Wieder erwachte ich allein. Ich brauchte ein paar Sekunden, wenige Atemzüge, um mich zu orientieren. Die edlen dunklen Laken, so weich und anschmiegsam wie eine zweite Haut. Das luxuriöseste aller Betten in diesem Haus.
Rurik.
Doch ich nahm keine Präsenz außer meiner wahr. Als ich mich aufrichtete, tastete ich impulsiv nach meiner Mitte. Ich war wund, wen überraschte das nach diesem Sex-Marathon? Keine Seele. Röte schoss mir in die Wangen. Ich biss mir auf die Unterlippe, schob mich fluchend aus dem Bett. Es war so typisch für die Morgonstirnas, dass sie mich in ihrem Käfig sitzen ließen. Irgendwann würde ich dahinterkommen, warum sie verschwanden und auftauchten, wie es ihnen beliebte, wie sie es für sich als richtig empfanden. Dass sie keine Heiligen waren, war mir mehr als klar, und mit meiner unstillbaren Sehnsucht nach dem Verbotenen konnte ich mich mit ihnen auf ein Treppchen stellen.
Unsicher tappte ich ins Bad, hob auf dem Weg dorthin das Shirt auf, das ich in der Nacht zuvor angezogen hatte. Durst meldete sich, und Hunger. Ich bog zu der Kommode ab, auf der Getränke standen. Genehmigte mir ein großes Glas Wasser. Besser.
Im Bad duschte ich mich, dann entschied ich mich gegen das Shirt und durchwühlte Ruriks begehbaren Kleiderschrank. Natürlich gab es darin nichts für Mädchen, also wählte ich wieder eines der schlichten Shirts, es ging mir bis zur Hälfte der Oberschenkel. Meine Haare hatte ich entwirrt und zu einem neuen Zopf geflochten. Da bemerkte ich, dass mein Magen vehement knurrte. Ich würde nach unten gehen, in die Küche. Marthas Mum würde schon nicht tot umfallen, wenn sie mich nur mit einem Shirt bekleidet sah.
Gut gelaunt verließ ich das Zimmer, ging barfuß den Gang entlang, als mir Fen begegnete. »Oh.«
»Guten Morgen, kleine Sonne. Oder eher guten Nachmittag. Ich wollte dich gerade zum Essen abholen.« Da schwankte ich, hielt mich instinktiv mit einem Arm an der mir nächstgelegenen Wand fest. »Du musst etwas essen und was anderes anziehen.«
Besorgt nahm er mich an der Hand, wir gingen den Gang entlang, bis wir bei seinen Räumen ankamen. Im Schrankraum suchte er mir eine lange graue Jeans heraus und ein schwarzes, bauschiges Top mit tiefem V-Ausschnitt, das sich edel anfühlte. Wahllos reichte er mir schwarze Unterwäsche. Ich zog alles an, kicherte, mir war wieder schwindelig.
»Wir müssen wohl besser auf dich achten.«
»Ja, füttert mich und gebt mir zu trinken. In rauen Mengen bitte.« Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Mir fehlen noch Schuhe. Du hast hier nur Schuhe, die für ein Bordell taugen.« Daraufhin zog er seine Augenbrauen fragend in die Höhe. »Mein Ernst, Fen.« Das Gespräch amüsierte mich. »Sei nicht so besorgt um mich, großer böser Wolf. Kauf mir ordentliche Schuhe, das ist viel wichtiger.«
»Wir kaufen nachher Schuhe, die dir zusagen, für heute wären High Heels trotzdem … wirklich schön.«
Fragend, beinahe bittend, reichte er mir ein Paar schwarze, edle Stilettos, sie sahen aus, als wären die Riemchen aus Spitze gefertigt. Dazu mörderhohe Absätze. Das Laufen darin war zum Glück noch nie ein Problem für mich gewesen.
»Was suchst du noch?«
Er kramte in seinem riesigen Schrank. »Das.« Eine flauschige, schwarze Weste.
»Wer hat die Sachen eigentlich für mich besorgt?«
»Liam.«
»Liam?«
»Ja.«
»Ihr seid gestört.«
»Danke.«
Er selbst nahm sich eine Art legeres Jackett. Da betrachtete ich ihn für einen Moment. Fen trug schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd, die Jacke war auch beinahe schwarz. Alles an ihm war immer dunkel. Dann blickte er mich an. »Ich würde heute sehr gerne mit dir etwas anderes machen, als hier zu sein.«
»Wie?« Ich runzelte meine Stirn.
»Magst du Autos?«
»Ähm, na ja.«
»Hast du einen Führerschein?«
»Ja.«
»Sehr gut. Ich fahre zwar, aber ich wollte es einfach wissen.«
»Was für ein Spiel ist das wieder, Fen? Du weißt doch alles über mich. Wie geht’s meinen Eltern, heute schon mit ihnen getextet?« Mein letzter Satz war bissig aus mir gekommen, diese Scharade nervte und zerrte an meiner Seele, irgendwann wollte ich mich wirklich bei Mum und Dad melden, persönlich. Sie mussten doch auch mal misstrauisch werden?
Fen seufzte, blieb mir wie so oft eine Antwort schuldig, nahm meine Hand, das war irgendwie schräg. Wir verließen seine Räume, gingen über den breiten Gang, die Treppen hinunter in die Haupthalle, von der aus der Wohnbereich und andere Räume abgingen, wendeten uns nach rechts, nach draußen. Die Sonne stand hoch am Himmel, mein Magen knurrte mittlerweile protestierend.
Wir liefen ein paar Meter weiter, blieben vor einem großen, flachen Gebäude stehen, eventuell einer Garage? Aber davor stoppten wir bei einem schnittigen dunkelgrauen Lamborghini. Perplex blieb ich vor dem Wagen stehen. Der kostete garantiert mehr, als ich in meinem gesamten Leben verdienen würde.
»Er ist ein wenig schmutzig, das war Rurik gestern. Aber ich dachte mir, bevor er ihn komplett zu Schrott fährt in irgendwelchen Rennen, fahre ich einmal mit ihm.«
Galant öffnete Fen mir die Beifahrertür und ich stieg ein. Wow. Dieses Auto war ja mal ein Hammer! »Urus Graphite« leuchtete ganz kurz auf dem Display in dem modernen Cockpit auf, als Fen einstieg. Als er den Lamborghini startete, drückte es mich regelrecht in den ledernen Sitz. Krass.
Eine Hand hielt Fen am Lenkrad, die andere legte er sanft, behutsam auf meinen Oberschenkel, der ihm am nächsten war. »Wir fahren ungefähr dreißig Minuten, zu einem anderen See. Ich habe dort ein Restaurant für uns reserviert.«
»Einen Platz im …«
»Nein. Das Restaurant .«
»Okay. Du hast echt ein Problem mit deinem Ego.«
Er lachte. »Keine spricht so mit mir wie du, Sol. Es wäre wirklich schade, wenn du heim wollen würdest.« Dann wurde er still. »Aber es steht dir frei. Du sollst dich nicht wie eine Gefangene bei uns fühlen, oder als wärst du entführt worden.«
»Fen, ist okay. Ich bin groß. Ich … Noch gefällt es mir bei euch. Aber mein Handy wär cool.«
»Das geht leider nicht.« Ihm war es ernst, er sah mich an, als wäre er ein strenger Lehrer und jede Verhandlung zwecklos.
»Warum?« Das sollte er mir mal beantworten. Beleidigt kaute ich auf meiner Unterlippe.
»Ich hab es nicht. Liam hat es. Er kümmert sich gerade um die WhatsApp-Nachrichten mit deinen Eltern.«
»Aha. Und wenn sie mal telefonieren wollen?«
»Du hast schlechten Empfang.« Noch immer wirkte er vollkommen von seinen Absichten überzeugt. Furchtbar.
Ich verdrehte meine Augen, sie glaubten echt, dass sie damit durchkamen. »Aber ich kann sie dann mal anrufen?«
»Ja, wenn wir darüber gesprochen haben, was du ihnen erzählst.«
»Großzügig.«
»Du bist süß, Sol.«
»Ja, entzückend.«
»Lass uns nicht streiten.« Er hob kurz beschwichtigend seine Hände vom Lenkrad und von meinem Schenkel, umfasste sie aber sogleich wieder. Dabei konnte ich nicht anders, als seine Tätowierungen anzusehen, die sich mir durch seine aufgekrempelten Hemdärmel präsentierten. Er hatte unfassbar schöne Arme, und erst die Verzierungen …
»Das nennst du Streit?«
Ich musste lachen, griff mir aber an den Bauch. Langsam brauchte ich wirklich etwas zu essen. Nach ein paar Kilometern und Kurven tat sich ein wunderschöner See vor uns auf.
»Wir sind mehr oder weniger da, aber wir müssen ans andere Ufer.«
»Ist okay.«
»Du hast Hunger.«
»Ich verspeise dich schon nicht.«
Es war trotz ernster Themen so ungezwungen zwischen uns. Ich betrachtete den See, er glitzerte, ein traumhafter Tag.
Als wir wenig später vor dem modernen Restaurant parkten, konnte ich wieder nur gaffen. Es sah aus wie ein kleines Schloss, wunderhübsch und perfekt in Alleinlage. Personal nahm Fenrir den Wagen ab, begleitete uns hinein. Wir hatten einen Platz allein auf der großzügigen Terrasse. Ein Kellner zog unsere Stühle zurück. Wir setzten uns.
»Du bist irre.«
»Danke, Sol. Ich lade dich gern zum Essen ein.« Die Karte war riesig, überforderte mich. »Weißt du schon, was du möchtest?«
»Puh. Ich bin ein wenig überfragt.«
Doch dann wählte ich etwas Einfaches, Leichtes. Dazu Wasser, ich hatte großen Durst. Nachdem der Kellner unsere Bestellung entgegengenommen hatte, blickte ich auf den See, saugte diese Stimmung auf. Die spiegelglatte, funkelnde Seeoberfläche war so rein und klar, beinahe grün und türkis in allen Farbnuancen. Dazu tummelten sich viele Enten und Schwäne darauf. Der See war gigantisch. In weiterer Entfernung erkannte ich Inseln. Eine wahrhafte Idylle. Fenrir ließ mich in diesem Moment verweilen, ließ mir den Zauber des Eindrucks.
Es war ein Ort wie im Märchen oder einer alten verwunschenen Sage. Wirklich. Wenn mich der böse Wolf entführte, welche Rolle fiel dann mir zu? Wie ein Opferlamm fühlte ich mich nicht, eher gleichauf mit ihnen. Vielleicht mehr wie eine große nordische Göttin aus den alten Mythologien. Freya hatte in meinen Schulbüchern als Frau gegolten, die sich allen Sünden hingab und doch nie davon satt wurde. Etwas übertrieben, aber sie passte ganz gut zu mir. Ich war bereit für mehr mit allen dreien, egal, wie sehr sie mich forderten.
»Ich habe übrigens etwas für dich.«
Das machte mich neugierig. Er griff in seine Hosentasche, holte ein schwarzes Samtsäckchen hervor.
»Nur eine Kleinigkeit, mir fehlte die Zeit, aber als ich diesen Granat sah, da dachte ich, der ist für dich.«
»Wie?«
Fen nahm meine Hand, die ihm am nächsten war, legte das Säckchen hinein. »Hoffe, sie gefällt dir.«
»Ein Geschenk?« Lächelnd nahm ich das weiche Säckchen, öffnete es und schüttelte den Inhalt in meine rechte Hand.
Eine Kette? Sie hatten es ja echt mit Schmuck. Es war eine längere, feingliedrige gelbgoldene Kette mit einem wirklich hübschen Anhänger, der garantiert so groß wie eine Zwei-Euro-Münze war, in einem metallenen Ornament gefasst? Oder nein … Das war eine Sonne, die an eine Lebensblume erinnerte, mit durchbrochenen Elementen.
»Der Stein in der Mitte der Sonne ist ein orangefarbener Granat, die drei kristallfarbenen Steine in den gefüllten Sonnenstrahlen rundherum sind Diamanten, sie stehen für mich und meine Brüder. Du bist unsere Sonne, der Granat.«
»Wow. Episch. Wo hast du das gekauft?«
»Das habe ich gemacht.«
»Die Kette?« Mir entglitten leicht meine Gesichtszüge vor Verblüffung.
»Ja, alles. Ich bin Goldschmied. Das ist mein Handwerk.«
»Nicht dein Ernst?«
»Doch.«
»Wow.«
»Darf ich sie dir umhängen?«
»Natürlich. Sie ist wunderschön. Danke.«
»Das freut mich.« Ich war wirklich beeindruckt. Er hatte viele verborgene Talente.
Er kam mir ganz nahe, nahm mir die Kette aus den Fingern, legte sie mir um den Hals. Als er den Verschluss in meinem Nacken schloss, prickelte es genau dort, wo mich seine Fingerspitzen berührten. Fenrir war wirklich gefährlich für mich, ich verfiel ihm, wobei es nicht um teure Geschenke ging, sondern um die Geste, die Symbolik dahinter.
Fenrir hauchte mir einen Kuss in den Nacken, danach setzte er sich mir wieder gegenüber. Ich griff nach dem Anhänger, der sein neues Zuhause zwischen meinen Brüsten gefunden hatte. Er fühlte sich nicht kalt an, sondern wohltuend und vertraut. Schmiegte sich perfekt an mich.
»Danke.«
»Schon gut. Ich hab Freude daran, wenn es dir gefällt. Und sie steht dir.«
Sein Blick landete genau in meinem Ausschnitt, mir schoss Hitze in die Wangen. Dann wurde der erste Gang serviert. Ich freute mich wirklich aufs Essen. Hungrig biss ich in die frischen, lauwarmen Brötchen mit Lachs. Eine Geschmacksexplosion. Dazu der frische Rucola-Salat mit Parmesan. Ja, ich war nahe am gefühlten Verhungern. Zwang mich, langsam zu essen.
»Wir haben nicht gut genug auf dich geachtet.«
»Wir waren abgelenkt.« Kauend zwinkerte ich ihm zu.
»Trotzdem ist es wichtig, dass du ausreichend isst und trinkst.«
»Ja … ist ja gut. Das war dir auch nicht wichtig, als du mich entführt hast.« Da kehrte der Kellner zurück, ich biss mir auf die Lippe.
Nachdem mein erster Hunger gestillt war, fühlte ich mich wieder mehr wie ich, nicht wie eine Puppe, die sie stets ohne große Worte alleinließen, wenn sie ihren Geschäften nachgingen. Manchmal waren diese Morgonstirnas wirklich furchtbar bestimmend, aber das störte mich erschreckend wenig. Sollte ich es mal als Moralapostel probieren?
»Fen, das kann so nicht weitergehen, du weißt das. Mit jedem Tag wird doch euer Netz, dieses Konstrukt brüchiger. Man wird mich suchen.«
»Du hast nie besonders großes Vertrauen in jemand anderes gehabt, oder?«
»Schon gar nicht in Unterweltler.«
Über den Begriff musste er lachen. »Klingt, als wäre ich ein Vampir oder so.«
»Bist du ja vielleicht auch.«
Da kam der Hauptgang. Das gegrillte Gemüse sah wirklich zum Anbeißen aus. Fenrir aß ein Steak, was sonst. Fleisch für den Wolf. Wortwitz.
Wir aßen schweigsam, ich wollte ihn nicht reizen und er mich wahrscheinlich nicht weiter herausfordern. Als der freundliche Kellner abservierte, konnte ich trotzdem nicht an mich halten.
»Fen, ich mag dich. Das hier ist kein Spiel für mich. Ich fühle mich wirklich wohl bei dir und auch bei deinen … Brüdern.«
Das letzte Wort, ich hatte ein klein wenig dafür gebraucht, um es auszusprechen. Er hörte mir aufmerksam zu, nippte an seinem kristallenen Wasserglas, das im Abendlicht funkelte.
»Dieses Abenteuer ist mehr, als ich je erwartet hätte, jenseits aller Normalität, und doch verführerisch. Ihr zeigt mir Seiten von mir, an mir, die mir fremd waren. Das, worauf ich seit meiner Teenagerzeit verzichtet hatte oder was ich vielleicht nie in dieser Intensität erlebt hätte, wenn ich nicht nach Stockholm gekommen wäre.« Nach wie vor schwieg er. »Aber wir müssen das normalisieren.« Kein anderer Begriff fiel mir dafür ein. »Meine Eltern fallen tot um, wenn ich ihnen sage, dass mich drei Männer entführt haben.«
»Du bist unser Gast.« Er sah mich an, meinte es wahrscheinlich auch noch wirklich so, aus voller Überzeugung. An seinem Gesicht konnte ich nichts außer positiver Zustimmung für seine eigenen Worte ablesen.
»Ja. Aber sie glauben, ich bin auf einem Roadtrip mit Ana. Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann schreibt mir Ana nicht. Das ist nicht normal, da ist was faul. Wo ist meine Freundin? Du hast doch Kontakte überall, such sie … bitte.«
»Okay.« Sein Blick verdunkelte sich, log er mich an? Wusste er mehr? Doch der Ausdruck verflüchtigte sich sofort wieder und er bat mich um mehr Informationen. »Sag mir ihren ganzen Namen.«
Erleichtert seufzte ich auf, ich hatte mir die Schatten in seinen Iriden bestimmt nur eingebildet. »Anastasia Eklöv. Sie ist französische Staatsbürgerin, wie ich. Da unsere Mütter alte Freundinnen sind, hat sie viel Zeit mit uns verbracht. Wo wir zuhause waren, waren sie zuhause und umgekehrt. Meine Mum und ihre hängen aneinander, wie … Ana und ich. Gott, sie fehlt mir.«
Fenrir tippte diese Informationen seelenruhig in sein Smartphone. »Wenn sie noch in Schweden ist, finden wir sie bestimmt heute Abend, gib meinem Netzwerk ansonsten vierundzwanzig Stunden.«
»Danke.«
Da betrachtete mich Fenrir intensiv. »Das ist das aufrichtigste Danke, dass du mir je geschenkt hast. Es tut mir leid, dass ich deine Sorge um Ana nicht ernst genug genommen habe, bisher.«
»Vergeben.«
»Wie … großzügig.«
»So bin ich eben.«
Der Kellner brachte noch das Dessert, eine Schokoladen-Mousse, und ich stürzte mich regelrecht darauf, was den großen bösen Wolf auflachen ließ. Mit Süßem konnte man mich immer ködern, und mir gefiel es, mit ihm Neues zu unternehmen, außerhalb der privaten Villa am See.