie ist es mit Fen?«

»Was meinst du?« Soll­te ich wirk­lich mit ihm Small­talk über mei­ne ver­gan­ge­nen Tage hier am Arsch der Welt hal­ten?

»Ich dach­te, er hät­te dich ein­ge­sperrt, ge­fes­selt und, kei­ne Ah­nung, dir dein vor­lau­tes Mund­werk mit sei­nem Schwanz ge­stopft? So et­was in die Rich­tung.«

»Du bist noch ir­rer als er. Mir reicht’s.«

Wort­los schob ich mei­nen Stuhl zu­rück, woll­te ins Haus ge­hen. Na­tür­lich hielt Liam mich auf. Je­der griff hier im­mer nach mei­ner Hand. Und wie das mei­nen Puls be­schleu­nig­te … Fuck, hat­ten wir die Wo­che der at­trak­ti­ven Ent­füh­rer? Das ge­hör­te ver­bo­ten.

Im Ge­gen­satz zu sei­nem Bru­der wirk­te er freund­li­cher, nah­ba­rer. Liam ängs­tig­te mich schon seit dem Erst­kon­takt we­ni­ger, er war mehr Mensch als Wolf, an­ders als sein Bru­der, der für mich den pu­ren An­füh­rer ver­kör­per­te.

Er roch nach ei­ner Mi­schung aus frisch­gerös­te­ten Kaf­fee­boh­nen, hoch­wer­ti­gen Le­der­rie­men und ei­ner Ne­ro­li-Blü­te. Was wür­de er wohl sa­gen, wenn ich ihm sag­te, dass er wie eine Blu­me roch? Die­se Kom­bi­na­ti­on ver­ne­bel­te mein Hirn. Ich konn­te ein­fach nicht wei­ter­ge­hen. Und es war wohl sein ei­ge­ner Duft, ich hat­te ihn im Club und in sei­nem Zim­mer wahr­ge­nom­men, als ich mit Mar­tha das Bett be­zo­gen hat­te. Was, wenn ich schnel­ler dort drin lan­den woll­te als … ja, als was? Ich konn­te mei­ne Ge­dan­ken schlecht fas­sen.

»Ent­schul­di­ge, wenn ich dich ir­gend­wie über­fal­len habe. Ich war auf­ge­regt, woll­te dich ken­nen­ler­nen.«

Das Blau sei­ner Au­gen wirk­te so un­schul­dig auf mich. Da­bei äh­nel­te es mit den hel­le­ren Spren­keln in der Iris dem Kris­tall­blau von Fenr­ir. Alle hier hat­ten wun­der­schö­ne blaue Au­gen in den ver­schie­dens­ten Nu­an­cen. Ver­rückt. Ich sah zu ihm hin­ab und woll­te … Ja, was woll­te ich? Und dann wur­de es mir klar.

Ihn. Mit al­lem, was er mir bie­ten konn­te.

»Wozu? Da­mit du mich mit Fen tei­len kannst?«

»Oh, Fen , so weit seid ihr bei­de schon, süß … Und er hat dir schon da­von er­zählt?« Liam grins­te teuf­lisch. »Na, dann bist du ja, wie sagt man so schön – auf­ge­klärt.«

Er nahm mich fes­ter bei der Hand, ich ließ es zu. Ich leis­te­te kei­nen Wi­der­stand. Als er mich so an­fass­te, re­a­gier­te mein Kör­per so­fort auf ihn. Das war doch bit­te ein Scherz?

Mit ei­ner sim­plen Dre­hung be­för­der­te er mich auf sei­nen Schoß. Ich japs­te auf, ver­steif­te mich, sprang auf, als wäre ich auf einen Amei­sen­hau­fen ge­fal­len. Liam ließ mich los. Sah mich wie­der so an, als könn­te er kein Wäs­ser­chen trü­ben, aber auch wenn er nur der klei­ne­re Wolf war, Raub­tier blieb Raub­tier.

»Dan­ke, aber ich set­ze mich wie­der hier­hin.« Ich räus­per­te mich, deu­te­te auf mei­nen ei­ge­nen Stuhl.

»Ist ja gut, Kätz­chen.« Liam stopf­te sich noch eine Wein­trau­be in den Mund. »Er­zähl mir von dei­ner Zeit hier.«

Wie bit­te? »War­um soll­te ich das tun?«

»Mir ist wich­tig, dass es dir gut geht. Seit ich dich zum ers­ten Mal ge­se­hen habe, ist mir das wich­tig.«

»Ja, klar, wie für­sorg­lich von dir.« Ich prus­te­te, nahm mein Wein­glas und trank es leer. Wow, das er­hitz­te mich. »Du ent­führst mich und dann fragst du mich, wie es mir … geht?«

Ich mach­te eine weit­grei­fen­de Be­we­gung mit mei­nen Ar­men. Liam fuhr sich mit sei­nen Hän­den über sein Ge­sicht, über­leg­te wohl, was er auf mei­ne An­sa­ge er­wi­dern soll­te, ent­schied sich aber für Schwei­gen, nahm un­ge­fragt mein Glas vom Tisch, füll­te es auf und trank.

»Habt ihr hier einen Man­gel an Glä­sern?«

»Nein. Es schmeckt nur nach dir, und das ist un­fass­bar le­cker.« Da­bei schau­te er mich an, als wäre ich die schöns­te Frau auf die­sem Pla­ne­ten.

O mein Gott. Hat­te er das ge­ra­de wirk­lich ge­sagt? Ich hör­te auf mei­nen Kör­per, und der war ein Ver­rä­ter. Liam war wahn­sin­nig at­trak­tiv. Ich muss­te mit mei­nem Ver­stand ge­gen das Po­chen in mei­nem Un­ter­leib an­kämp­fen, das je­der sei­ner Bli­cke in mir aus­lös­te. Aber ich blieb für einen Se­kun­den­bruch­teil ra­ti­o­nal, ich war nur die Beu­te, und doch schlug mein Herz bei sei­nen Wor­ten noch schnel­ler.

Das war ver­dor­ben, al­ler­dings ge­fiel mir die­ses kratz­bürs­ti­ge Spiel zwi­schen uns bei­den. Liam hat­te bei mei­ner Ent­füh­rung sei­ne Fin­ger mit im Spiel ge­habt, ob­wohl er nicht der­je­ni­ge war, der mich be­täubt hat­te. Des­sen war ich mir si­cher, wo­her auch im­mer. Er roch an­ders, ich hat­te falsch­ge­le­gen.

Ich war ver­lo­ren, stand auf Män­ner, die mich ent­führ­ten, also pass­te ich wohl zu den Psy­cho­pa­then hier. Ob es wohl einen Fach­be­griff für Frau­en gab, de­nen Ent­füh­rung ge­fiel? Be­stimmt.

»Komm, Kätz­chen. Er­zähl mir was. Egal was, ich bin bes­ser im Zu­hö­ren als Fen, ver­spro­chen.«

Da­bei fuhr er sich mit ei­ner Hand durch sei­ne dich­ten, dun­kel­brau­nen kur­z­en Haa­re. So stan­den sie noch wil­der ab, das ent­zün­de­te neue Fun­ken in mir, für einen völ­lig an­de­ren Mann.

Ich muss­te auf dem Ses­sel sit­zen­blei­ben, wer wuss­te schon, was sonst pas­sie­ren wür­de. Re­den und Er­zäh­len wa­ren un­ver­fäng­lich, oder?