In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ich träumte von meinem Vater, der sich lachend in einen Wolf verwandelte, um dann meine Mutter zu verschlingen, während meine Großmutter ihm mit der Blechdose auf den Kopf schlug. Als ich schweißgebadet erwachte, ergraute das Schwarz der Nacht bereits und verhieß den baldigen Tagesbeginn. An Schlaf war nicht mehr zu denken, denn meine Gedanken waren nicht müde zu kriegen. Wie war es möglich, bei meinem Vater einen Hauch der Gefahreskälte zu spüren, die ich auch bei der Begegnung mit den Spähern hatte? Was wusste er über Jissurim?
Mit einem Seufzer stand ich auf und sofort fiel mein Blick auf die hölzerne Schmuckschatulle, die mir Großmutter am Tag zuvor gegeben hatte. Die Kette meiner Mutter. Sie zu öffnen, wagte ich nicht. Die Mauern Galmuds schienen mir nicht sicher genug, um diese Kostbarkeit zu enthüllen. Ich würde es auf später verschieben. Die Hütte meiner Großmutter schien mir dazu ein geeigneterer Ort. Es war seltsam, so viele Jahre – Jahrzehnte – später etwas von dem Menschen zu hören, den man Mutter nannte. Mit dem man längst abgeschlossen hatte oder abgeschlossen zu haben geglaubt hatte.
Der penetrante Vogel vom Vortag holte mich in die Wirklichkeit zurück und erinnerte mich an das baldige Erwachen meines Vaters. Ich musste mich beeilen, wenn ich mich auf den Weg zu Großmutter machen wollte, bevor in Galmud das Tagesgeschäft begann und bevor mein Vater aufstand. Er würde nur unnötige Fragen stellen, über deren Antwort ich jetzt nicht nachdenken wollte. In aller Eile schnappte ich meine Umhängetasche, packte die Schmuckschatulle meiner Mutter hinein und schlüpfte in meine dunkle Jacke. Leise schlich ich aus meinem Zimmer, sah mit Erleichterung, dass das Zimmer meines Vaters noch verschlossen war, und suchte in der Küche nach etwas Essbarem, das in meiner Tasche verschwand. Erst als ich die Hüttentür hinter mir geschlossen und ein paar Meter zwischen mich und meinen Vater gebracht hatte, wagte ich wieder Luft zu holen. Die Anspannung, von ihm erwischt zu werden, war größer, als ich es mir eingestehen wollte. Die Worte meiner Großmutter hatten sich tief in meinen Kopf eingebrannt: Er ist nicht der, für den du ihn hältst! Ich konnte nichts damit anfangen, aber es schürte mein Misstrauen ihm gegenüber. Ob er etwas von den Spähern aus Jissurim wusste? So viele Fragen wirbelten in meinem Kopf herum wie Schneeflocken in einer Winternacht. Sie kamen nicht zur Ruhe und mein einziges Bedürfnis war, so schnell wie möglich zu Großmutter zu gelangen.
Die ersten Sonnenstrahlen begannen das verbliebene Grau der Nacht zu verscheuchen und so war es leicht, durch das nun unbewachte Tor von Galmud zu schlüpfen. Die Angst vor der Nacht und deren unbekannten Wesen war bei den Menschen so groß, dass man den Eindruck bekommen konnte, als würde allein das Tageslicht vor Gefahren schützen. Wie unheimlich naiv Menschen doch sein konnten!
Trotz meiner Eile genoss ich den Lauf durch den Wald. Ich liebte es, hier draußen zu sein, fernab von Menschen. Ein kleines Stück Freiheit, auch wenn es nur eine Täuschung war. Aber selbst die war besser als keine. Die Luft im Wald roch besser als die hinter Mauern, der Himmel war blauer und ich liebte die Geräusche des Waldes, das Singen der Vögel, das Scharren und Rascheln der kleinen Waldtiere. Ich hasste das Eingesperrtsein hinter den Mauern, hasste die Angst, die unterschwellig überall zu spüren war, hasste die Hoffnungslosigkeit. Aber genau diesen Gedanken wollte ich nicht aufgeben. Dass es Hoffnung gab. Hoffnung auf etwas, das besser war als das hier. Irgendwo in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, gab es vielleicht etwas, das man »Leben« nennen konnte. Denn all dies hier war weit davon entfernt.
Ich bahnte mir meinen Weg durch den Wald, achtete nicht darauf, leise zu sein, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich es besser tun sollte. Denn auch am Tag waren die dunklen Wälder nicht sicher. Die meisten Bewohner waren sehr lichtscheu, ebenso wie die Wesen der Nacht – nur bei Dunkelheit wurden sie sichtbar, keiner wusste, was tagsüber aus ihnen wurde. Doch es gab genug andere Gefahren in diesem Wald. Die Gefürchtetsten waren die sogenannten Ausgestoßenen. Das Land Benoth hatte im Gegensatz zu Jissurim und Kadosch keinen König. Die Lebensinseln waren auf sich allein gestellt und jede hatte ihre eigenen Regeln, nach denen sie funktionierte. Dennoch hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine Art Gesetz entwickelt, das in nahezu allen Lebensinseln Geltung hatte, und das war das »Gesetz der Ausgestoßenen«. Dieses Gesetz beinhaltete im Wesentlichen zwei Verbote, bei deren Nichteinhaltung derjenige aus der Gemeinschaft der Lebensinsel ausgestoßen und auf immer verbannt wurde. Diese waren Mord und Hochverrat. Sollte man einem anderen das Leben genommen oder jemanden aus der eigenen Lebensinsel verraten oder hintergangen haben, wurde man mit einem Brandmal auf der Stirn gekennzeichnet und erhielt lebenslanges Verbot, sich je wieder einer Lebensinsel zu nähern oder gar anzuschließen. Das Brandzeichen auf der Stirn war Warnung und Abschreckung zugleich, eine Kennzeichnung auf Lebenszeit: Dieser Mensch ist gefährlich! Keiner wusste, wie viele es von diesen Ausgestoßenen gab. Wahrscheinlich überlebten die wenigsten von ihnen hier draußen länger als ein paar Wochen. Noch nie war ich einem berüchtigten Ausgestoßenen begegnet, aber wer wollte auch schon mit einem Mörder oder Verräter zusammentreffen?
Je näher ich der versteckt liegenden Hütte meiner Großmutter kam, desto mehr füllte sich der halbgraue Himmel mit hellen Streifen. Und die Sonne, und mit ihr Licht und Wärme, gewann die Oberhand im Kampf um die Herrschaft dieses Landes – zumindest für die nächsten zwölf Stunden.
Es wurde zusehends heller und ich spürte die Wärme auf meiner Haut. Zu gerne hätte ich kurz angehalten, um die kleine Schachtel meiner Mutter zu öffnen. Doch die vielen Fragen in meinem Kopf trieben mich voran. Wenn es jemanden gab, der Antworten darauf wusste, dann meine Großmutter.
Das letzte Stück des Weges führte durch dichter bewaldetes Gebiet, sodass es mir zunächst nicht auffiel, als die Wärme verschwand.
Doch dann bemerkte ich die Gänsehaut, die mir die Beine hochkroch und mich vereinnahmte wie ein ungebetener Gast. Ich wurde unwillkürlich langsamer. Auch meine Hände begannen zu zittern. Meine Atmung wurde schneller und meine Augen versuchten angestrengt, den Ursprung der Kälte im Dickicht des Waldes auszumachen. Als der kalte Wind einsetzte, blieb ich abrupt stehen. Panik stieg in mir auf. Er schien direkt aus der Hütte meiner Großmutter zu kommen, als wäre sie ein riesiger Schneesturm. Geduckt lief ich die letzten Meter bis zu ihrer Hütte heran. Mein Herz raste und ich musste mich zusammenreißen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Die Sorge um Großmutter wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war, ich wusste nur: Ich musste da rein! Noch nie war die Hütte meiner Großmutter entdeckt worden. Dennoch war sie sich immer der Gefahr bewusst gewesen, die es mit sich brachte, hier draußen allein zu wohnen. Aber es war ihre Entscheidung gewesen. Und bisher war es immer gut gegangen. War es vielleicht meine Schuld? War ich gestern zu unvorsichtig gewesen? Doch wer konnte ein Interesse daran haben, ihr etwas anzutun? Nur weniges im Leben war wichtig genug, dass man sich darum sorgte. Meine Großmutter gehörte definitiv dazu!
Ich zwang mich dazu, meinen Atem flach zu halten, und kroch, so leise ich konnte, auf allen vieren auf das nächste Fenster zu. Vorsichtig spähte ich ins Innere. Es war dunkel und ich konnte zunächst nichts erkennen. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass das Zimmer leer war. Aber es war verwüstet, nichts lag mehr da, wo es hingehörte. Hier hatte jemand etwas gesucht. Ob er wohl fündig geworden war? Geduckt schlich ich zu dem Baum, der am nächsten der Hütte stand und der seine Zweige wie Arme um die Hütte gelegt hatte, als ob er sie beschützen wollte. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen.
Ich kletterte ihn hinauf und schob mich langsam auf dem Bauch liegend auf einem Ast nach vorne, sodass ich durch das Fenster in die obere Kammer spähen konnte. Je näher ich dem Fenster kam, desto intensiver wurde die Kälte. Als mein Atem kleine Rauchwölkchen bildete, wusste ich, dass ich den Ursprungsort der Kälte erreicht hatte. Nun war ich der Gefahr zum Greifen nah. Endlich hatte ich das Fenster erreicht. Vorsichtig blickte ich hinein. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Genau wie die Wohnstube unten war das Schlafzimmer meiner Großmutter das reinste Chaos. Wer auch immer hier gewesen war, er hatte gründliche Arbeit geleistet. Auf den ersten Blick konnte ich niemanden im Raum erkennen. Doch dann hörte ich die Stimmen.
»Hast du auch wirklich überall gesucht? Es muss hier irgendwo sein!« Die Stimme klang gereizt und ungeduldig. Ich versuchte, mich nicht mehr zu bewegen und so lautlos wie möglich zu atmen. Hoffentlich entdeckten sie mich nicht. Ein Teil des Baumes zu werden, wäre jetzt gut, dachte ich. Zumindest passten wir farblich gut zusammen.
»Ja, mein Herr, es ist nicht auffindbar. Sie muss es rechtzeitig fortgeschafft haben!«
Ich erschrak so sehr, dass ich fast vom Baum gefallen wäre. Während ich die erste Stimme nie zuvor gehört hatte, kannte ich diese Stimme nur allzu gut. Auch wenn wir nie viele Worte wechselten, so würde ich seine Stimme überall heraushören. Es war die meines Vaters!
Mein Herz raste, als wollte es eilends von diesem Ort verschwinden, so weit weg wie möglich. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen.
»Nun gut! Wir müssen nur zusehen, dass das Mädchen es nicht in die Finger bekommt«, sagte die ungeduldige Stimme.
»Ich werde dafür sorgen, dass das nicht geschieht, mein Herr!«
Noch nie hatte ich meinen Vater so unterwürfig reden hören. Für mich war er immer der gewesen, der sich von niemandem etwas sagen ließ. Der andere herumkommandierte. Mich.
»Natürlich wirst du das! Sie muss verschwinden, genau wie diese alte Frau hier!«
»Verschwinden? Ich dachte …« Er fing an zu stammeln. »… dachte, es würde reichen, sie zu beobachten?«
»Papperlapapp«, sagte die fremde Stimme, diesmal noch gereizter. »Nimm dich zusammen, Jetur. Du wusstest von Anfang an, dass beaufsichtigen allein irgendwann nicht mehr reichen würde. Es wird zu gefährlich … Sie muss verschwinden!«
Diese letzten drei Worte kamen hart und zischend. Sie klangen kalt, in einer Kälte, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Mein Herz zog sich zusammen und ich konnte einen endlosen eisigen Augenblick lang nicht atmen.
»Jawohl, mein Herr. Meine Tochter wird verschwinden!« Die Bestimmtheit in seiner Stimme ließ mich erschrecken und legte sich wie würgende Hände um meinen Hals.
»Setz die Jäger auf sie an, gleich heute noch. Und nenn sie nicht immer deine Tochter. Du weißt genau, dass sie das nicht ist!«
»Jawohl, mein Herr. Reine Gewohnheit! Verzeihen Sie, mein Herr! Es wird nicht wieder vorkommen.« Die Stimmen wurden leiser und Schritte gingen knarrend die alte Holztreppe hinunter.
Die Welt hörte auf sich zu drehen. Aus den Fugen geraten, zertrümmert und leblos lagen sie da – die Bruchstücke dessen, was sich einmal meine Welt genannt hatte. Zerstört. Verraten. Wie konnte das sein? Was sollte man fühlen, wenn alles, was man je zu wissen geglaubt hatte, Betrug war? Sie war nie besonders innig gewesen, die Beziehung zu meinem Vater. Vater. Aber er war immerhin mein Vater gewesen. Und doch war er es nicht. Und sie hatten meine Großmutter umgebracht. Mein Herz zerbrach in tausend Stücke, die nie im Leben wieder jemand würde zusammensetzen können. Wie sah eine Welt aus, aus der alle Farben entfernt wurden? Wie ein Leben ohne die Menschen, die immer da waren? Die bitteren Tränen, die aufsteigen wollten, verstopften mir die Kehle. Wut. Trauer. Verzweiflung. Nein, mehr, viel mehr als das.
Das Knarren der Hüttentür und die erneute Zunahme der Kälte brachten mich in die Wirklichkeit zurück.
Jeden Moment würden die beiden Männer die Hütte verlassen. Ich wollte nicht erfahren, was sie mit mir anstellen würden, wenn sie mich jetzt erwischten. In aller Eile stieß ich gegen den morschen Rahmen des Fensters, der zum Glück gleich nachgab, und stürzte mich kopfüber in die Hütte hinein. Mit der Wade blieb ich am Fensterrahmen hängen und fluchte. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich und zugleich rann es mir warm das Bein hinunter. Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei und hoffte inständig, dass ich nur für meine Ohren so laut gewesen war. Hektisch zog ich mein Bein in die Hütte. Mehrere Sekunden lag ich bewegungslos auf dem Bett meiner Großmutter und lauschte auf herannahende Schritte oder andere verdächtige Geräusche, die darauf hindeuteten, dass sie mich bemerkt hatten. Als ich nichts dergleichen hörte, richtete ich mich auf und wagte einen kurzen Blick aus dem Fenster. Durch die Zweige des Baumes hindurch konnte ich den kahlen Hinterkopf meines Vaters sehen. Nein, nicht meines Vaters. Des Fremden, der mein Vater gewesen war. Sein Gegenüber konnte ich von meiner Position aus nicht erkennen. Ich lehnte mich erleichtert gegen die Wand. Sie hatten mich nicht entdeckt.
Die Leere in meinem Kopf war erdrückend, ich war unfähig etwas zu fühlen. Nur das Pochen in meiner Wade war zu spüren. Ich wagte nicht, mein Bein anzuschauen. Hoffentlich sah es nicht so schlimm aus, wie es sich anfühlte. Denk nach, befahl ich mir. Aber die Leere zerschmetterte jeden Gedanken, der sich anschleichen wollte, wie eine Fliege. Erst einmal abwarten, bis die beiden Männer verschwunden waren.
Die plötzliche Wucht der erneuten Kälte traf mich völlig unvorbereitet. Sie brach mit einer solchen Kraft und Schnelligkeit auf mich ein, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Dann erst bemerkte ich den Rauch. Ich kroch zur Tür, die zur Treppe nach unten führte. Als ich sie öffnete, schlugen mir zugleich Hitze und Kälte entgegen, dass mir die Luft weg- und das Herz stehen blieb: Sie hatten die Hütte in Brand gesteckt. Der Rauch und die Wut ließen mir Tränen in die Augen steigen. Mein ganzer Körper zitterte unter der Kälte, die mich in der Hitze dieses Feuers einnahm. Raus, schrie alles in mir, raus hier! Ich humpelte zurück zum Fenster. Doch dieser Weg nach draußen war versperrt. Der Baum brannte bereits lichterloh, außerdem machte es mir mein verletztes Bein unmöglich, nach unten zu klettern. Hier oben gab es nur dieses eine Fenster. Schnell zog ich mir die Kapuze über, band den Schal über Mund und Nase und hüpfte auf meinem gesunden Bein die Treppe hinunter. Die Kälte wurde in der zunehmenden Hitze immer stärker und schon nach wenigen Sekunden konnte ich nicht mehr aufhören zu husten. Der Rauch biss in meinen Augen und nahm mir die Luft zum Atmen. Auf den unteren Treppenstufen angekommen konnte ich schon kaum mehr stehen. Ich sah das Fenster auf der Hinterseite der Hütte. Der Weg zur Vordertür war durch eine Feuerwand versperrt.
Der erste Deckenbalken gab unter der Last des Feuers nach und stürzte brennend zu Boden. Fast blind humpelte ich Richtung Fenster, als der nächste Feuerbalken mich knapp verfehlte. Noch drei Schritte, dann endlich hatte ich das Fenster erreicht. Meine Finger fühlten den Fenstergriff und rüttelten daran. Meine Lungen brannten und der Husten schüttelte meinen Körper.
Dann fiel die Kälte über mich her wie ein ausgehungerter Löwe, um mich zu verschlingen. Ich konnte meine Beine nicht mehr fühlen. In Sekundenschnelle schien eine Eisschicht meinen Körper zu überziehen und mich bewegungsunfähig zu machen. Wie in Zeitlupe spürte ich noch, wie ich fiel. Dann wurde alles schwarz.