Unruhig, ungeduldig und unermüdlich schlug ich auf die Boxsäcke ein. Dabei konnte mir kein Training der Welt helfen.
Moskau war fatal gewesen, in jeder Hinsicht. Ich vermisste Soley, aber sie gehörte zu Fen. Oder gab es uns weiterhin? Was bedeutete überhaupt uns ? Frustriert knirschte ich mit meinen Zähnen. Falls Fen und Sol auf Pärchen machten, würde ich wohl damit irgendwie klarkommen, wenn es sich nicht verhindern ließ. Aber womit ich überhaupt nicht klarkam: mit den großen bernsteinfarbenen Augen, die mich schweigend und kampflustig, feindselig fixiert hatten, als ich ihr das Collar abgenommen hatte. Die Erinnerung daran …
Ana war wunderschön, stark und besonders. Mein Herz hatte auf sie reagiert, stärker als je zuvor bei einer Frau. Es war nicht vergleichbar mit der Chemie zwischen Sol und mir, es war anders, noch erdrutschähnlicher. Und doch war sie so zerstört, dass ich mich ihr niemals nähern durfte. Fuck. Ich brauchte Ablenkung, vielleicht würde ich später ins fallen sins fahren. Mein innerer Wolf musste sich abreagieren und mit Finsternis gefüttert werden. So ging das nicht weiter.
Ständig wiederholte es sich in meinem Kopf, die Szenerie. Wie nie enden wollende Flashbacks. Wieder gab ich nach … mich diesen Erinnerungsfragmenten hin …
Ana war so stark geschminkt wie eine Kriegsgöttin. Sie hielt eine entsicherte, hochmoderne Pistole in der ausgestreckten Hand, und was mich noch mehr verblüffte: Sie hielt die Waffe richtig, präzise. Bereit dazu, jemanden auszulöschen. Solche Kleinigkeiten fielen so manchem im Chaos nicht auf, aber ich hatte ein Auge für Details. Ihre ersten Worte an mich, während Fen eine desorientierte und wohl bewusstlose Soley nach draußen trug, als wir weg von der Gefahr waren: »Lebt das Arschloch noch?«
Sie sagte es so voller Bitterkeit. Ich blieb ihr eine Antwort schuldig, machte noch einen Schritt auf sie zu, griff nach der Waffe, sie hielt sie immer noch auf mich gerichtet. »Wir müssen hier weg. Du bist Ana, oder?« Viele Rädchen klickten in meinem Kopf, vereinten das Bild dieser Gefangenen mit den unzähligen, fröhlichen Schnappschüssen und Selfies aus Soleys Smartphone.
»Für dich bin ich nichts, geh mir …«
»Ich sagte, wir müssen hier weg, bevor noch mehr Wachpersonal auftaucht.« Ana hustete, Rauch drang aus Eriks Zimmer durch die halbgeöffnete Tür. »Geh mit oder bleib, aber bei den Göttern, Soley reißt mir den Arsch auf, wenn ich dich zurücklasse. Erspare mir das.« Vorsichtig verstärkte ich den Druck auf ihre Hand, nahm ihr die Waffe aus den verhältnismäßig ruhigen Fingern, sicherte sie, steckte sie in meinen Hosenbund, spürte noch die Wärme von Anas Griff.
Noch eine Sekunde zögerte sie, dann nahm sie meine Hand, die ich ihr anbot, und wir liefen durch den mittlerweile wirklich beißenden Rauch hinaus in die schützende Nacht.
Und es hatte mich weiter eingeholt. Ich war durchgeschwitzt, aber ich konnte nicht aufhören, wählte einen härteren Boxsack. Doch ganz egal, wie oft ich dagegenschlug … Diese Flashbacks hörten nicht auf.
Rurik wartete wie vereinbart abfahrbereit mit einem Van mehrere Seitenstraßen von dem Palast der Belosselskis entfernt in der Dunkelheit. So konnten wir in den Schatten der Nacht ungesehen die Szenerie verlassen.
Er half Fen fokussiert, behielt immer den kühlsten Kopf von uns allen, nahm ihm Soley ab. Stutzte aber, als er mich in Begleitung von Ana sah.
»Sagt mal, gab es dort drin Frauen umsonst? Ich hab auch ein Souvenir dabei.« Das war typisch er, sogar Scherze in adrenalinstarken Momenten parat.
»Ein was?« Fens Stimme klang gereizt, er hasste es, wenn wir in Eigenregie ohne sein Wissen agierten.
»Lief mir über den Weg.«
Rurik stieß mit einem Fuß die Tür des Vans weiter auf, stützte sich ab, hievte sich mit seiner Last hinein, trug Soley ins Innere, legte sie auf der schmalen Pritschenbank ab. Auf dem harten Boden der Ladefläche daneben lag … Natalia. Diese abartige Belosselski-Hexe. Bewusstlos.
»Fuck.« Fen atmete hörbar aus. Ich musste gegen ein Kichern ankämpfen. Das war so typisch Rurik. »Das bedeutet dann Krieg, das weißt du?« Die Stimme unseres Leitwolfs klang alles andere als begeistert.
»Ja, Anführer. Soll ich sie rausschmeißen oder mitnehmen? Mir egal, was ich mit der Schreckschraube mache. Dachte mir, sie könnte sich als nützlich erweisen, und ich mochte sie noch nie. Sie tickt da oben nicht richtig.« Rurik war so herrlich kaputt.
»Du hast sie untersucht?« Dunkles blitzte in Fenrirs Blick auf, das ich nicht deuten konnte, aber es verschwand so schnell im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung, wie es aufgetaucht war.
»Jep. Untersucht und sie ist sauber. Nicht verwanzt.«
»Wusstest du, dass sie am Steißbein Süßigkeiten tätowiert hat? Bonbons und so Zeug? Die ist wirklich … irre.«
Fenrir strich sich angestrengt übers Gesicht. Wahrscheinlich wägte er ab, was uns dieser Spaß kosten würde.
»Was wollt ihr mit der Hexe?« Ana sprach abgebrüht, zeigte keinerlei Regung in ihrem stark geschminkten Gesicht.
»Das wird sich zeigen.« Somit stand Fenrirs Entscheidung fest.
»Gut, viel Spaß mit ihr. Sie ist gefesselt und sediert, aber in zwei, drei Stunden werden wir sicher die Dosis auffrischen müssen. Dann … auf zum Flughafen.«
»Guter Witz, Rurik.«
Doch er hörte mich nicht mehr, er stieg in die Fahrerkabine. Wir kletterten hinten in den Van. Ich wollte Ana beim Einsteigen helfen, aber sie hüpfte beinahe an mir vorbei, sprang auf die Rückbank, setzte sich zu der liegenden Soley.
»Ich halte sie, nicht, dass sie runterrutscht.«
»Okay, aber da sind Gurte, damit kannst du sie …« Ich fasste unter die Bank, nahm die beiden Lederriemen heraus, hakte sie oberhalb von Soley wieder ein. Anas Präsenz machte mich nervös, das war unerwartet. »Wie lange wird Sol–«
»Keine Ahnung, wir haben ihr nichts gegeben, sie ist einfach so weggekippt.«
»Alles klar.«
Alles klar? Ana verwirrte und begeisterte mich gleichermaßen. Fen setzte sich weiter vorn in den Van, stupste Natalia mit einer Stiefelspitze an, keine Reaktion. Trotzdem würde er sie keine Sekunde aus den Augen lassen, dessen war ich mir sicher.
Der Van setzte sich in Bewegung, da merkte ich, dass Ana ihren Hals berührte. Ich kniete immer noch vor der Pritsche, schob ihr aus einem spontanen Reflex das blonde Haar zur Seite, sah das enge Metallband darum. Himmel, Hölle. Unwillkürlich malte ich mir sämtliche Szenarien in meinem Hirn aus.
»Willst du das loswerden?«
»Was?«
»Das Collar.« Mein Blick blieb daran haften, sie wusste dadurch, was ich meinte.
»So nennt ihr den Scheiß, ich weiß. Ja, will ich! Aber ich bekomme den Verschluss nicht auf. Probiere es seit … Wochen.«
»Darf ich?«
Sie nickte, ich holte aus einer meiner Hosentaschen meinen Spezialwerkzeugbund für Notfälle. Darin gab es auch das filigrane Werkzeug zum Öffnen aller möglichen Schlösser. Ein Collar war für mich ein Kinderspiel, aber das musste sie nicht wissen.
»Fen, schalt mal ein wenig Licht ein.« Mein Bruder reagierte, zu der einen fahlen Lampe gesellte sich ein hellerer Strahler und ich konnte innerhalb weniger Sekunden den Verschluss öffnen, er klickte.
Ich steckte mein Werkzeug weg, begegnete Anas Blick. Sie sah mich an, als wäre ich schuld an allem Elend auf dieser Welt. Ich musste schlucken, das war heftig. Dann griff ich um ihren Hals, berührte die Edelsteine des Bandes, drückte, es öffnete sich und löste sich von ihrem zarten Hals. Die Haut darunter war aufgerieben, sie hatte Druckstellen, die nicht unbedingt von dem Metall stammten, und noch mehr Verletzungen, die mich scharf einatmen ließen. Jetzt verstand ich besser, warum sie mit geladener Waffe im Chaos unseres Angriffs auf der Jagd nach Erik gewesen war.
»Wir passen jetzt auf dich auf, Ana. Dir passiert nichts mehr.«
»Ihr könnt mich vor nichts schützen, was mir nicht schon angetan worden wäre.«
Danach senkte sie ihren Blick, sah zu Soley, ignorierte mich, kein Danke, nichts. Aber ich brauchte auch keines, das hier war eine neue Stufe der Vorhölle für mich. Denn Ana ging mir wahrlich unter die Haut. Ich wollte sie trösten.
Jemandem Trost spenden? Was war mit mir los? Dieses Konzept war mir so fremd, dass ich sekundenlang in meinem Hirn danach suchen musste. Langsam rutschte ich von ihr weg, setzte mich neben Fen, der uns wortlos beobachtet hatte. Das Halsband hatte ich fallen lassen, Scheißteil. In meiner Welt dienten solche Spielzeuge der Lust, hier dem Zwang .
Allein dieser Satz – wir könnten sie vor nichts schützen, was ihr nicht bereits angetan worden wäre . Ich kam nicht klar darauf.
Meine Kraft war aufgebraucht. Ich nahm mir ein Handtuch, ließ mich auf eine Ruhebank neben den Geräten im Trainingsraum fallen.
»Sie wacht auf.«
Soley hustete, wir saßen bereits in unserem Flieger nach Stockholm. Alles hatte wie erwartet reibungslos funktioniert, Rurik machte sich einen Spaß daraus, Natalia zu sedieren. Er hatte ein mehr als wachsames Auge auf unseren speziellen Gast. Im Flugzeug kümmerten sich zusätzliche Wachen um Natalias Zustand. Sie musste, solange es medizinisch vertretbar war, betäubt bleiben.
Endlich reagierte auch Ana wieder menschlicher. Seit ich ihr das Collar abgenommen hatte, war sie wortkarg gewesen, keine richtige Konversation hatte mehr stattgefunden. Sie war stark traumatisiert und wir mussten sie dringend zu einem Arzt bringen, der sich auch mit mentalen Schäden auskannte.
»Fuck, mir ist schlecht.« Soley setzte sich auf, hielt sich mit den Händen den Kopf, den Bauch, würgte. Aber nichts kam hoch.
»Sol, wir sind da.«
Fen kniete vor ihr, bei den Göttern, wie oft wir in diesen Stunden vor Frauen gekniet hatten. Ich lehnte mich in meinem breiten Ledersessel weiter zurück, sie brauchte garantiert nicht noch jemanden, der sie für sich vereinnahmte. Fens Sorge war genug. Und die beiden hatten eine tiefgehende Verbindung.
»Ich habe Durst.« Sofort stand Fen auf, holte ihr aus der Mini-Bar Wasser zu trinken.
»Du bist in Sicherheit.« Er wollte, dass sie sich nicht aufregte, das war seine einzige Intention hinter so einer lächerlichen Aussage. Denn war sie wirklich sicher?
Der Satz kostete Ana ein Lachen, das erste, das ich von ihr hörte. Sie rutschte näher zu Soley, stützte sie. Beide Frauen hatten problemlos in dem breiten Sessel des Privatjets Platz.
»Gib uns das Wasser, und dann verzieh dich. Du bist nicht besser als alle anderen.« Uh, das dürfte gesessen haben, aber Fenrir widersprach nicht, folgte Anas Anweisungen. Sie kuschelte sich zu Soley, die schluckweise das Wasser trank. »Mein Kopf tut so weh.«
»Wahrscheinlich eine Rauchgasvergiftung.« Hatte ich nicht schweigen wollen? Eine richtige Vergiftung war beinahe unmöglich, wir waren nur wenige Minuten dem Rauch ausgesetzt gewesen. Ihr Zustand lag wohl eher an einer Kombination aus Adrenalin und Überforderung durch die Extremsituation.
Beide Frauen sahen mich an, die eine mordlustig, die andere unsicher, vernebelt. Soley stand komplett neben sich.
»Ich muss meine Augen wieder zumachen, mir ist so schlecht.«
»Habt ihr keinen Arzt hier?«
»Nein. Doktor Olsson wartet aber direkt in Stockholm am Flughafen auf uns.«
»Wann sind wir dort?« Ana zitterte, auch ihre Souveränität war nur gespielt, aufgebaut auf einem fragilen Gerüst.
»Keine Stunde mehr.«
Sie nickte nur, schloss Soley wieder fester in ihre Arme. »Atme und mach deine Augen zu, ich bin da.«
Ein paar Minuten lang beobachtete ich die beiden noch, dann wechselte ich meinen Platz, setzte mich zu Fen. Er war so schweigsam wie nie zuvor und ich wollte meinem Bruder beistehen, bei allem, immer und bedingungslos.
Als unser Flugzeug wenig später landete, kam direkt Doktor Olsson zu uns. Er nahm sich viel Zeit, um alle drei Frauen zu untersuchen, bevor er uns erlaubte, den Flieger zu verlassen.
Ich hatte genug. Genug von diesen schwächenden Gedankenfetzen. Wütend stand ich auf. Ständig holten mich Anas Blicke ein. Ich würde duschen und danach nach Stockholm fahren, ich brauchte andere Eindrücke, um mich abzulenken.