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Soley

»Ana hat heu­te Liam an­ge­lä­chelt, sie in­ter­es­siert sich für ihn.« Fen um­arm­te mich, ich fühl­te mich so ge­bor­gen bei ihm.

»Bist du dir si­cher?«

Mein Herz schlug schnel­ler bei dem Ge­dan­ken, dass sich Ana für je­man­den in­ter­es­sier­te. »Ja.« Er ver­grub sein Ge­sicht in mei­ner Hals­beu­ge. »Sab­berst du mir jetzt den teu­ren Pul­li voll?«

»Sehr wit­zig, klei­ne Son­ne.« Er küss­te mich durch den bron­ze­fa­r­be­nen Woll­stoff auf die Schul­ter. Die­se klei­ne Be­rüh­rung reich­te aus, um mich zum Glü­hen zu brin­gen. »Hast du heu­te noch et­was vor, ma­len’koye sol­nys­h­ko?«

Er raun­te mir die­se Fra­ge so süß und un­schul­dig zu. Aber wenn ich ei­nes wuss­te, dann, dass Mor­g­onstir­nas al­les an­de­re als un­schul­dig wa­ren, kein Hauch an ih­nen war das. Und da er mir seit zwei Wo­chen echt we­nig sei­ner Zeit schenk­te, war das wohl eine Art Wie­der­gut­ma­chung?

»Mal über­le­gen …«

Da kit­zel­te er mich. »Komm, wir ma­chen einen Aus­flug.«

»Wie?« Ich run­zel­te mei­ne Stirn, sah ihn an, er nahm mei­ne rech­te Hand, zog mich fort vom Kiess­trand, vom See, in die Rich­tung der Ga­ra­gen. »Für wie lan­ge?«

»Ich möch­te dir ein Na­tur­schau­spiel zei­gen, auch wenn es nicht neu für dich sein wird. Du siehst die­se Him­mels­er­schei­nun­gen in Is­land ja auch, aber … Lass uns nach Kiru­na flie­gen.«

»Ki-was?«

»Kiru­na.«

»Okay.«

»Okay okay?«

»To­tal okay.«

»Ich habe schon für dich ge­packt.«

»War­um fragst du dann?«

»Ich bin höf­lich.«

»Bist du nicht, du bist ein Wolf.« Das kos­te­te ihn ein La­chen. »Ist es nicht ko­misch, wenn wir ein­fach ge­hen?«

»Liam ist bei Ana, er weiß Be­scheid. Wir kom­men in drei Ta­gen zu­rück. Und Ru­rik ist in Mos­kau.«

»Trotz­dem möch­te ich mich noch ver­ab­schie­den.«

»Also gut, klei­ne Son­ne. Aber wenn wir den Flug ver­pas­sen …«

»Du hast si­cher dei­nen Pri­vat­jet vor­ge­se­hen, Fen.«

Sein Grin­sen ließ mich die Au­gen ver­dre­hen. Aber ich be­harr­te dar­auf, mich or­dent­lich von mei­ner Freun­din zu ver­ab­schie­den, auch wenn ich nur we­ni­ge Tage fort sein wür­de.

Ich be­trat die Vil­la. Die­sen per­fek­ten Rü­ck­zugs­ort, der ei­nem schon mit sei­ner mas­si­ven Bau­wei­se so viel Schutz bot. Aber als ich Ana im Wohn­zim­mer im Erd­ge­schoss auf der brei­ten Couch sit­zen sah, wuss­te ich, dass nur äu­ße­r­lich al­les gut war. Sie sah bleich und müde aus.

»Ana, ähm …«

»Ja?« Ihre Höf­lich­keit war nur Fas­sa­de, am liebs­ten hät­te sie ge­schri­en.

»Fenr­ir möch­te mit mir für drei Tage aufs Land fah­ren, flie­gen, kei­ne Ah­nung, ir­gend­was in die Rich­tung. Hältst du es hier drei Tage ohne mich aus? Ich mei­ne, es bleibt nur der Wau­wau zu­rück.«

Bei mei­nem letz­ten Satz piks­te mich je­mand von hin­ten in mei­ne rech­te Sei­te. »Das ist nicht nett, Kätz­chen.« Liam. Wer sonst.

»Ja, ist okay.« Ana hat­te so schnell geant­wor­tet, nicht nach­ge­fragt.

Liam fläz­te sich ans an­de­re Ende der brei­ten Couch, leg­te sei­ne Füße hoch. Er trug eine glän­zen­de Schüs­sel ge­füllt mit duf­ten­dem Pop­corn. »Schau nicht so, je­mand muss sich ja um Ana küm­mern. Das ist Pop­corn. Ich ver­gif­te sie nicht.«

»Aha. Al­les klar. Dann … Ich habe mein Smart­pho­ne da­bei.« Nahm es schnell und un­auf­fäl­lig vom Ka­min­sims. »Du kannst mich je­der­zeit an­ru­fen.«

»Ich pas­se auf sie auf, Kätz­chen.«

»Die Angst hab ich auch.« Wir grins­ten, Small­talk. Dann beug­te ich mich zu Ana, küss­te sie kurz auf die Lip­pen. »Ist es wirk­lich okay?«

»Ja. Tu nichts, was ich nicht auch in mei­nem letz­ten Le­ben ge­tan hät­te.« Sie zwin­ker­te mir zu.

Liam schnapp­te mei­ne rech­te Hand, hielt mich, zog mich zu sich. »Ab­schieds­kuss?«

»Hm, ich weiß nicht, ob du heu­te ar­tig ge­nug warst …«

Wei­ter kam ich nicht, denn er ver­sie­gel­te mei­ne Lip­pen mit sei­nen. Di­rekt vor Ana, mir schoss die Fa­r­be ins Ge­sicht, denn das war nicht ein­fach nur ein Ab­schieds­kuss, er küss­te mich, als hät­ten wir uns ewig nicht be­rührt.

»Okay, Ca­sa­no­va, ich den­ke du hat­test dei­nen An­teil.« Fen zog mich von ihm weg. »Wir soll­ten zum Flug­ha­fen.«

»Fenr­ir?«

Er dreh­te sich noch mal zu sei­nem Bru­der um. Bei­de ver­fie­len in einen selt­sa­men Still­stand, als wür­den sie ein ima­gi­näres Re­vier ab­ste­cken. Die Ener­gie um sie her­um ver­än­der­te sich, wur­de kurz an­ge­spannt, doch Liam schob bei­de Hän­de in sei­ne Ho­sen­ta­schen und frag­te so be­lan­g­los nach dem Schick­sal ih­rer Ge­fan­ge­nen, als gin­ge es um das Wet­ter.

»Was ist mit Na­ta­lia?«

»Al­les bleibt so, wie wir es ab­ge­spro­chen ha­ben.«

»Du bist dir si­cher?«

Die Luft wur­de spür­bar küh­ler. Was pas­sier­te da ge­ra­de? Wie konn­te eine Si­tua­ti­on in fünf Se­kun­den von lo­cker zu dra­ma­tisch wech­seln? Das hier war doch nicht der Ta­cho ei­ner ih­rer Sport­wa­gen?

»Ab­so­lut.«

»Be­ru­hi­gend, Fen.« Liam ver­dreh­te sei­ne Au­gen und schüt­tel­te sei­nen Kopf.

»Du weißt, falls Ru­rik Esme fin­det, wäre es am ein­fachs­ten, die bei­den ge­gen­ein­an­der zu tau­schen.«

»Russ­land wird es uns nie ein­fach ma­chen. Wir muss­ten vier Peil­sen­der aus Na­ta­lia schnei­den.«

»Ja, ich weiß, war da­bei.« Nach wie vor kam mir Liam ge­reizt vor. Doch Fenr­ir sag­te nichts mehr. »Na dann, habt es schön.«

Fen nick­te sei­nem Bru­der und Ana zu, dann ver­lie­ßen wir Mor­g­onstir­nagår­den, wähl­ten in der Ga­ra­ge den Lam­borg­hi­ni. Ich ent­spann­te mich erst, als ich es mir auf dem Bei­fah­rer­sitz ge­müt­lich mach­te. Das Ge­spräch zwi­schen den Brü­dern war selt­sam ge­we­sen.

Fen star­te­te den Mo­tor, ich schnall­te mich an. Als wir uns auf der Land­s­tra­ße in den spär­li­chen Ver­kehr ein­ge­glie­dert hat­ten, muss­te ich ihn ein­fach fra­gen.

»Sag, hast du kei­ne Angst, dass Na­ta­li­as Va­ter, also Eriks Va­ter …«

»Er wird es nicht wa­gen, ihr et­was zu tun, oder uns an­zu­grei­fen, so­lan­ge sei­ne Toch­ter in un­se­rer Hand ist. Sie ha­ben dies­be­züg­lich eine Vi­deo-Bot­schaft von mir be­kom­men.«

»Okay. Und was pas­siert da in eu­rer Brat­wa-Zu­cke­r­welt nach sol­chen Bot­schaf­ten?«

Das ließ ihn grin­sen. »Brat­wa-Zu­cke­r­welt, du bist wirk­lich ein bö­ses Mäd­chen. Wir ver­han­deln, klei­ne Son­ne.«

»Ver­han­deln?«

»Ja.«

»Ihr ver­han­delt um Le­ben?«

»Der Be­los­sel­ski-Clan ahnt nicht, dass wir wis­sen, dass sie Esme ha­ben. Das ist un­ser Vor­teil. Sie glau­ben, wir ha­ben Na­ta­lia aus Ra­che mit­ge­nom­men, weil Erik und Jo­nas dich ent­führt ha­ben. Wir sind in Si­cher­heit, so­lan­ge sie bei uns ist. Gib uns noch die­se letz­ten fried­li­chen Tage, So­ley. Da­nach wird eine Art Höl­le über uns her­ein­bre­chen. Dar­um ist Ru­rik auch als, sa­gen wir, ver­deck­ter Er­mitt­ler oder Spi­on in Mos­kau. Er sieht sich al­les aus der Fer­ne an. Wenn wir heim­keh­ren, kommt auch er zu­rück, und dann ent­schei­den wir die nächs­ten Schrit­te.«

»Al­les ir­gend­wie klar. Eure Brat­wa-Zu­cke­r­welt ist ja echt le­gen­där. Und eine Art von Höl­le? Echt ver­lo­ckend, an dei­ner Sei­te zu sein.«

»Ich möch­te zwei Tage mit dir, al­lein.«

Was war das bit­te für eine Wen­dung? Wich er mei­nen An­spie­lun­gen aus? »Das ist ego­is­tisch.«

»Viel­leicht.« Er schenk­te mir ein wöl­fi­sches Lä­cheln und er­höh­te das Tem­po auf der Land­s­tra­ße.

Fen leg­te sei­ne Hand in mei­ne und Wär­me er­füll­te mich, mein skep­ti­sches Herz. Wahr­schein­lich bil­de­te ich mir die zwei­deu­ti­gen Aus­sa­gen in sei­nen Ant­wor­ten nur ein. Al­les war gut.

Ich be­ob­ach­te­te ge­dan­ken­ver­lo­ren das tä­to­wier­te Mus­ter auf sei­nen Fin­gern. Hät­te mir je­mand vor knapp zwei Mo­na­ten ge­sagt, dass ich mit ei­nem Kö­nig der nor­di­schen Un­ter­welt händ­chen­hal­tend auf einen Wo­chen­endtrip fah­ren wür­de, ich hät­te ihn für ver­rückt er­klärt.