»Wo bin ich?« Mein Kopf hämmerte, mir war schlecht.
»Entführung sollte dir doch nicht neu sein, Soley?«
Diese Stimme, sie klang vertraut, aber ich konnte nicht ausmachen, woher sie kam. Der Raum war riesig. Eine Bibliothek? Ein Schloss?
»Willkommen in meinem Reich, Soley Blom.«
Warum wusste dieser Mann meinen Namen?
Woher kannte ich seine Stimme?
Schmerzerfüllt griff ich mir an die Stirn. Ich war betäubt worden, wieder. Diesmal spürte ich, dass ich eine Überdosis erhalten hatte. Mir war schlecht.
Da hörte ich Schritte, jemand kam von der Empore zu mir? Es war so duster in der Halle. Ich richtete mich auf der Chaiselounge auf, oder was das auch immer für eine Art Couch war, auf der man mich abgelegt hatte. Unterdrückte einen Brechreiz, fuck, war mir schlecht. Sogar Sitzen und Atmen waren anstrengend.
»Uns ist unser letzter Abend genommen worden, das möchte ich gerne nachholen.«
Wie bitte? Ich zitterte, beobachtete meine schneeweißen Hände, die ich unkontrolliert vor mein Gesicht hielt, um mich irgendwie zu schützen. Meine letzten Erinnerungen kamen nur schleichend zurück. Panik hielt mein Herz umfangen, während mir so übel war wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Da trat er näher vor mich und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. »Erik?« Was machte er hier? Wo war ich? Gott, mir war immer noch so übel.
»Ja, Soley. Ich habe dich rausgeholt. Jonas hat es für mich erledigt. Du bist bei mir in Sicherheit.«
»Was? Wo rausgeholt?« Ich konnte ihm schwer folgen. Mein Schädel explodierte gefühlt.
»Deine Pein beim Morgonstirna-Clan ist vorüber. Morgen wird sich ein Arzt ein Bild darüber machen, was dir alles, ähm … passiert ist.«
»Wie bitte, Erik? Mir ist nichts passiert. Es war alles gut, wieso … wir … Jonas …«
»Soley, bitte widersprich mir nicht, das kann ich nicht leiden.« So viel Kälte in seiner Stimme.
»Wo bin ich hier?«
»Du bist in meinem Schloss, und hier bleibst du auch!«
Hatte er den Verstand verloren? »Nein, ich will zurück.«
»Ich glaube, dir ist die Tragweite nicht bewusst, Soley. Mein Name ist Erik Belosselski, ich bin der älteste Sohn eines Fürsten der russischen Unterwelt.«
»Und jetzt?« Langsam nervte mich sein Gehabe.
»Niemand nimmt mir mein Eigentum weg.«
Da klickten die Rädchen in meinem Kopf, trotz des Elends darin erfasste ich jedes Wort. Ich hatte nur kurz auf die Toilette gehen wollen im Club, das davor war mein letztes Gespräch mit Erik gewesen.
»Ähm, Erik, das …«
»Du gehörst mir, ich habe dich ausgewählt, Soley.«
Er sagte es so eindringlich, dass mein Widerstand äußerlich verpuffte und innerlich anwuchs. »Was ist mit den …?«
»Deinen Entführern? Sie erhielten die gerechte Strafe. Ich habe sie mit einer Art Feuerwalze überrannt.« Er kicherte, kranker Typ.
Doch dann wurde mir bewusst, was er gesagt hatte. Großer Gott. Erneut flutete Angst meinen Körper, ließ mich wie paralysiert denken, ich krallte meine Finger in meine Handinnenflächen, bis es schmerzte. »Sind sie tot?«
»Wäre wohl für alle die beste Lösung, aber meistens haben solche Wölfe mehr Leben als jede Katze. Ärgerlich.«
Er sah so aalglatt aus. Schön, aber so kalt, er hatte keine Seele, da war alles voller Schwärze. Warum war es mir im Club nicht aufgefallen?
»Ich möchte nachhause.«
»Das hier ist jetzt dein Zuhause, Soley.«
»Ich habe also einen Käfig gegen den anderen getauscht?«
Meine Worte waren voller Bitterkeit. Ganz langsam kam er näher, zog mich ruppig hoch, griff in mein Haar, fasste mir an die Wange. Jetzt konnte ich den Brechreiz nicht mehr unterdrücken. Aber ich gab mein Bestes, ihn durch Atmen zu kompensieren.
»Das ist Ansichtssache, Soley Blom.«
Sogar seine Finger waren kalt. Er sprach Englisch mit mir, wofür ich dankbar war. Aber seine Unbeholfenheit, das, was er mir in Stockholm von sich gezeigt hatte … Es war nur Fassade gewesen.
»Wer bist du wirklich, Erik?«
Eine einzelne Träne lief aus meinem linken Augenwinkel. Erik sah es, kam noch näher, seine Zunge schnellte vor und er leckte die Träne auf.
»Die ist frisch, das hat noch kein Morgonstirna berührt.«
Ein Schauer durchfuhr mich. Ich konnte meinen Ekel kaum zurückhalten. Ja, ich hatte Fen für krank gehalten, zu Beginn. Aber das war nichts gewesen gegenüber den kalten, bitteren Emotionen, die Erik umgaben. Ich stand zum ersten Mal einem echten Wahnsinnigen gegenüber.
Er war ein schöner, gepflegter Mann, strahlte Macht und Dominanz aus. Doch er war auch ein Schauspieler, und er würde mich sofort seinen Hunden zum Fraß vorwerfen, wenn es seinem Vorteil diente. Ich spürte so viel Böses an ihm.
Dann brachte er einen Schritt Abstand zwischen uns, hielt aber mein Kinn fest wie in einem Schraubstock. »Zuerst lernst du, zu gehorchen, Soley. Dann sehen wir weiter. Mir kommt es so vor, als wärst du dort keine Gefangene, eher eine Art Gast gewesen. Das gefällt mir nicht. Du musst wissen, wo dein Platz ist.« Er ließ mich los, als hätte er sich verbrannt.
»Lass mich einfach gehen, Erik.« Meine Stimme war weniger gefestigt, als ich sie klingen lassen wollte.
»Nein.«
»Warum?«
»Weil ich dich haben will. Du gibst dich mir nicht hin, also nehme ich mir, was mir zusteht.« Jetzt zitterten sogar meine Beine, blöder Körper. Er sah mir an, dass er mich ängstigte. »So, ich finde, unser kleines Treffen war doch wunderbar.«
Wie bitte? Er war so gestört. Eine kleine Pause trat ein, keiner sprach. Nur seine Mundwinkel verzogen sich spöttisch nach oben. Als wüsste er, dass mir sein nächstes Wort einen Todesstoß versetzen würde. Ich erschauderte.
»Ana?«
Hatte er wirklich Ana gesagt? O Gott, Ana. Meine Ana?
Da kam sie auf mich zu, vor Erleichterung wären mir meine Beine fast weggeknickt. Aber mit jedem Schritt, mit dem sie sich mir näherte, verzweifelte alles in mir noch ein Stück mehr.
Das war zwar Ana, aber sie war es auch nicht. Was zur Hölle war mit ihr passiert? Es war, als würde sich mir eine wunderschöne Hülle nähern. Das war nicht meine Freundin. Niemals.
Sie trug einen Designer-Hosenanzug, dazu hochhackige Pumps. Und … ein Halsband. Einen funkelnden Reif aus Metall mit Steinen? Diamanten? Ich hatte keine Ahnung, eine Öse war daran befestigt, als könnte man sie anketten? Ihre langen Haare hatte sie nach hinten gebunden.
»Ana? O Gott, Ana.«
Doch sie ignorierte mich. Ihr Blick lag einzig auf Erik. »Ja, Master?«
Master?
»Bitte bring unseren Gast auf das Zimmer, das für ihn vorbereitet ist.«
»Natürlich, Master.«
Imaginär fiel mir die Kinnlade runter, kippte einfach weg. Da sagte er noch mehr.
»Ach, bevor ich es vergesse.«
Was vergessen? Bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, hatte er schon einen metallischen Gegenstand von einem kleinen Beistelltischchen genommen, ich zuckte zurück, als er ganz nahe kam, und dann … klickte es.
»Wunderschön.«
Er hatte mich eiskalt erwischt. Ich war kurz vor dem Hyperventilieren, griff an meinen Hals. Ein metallenes Band lag darum, ich spürte kleine Erhebungen, das mussten diese Steine wie bei Ana sein. Darunter trug ich noch meine Kette von Fenrir. Gott sei Dank hatte sie mir keiner genommen. Sie scherte hier wohl niemanden. Dieses Schmuckstück wurde unbewusst zu meinem Anker, ich musste mich an irgendwas festhalten.
»Du bist doch krank!«
Alles in mir strotzte vor purem Entsetzen. Passierte mir das gerade wirklich? Ich sah ihn an und flehte innerlich darum, die Macht zu haben, ihn allein durch meinen Blick zu töten.
»Sagt die, die sich wie eine läufige Wölfin von den Morgonstirnas ficken ließ. Von allen dreien. Ekelerregend.« Was? Woher wusste er das? »Aber keine Sorge. Morgen werden die Ärzte checken, ob du sauber bist, und vor allem, ob keine Schwangerschaft vorliegt. Denn das ist ein Privileg, das mir gebührt. Nicht diesen räudigen Wölfen.«
Mir blieb beinahe die Luft weg. Niemals wieder würde ich denken, dass Fen mental angeknackst war, denn er hier, dieser kranke Wichser … Er war vollkommen geisteskrank.
»Komm bitte mit.«
Anas ruhige Stimme holte mich aus diesem Moment des Irrsinns. Sie bot mir einen Ausweg an, fort von diesem Wahnsinnigen und seinen makabren Plänen.
Ich verließ mit Ana die Bibliothek, das Gebäude war extrem weitläufig. War es ein Schloss? In so einem riesigen Haus war ich noch nie zuvor gewesen, oder waren es mehrere? Es reihte sich Saal an Saal, Halle an Halle. Ich verlor die Orientierung. Düsternis und Kälte begleitete jeden meiner Schritte, diese frostige Atmosphäre fraß sich durch jeden meiner Schritte wie Gift in meinen Körper. Die spärliche Einrichtung bestand aus dunklem Holz, an den Wänden sah ich ebenfalls schwarzes Holz als Vertäfelung oder dicke Wandteppiche, die uralt waren und schreckliche Kriegsszenarien, Opferrituale und Abschlachtungen zeigten, mich gruselte es. Einige Fenster schenkten dem ganzen Objekt eine diesige Helligkeit, aber Ana schüttelte nur den Kopf, als ich vor einem stehen bleiben wollte. Schließlich betraten wir einen modernen Lift.
»Ana? Ana, bitte sag doch was!«
»Was brauchst du denn?«
War das ihr Ernst? Da blieb der Lift stehen, ich stolperte mit ihr mehr heraus, als dass ich ihr ordentlich folgte. Wieder gingen wir endlos scheinende Gänge entlang, aber die Atmosphäre hier war anders, eleganter, erinnerte mich an die großen Schlösser Europas, die man besichtigen konnte. Schließlich blieben wir vor einer weißen Tür mit Goldverzierungen stehen. Davon reihten sich zwanzig pro Gang links und rechts ab.
Ana öffnete die Tür, hielt sie mir auf. Ich betrat den Raum, atmete durch, Ana folgte mir und schloss die Tür, als wir drinnen waren.
»Ich erkläre dir die Elektrik dieses Raums. Links geht es ins Bad.«
Sie erhellte per Tablet das prunkvolle Schlafzimmer. Und dann passierte es: In einem Winkel zwischen Bad und Schlafzimmer zog mich Ana in eine Ecke. Gab mir ein Stück Papier, drückte es mir in die Hand, verbot mir aber durch eine stumme, strenge Geste mit ihrem Kopf, darauf zu reagieren. Ihr Blick. Er war so … verloren. Sie zeigte mir noch teilnahmslos und emotionslos alles, was ich zu dem Raum und dem Bad wissen musste, dann ging sie, schloss die Tür.
Mein Herz klopfte bis zum Hals. Vorsichtshalber stellte ich mich wieder genau in die Ecke, in die sie mich davor gezogen hatte, faltete den Zettel auf. Meine Finger zitterten so sehr, dass es mir erst im dritten Anlauf gelang.
Vernichte diese Botschaft nach dem Lesen. Spüle sie in der Toilette runter, sonst exekutieren sie mich.
Das hier ist die Hölle.
Wir müssen uns retten, aber es sind überall Kameras, auch im Bad. Das geht nur im Verborgenen. Bereit? Dann gib auf meine Zeichen acht.
Jonas ist nicht nur Eriks Bruder. Er ist sein Untergebener und er hat mich ihm »geschenkt« nachdem er genug hatte. Ich muss mich an beiden rächen.
Ich faltete den Zettel wieder zusammen, verbarg ihn in meiner zittrigen Hand, ging ins Bad. Setzte mich auf die Toilette, zog meine Leggings runter, erleichterte mich, nahm Papier, wischte mich ab und entsorgte es zusammen mit dem Zettel in der Toilette. Drückte die Spülung.
Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ana war wenigstens immer noch Ana. Kurz hatte ich Angst gehabt, man hätte sie einer Art Gehirnwäsche unterzogen, sie spielte die perfekte Sklavin.
Erst dann bemerkte ich den Ring um meinen Hals wieder. Er widerte mich an.