Meine Gedanken liefen rückwärts. Im Schnelldurchlauf erlebte ich alle Momente mit Deven erneut. Diesmal im Lichte dieser neu gewonnenen Erkenntnis. Im Licht der Wahrheit. Er war kein Ausgestoßener. Er selbst hatte sich zu einem solchen gemacht.
Seine Abgeschiedenheit, seine abweisende Art, seine anfängliche Unverschämtheit waren letztlich keine verdorbenen Charakterzüge, sondern lediglich Schutzmechanismen, um Menschen von sich fernzuhalten, um Menschen vor sich zu schützen. Und seine immer wieder unterschwellig zu spürende Wut war nur Auswuchs seines Selbsthasses und seiner Unfähigkeit, sich selbst zu verzeihen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie ernst er es gemeint hatte, als er gesagt hatte, er wäre eine Gefahr für mich. Er hielt sich wirklich für eine Gefahr. Mir wurde bewusst, wie sehr er seine Gabe hasste, nicht nur seine Gabe, sondern sich als Ganzes. Er wollte immer nur helfen, Gutes tun, das lag ihm im Blut – er war der Gute in der Geschichte. Aber die Geschichte hatte kein Happy End, sondern eine Tote am Ende, für die er sich die Schuld gab. Deven hatte sich selbst zum Mörder erklärt.
Ich hatte das Gefühl, ihn das erste Mal wirklich zu sehen, ohne all die Schleier aus Lügen und Vertuschung, die mir die Sicht auf ihn versperrt hatten. Jetzt sah ich das erste Mal den echten Deven. Einen gebrochenen Menschen mit tiefem Selbsthass und der Unfähigkeit sich zu verzeihen. Er blickte auf den Boden. Seine struppigen Haare fielen ihm ins Gesicht, verdeckten das Brandzeichen der Ausgestoßenen, das er sich selbst zugefügt hatte. Ich verstand auf einmal nicht mehr, wie ich ihn so hatte verabscheuen können. Jetzt empfand ich Mitleid für ihn und seinen Schmerz und all das, was er mitgemacht hatte. Mitleid und noch etwas anderes, das ich nicht definieren konnte.
Schließlich ging ich auf ihn zu und legte meine rechte Hand mitten auf seine Brust. Ich spürte sein Herz gegen meine Hand klopfen. Ich sah zu ihm auf. Doch er blickte nach wie vor von mir weg.
Sieh mich an!, sprachen meine Gedanken, so laut sie konnten. Ich wusste, er hörte mich, denn sein Herz schlug schneller. Dennoch rührte er sich nicht. Dev, bitte, sieh mich an!
Endlich, unendlich langsam, hob er den Kopf und sah mich an. Mit meiner Linken strich ich ihm seine Haare aus dem Gesicht. Wieder war ich fasziniert von seinen zutiefst dunklen Augen und es überraschte mich, dass dunkel in diesem Fall etwas Gutes und Warmes bedeutete. Einige Herzschläge lang sah ich ihm einfach nur in die Augen, als wäre das die Lösung aller Dinge, als würde das allein allen Schmerz, allen Selbsthass, alles Misstrauen hinwegnehmen können. Und einen Moment lang war da ein Gefühl irgendwo tief in mir drin, das mir sagte, dass es tatsächlich so war, dass hierin die Antwort auf alles zu finden war. Doch ich konnte es nicht greifen und beim nächsten Wimpernschlag hatte ich es schon wieder verloren.
»Du bist kein Mörder, Deven!«
»Ach, was weißt du schon?«, sagte er mit tränenerstickter Stimme und schüttelte seinen Kopf.
Mehr als du denkst und jetzt sieh mich wieder an!
Als er mich wieder ansah, waren seine Augen mit einer glasigen Schicht überzogen. Sie erinnerten mich an einen dunklen See im Mondschein.
»Du bist nicht schuld!« Eine Träne stahl sich aus seinem Auge und rann stockend über seine Wange, als wäre sie sich unsicher den richtigen Weg zu finden, als hätte sie das noch nie gemacht. Diese Erkenntnis traf mich. Er hatte noch nie um sie geweint.
»Du bist nicht schuld, Deven! Es ist nicht deine Schuld, dass sie gestorben ist.«
Ich konnte nicht anders, als diese Worte immer und immer wieder zu wiederholen. Sein Schmerz und seine Trauer waren jetzt überall, sie umgaben uns, schlossen uns ein.
Lass es zu! Lass es raus! Ich bleibe!
»Es ist nicht deine Schuld, Dev!«
Ich sah es zuerst in seinen Augen, als der Damm in ihm brach. Im nächsten Moment sank er lautlos schluchzend auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Da brach dieser große starke junge Mann vor meinen Augen zusammen. Der, der mich weite Strecken durch den Wald getragen hatte, der eine ganze Nacht hindurchrennen konnte, ohne dass ihm die Luft ausging, der sich eine Baumvilla aus mehreren Stockwerken direkt unter den Sternen erbaut hatte. Ich ging in die Hocke und umschloss ihn mit meinen Armen, barg seinen Kopf an meinem Hals, hielt seinen Kopf, strich über seinen Rücken.
Meine Großmutter hatte einmal zu mir gesagt: »Schmerz kann man nicht bekämpfen. Schmerz muss man zulassen und aushalten. Dann macht er einen stärker.«
Ich wusste nicht, wie lange wir so saßen, zusammengesunken, weinend, den Schmerz aushaltend – bis seine Tränen irgendwann versiegten. Wir sagten kein Wort. Das war auch nicht nötig. Wir ließen es einfach nur zu.
Plötzlich schrak ich von einem Geräusch hoch. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, bis mir bewusst wurde, dass wir eingeschlafen waren. Wir lagen ineinander verschlungen auf dem Waldboden an einem Baum. Er lag schlafend mit seinem Kopf in meinem Schoß. Einen Moment lang konnte ich ihn nur anstarren. Wie friedlich und zufrieden er im Schlaf aussah – und so wunderschön. Ich wusste nicht, wie lange wir geschlafen hatten. Es dämmerte bereits und die Sonne würde in den nächsten Minuten diesem Land den Rücken zukehren.
Da hörte ich das Geräusch wieder. Ein Kälteschauer überlief mich. Sofort schlug Deven die Augen auf. Im nächsten Moment zerriss ein markerschütternder Schrei die abendliche Stille des Waldes. Er klang beinahe unnatürlich.
Ich sprang auf und versuchte mich zu orientieren, von wo der Schrei gekommen war. Es musste ganz in der Nähe gewesen sein.
Und dann sah ich sie. Zwei Männer im Halbdunkel des Waldes, die eine zusammengesunkene Gestalt in ihrer Mitte durch den Wald zerrten. Der Kopf hing kraftlos nach vorne und die Füße schleiften den Boden entlang. Es war ein junger Mann, beinahe noch ein Junge. Ich war mir sicher, dass er es war, der eben geschrien hatte. Bestürzung überkam mich. Was hatten diese Männer mit ihm vor? Ich konnte ihn nicht einfach tatenlos seinem Schicksal überlassen.
Deven packte mich am Arm und zog mich zu sich herunter auf die Knie. »Nein!«, flüsterte er an mein Ohr. »Rühr dich nicht!«
»Aber wir müssen ihm doch helfen!«, flüsterte ich zurück.
»Du kannst ihm nicht helfen!« Devens Blick war eindringlich.
»Aber …«, versuchte ich es noch einmal, doch er ließ mich nicht ausreden.
»Keylah! Er hat gerade das Brandzeichen der Ausgestoßenen bekommen! Sie haben ihn gebrandmarkt!«
Ich hielt mir schockiert die Hand vor den Mund, als ich an den furchtbaren Schrei denken musste.
»Es gibt nichts, das du jetzt noch für ihn tun könntest.«
Ich sah den dreien nach und fragte mich, was der Junge getan haben mochte, dass er in seinem Alter schon ausgestoßen wurde. Das Gesetz der Ausgestoßenen verschonte auch die Kinder nicht. Wie grausam unsere Welt doch war.
Die Gestalten verschwanden schnell aus meinem Sichtfeld ins Dickicht des Waldes. Die Dunkelheit nahm minütlich zu, der Tag raste seinem Ende entgegen.
Da legte Deven seine Hand auf meine Schulter. »Los, wir folgen ihnen!«
»Was hast du vor? Ich dachte, wir können ihm nicht helfen?!«
»Können wir auch nicht. Aber sie können uns helfen!« Er nahm meine Hand und zog mich mit. »Sie werden uns den Eingang ins Tal zeigen!«
Leichtfüßig und mit so viel Abstand wie möglich folgten wir ihnen durch das Halbdunkel des Waldes. Deven ließ keinen Moment lang meine Hand los. Ich genoss diese Berührung, die so viel mehr war als ein bloßes Mittel, sich im Dunkel des Waldes nicht zu verlieren. Und ich spürte, dass es ihm genauso ging. Etwas hatte sich verändert zwischen uns. Ich kannte dieses Etwas nicht, hatte so was noch nie erlebt und konnte ihm bisher keinen Namen geben. Ich wusste nur eines: Es gefiel mir. Doch gleichzeitig gingen sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf los und warnten mich. Vor zu viel Nähe, zu viel Unvorsichtigkeit, zu viel Sympathie.
Schlagartig endeten die Bäume um uns herum und wir fanden uns auf einer Anhöhe wieder. Deven zog mich schnell in die Knie in den Schutz eines Gebüsches.
»Warum gehen wir nicht weiter?«, flüsterte ich. »Wir verlieren sie noch!«
Deven drückte meine Hand ein wenig fester. »Wir sind da! Sieh nur!« Er bog die Äste unseres Verstecks ein wenig zur Seite und die Aussicht, die sich mir bot, war atemberaubend. Vor uns tat sich ein riesiges Tal auf. Am anderen Ende sah man die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Meine Augen folgten den drei Gestalten, die inzwischen fast unten angekommen waren.
»Wieso haben sich die Ausgestoßenen eigentlich in einem Tal niedergelassen? Wenn sie angegriffen werden, sind sie hier doch leichte Beute«, überlegte ich.
Deven lachte leise. »Glaub mir, die sind hier mehr als sicher. Kein Mensch oder Tier wäre so dumm, sie anzugreifen. Das hier ist die Löwengrube unserer Zeit.«
Meine Augen flogen über das Bild, das sich mir bot. Die Abenddämmerung ließ das Tal wie ein dunkles Loch erscheinen. Ein riesiger Schlund, der darauf wartete, ein neues Opfer zu verschlingen. Die Geräusche, die daraus hervordrangen, waren ekelerregend und grauenhaft. Im Tal brannten viele Feuer und das Rot der untergehenden Sonne tat sein Übriges dazu – es war ein gespenstischer Anblick.
»Und du bist sicher, dass wir uns da hineinwagen sollten?«
»Nein!«, entgegnete er bestimmt. »Ich gehe! Du wirst hier auf mich warten!«
Empört sah ich ihn an. »Kommt überhaupt nicht in Frage! Vergiss es!« Wie kam er nur auf die Idee, ich würde ihn alleine gehen lassen?
»Keylah, das da unten ist der größte Abschaum des Landes.«
Ich sah ihm fest in die Augen. »Ich habe keine Angst vor denen!«
»Ich weiß, dass du keine Angst hast! Aber wir müssen auch realistisch sein. Ich alleine falle weniger auf als wir zusammen. Abgesehen davon: Ich trage das Zeichen der Ausgestoßenen.«
Resigniert schaute ich ihn an und musste zugeben, dass da etwas Wahres dran war.
»Außerdem«, setzte er noch leiser hinzu, »im Gegensatz zu dir habe ich Angst.« Er nahm mein Gesicht in seine großen, warmen Hände. »Um dich.«
Einen Moment lang stockte mir der Atem. Ich spürte nur noch seine Hände und die Welt bestand einzig aus den Tiefen seiner Augen. »Warte hier auf mich, versprich es mir.«
Fast schon mechanisch nickte ich und erst, als er lächelnd »Danke!« murmelte, wurde mir bewusst, was ich ihm gerade versprochen hatte. Was stellten seine Augen mit mir an, dass ich solche Versprechen gab?
»Aus Rudis Gedanken weiß ich ziemlich genau, wo ich den Ausgestoßenen finden kann, der deine Kette von ihm erworben hat. Ich werde ihn finden und die Kette zurückholen. Und du wirst hier auf mich warten.«
Sicherheitshalber machte sich Deven erst auf den Weg, als die Dunkelheit das Tal völlig umschlossen hatte. Er hatte mir einen Platz im dichtesten Gebüsch gesucht, wo ich sitzen und mich ruhig verhalten sollte, bis er zurückkehrte.
Ich hasste das Gefühl, ihn gehen zu lassen und hilflos auf seine Rückkehr warten zu müssen. Als er sich erhob, um zu gehen, ergriff ich schnell seine Hand. »Deven«, flüsterte ich und wusste auf einmal nicht mehr, was ich sagen wollte. Es gab so vieles, was wir noch nicht gesagt hatten, so vieles, was in den letzten Tagen und Stunden passiert und entstanden war. So vieles, das ich nicht in Worte fassen konnte. Ein Gefühl in mir, als würde mein Herz entzweireißen, wenn er mich verließe.
»Ich weiß!«, flüsterte er. Dann drückte er meine Hand und ging.
In der Dunkelheit verlor ich ihn trotz Mondscheins schnell aus den Augen. Im Tal verloschen nach und nach die Feuer. Die dort unten hatten wohl keine Angst vor ungebetenen nächtlichen Gästen. Für Deven hoffte ich, dass es wirklich so war. Ihre Unaufmerksamkeit konnte uns nur recht sein.
Ich aß die letzten unserer gesammelten Früchte und stellte mich auf eine lange Nacht ein. Ich war es gewohnt, alleine zu sein. Seit ich denken konnte, hatte ich die Dinge alleine gemacht. Wenn ich in einer Sache gut war, dann im Alleinsein. Doch warum, fragte ich mich, als ich in dieser Nacht in jenem Gebüsch am Rande zum Tal der Ausgestoßenen saß und auf Devens Rückkehr wartete, warum fiel mir das Alleinsein auf einmal so schwer? Die Einsamkeit war mir immer lieber gewesen als die Anwesenheit von Menschen. Menschen hielt ich lieber von mir fern. Was hatte sich geändert? Er war aufgetaucht. Er hatte alles verändert. Er hatte mich verändert. Weil er anders war als die anderen. Er sah mich nicht als das bemitleidenswerte Wesen, dessen Mutter gestorben war, als die Einzelgängerin, als die, die anders war. Denn er war selbst anders. Er sah mich. Keylah. Und trotz dem, was er sah, lief er nicht von mir weg. Er blieb. Mehr noch. Er riskierte sogar sein Leben für mich. Jetzt, in diesem Moment.
Der Anflug eisiger Kälte traf mich unvorbereitet und riss mich hart aus meinen Gedanken. Ich erstarrte. Unfähig mich zu rühren, hoffte ich zunächst, die Gefahr würde vorbeiziehen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Intensität der Kälte nahm zu. Und dann hörte ich leise Stimmen.
»Bist du sicher?«, flüsterte die eine, die einem jüngeren Mann zu gehören schien.
»Natürlich! Und nun komm schon!« Eine Frauenstimme, sie musste mindestens vierzig sein.
»Ich denke immer noch, es wäre besser hier zu warten, bis er wieder herauskommt.« Der Mann klang unsicher, vielleicht sogar ängstlich.
»Der Auftrag war doch eindeutig«, erwiderte die Frau ungeduldig. »Ihn beim Käufer der Kette abfangen und zum verabredeten Treffpunkt bringen.«
»Ich verstehe nicht, was der ganze Aufwand soll.«
»Na, was denkst du? Niemand greift ihn an, ohne dass es Folgen hat. Eine solche Tat lässt Rudi nicht ungestraft. Benutz einfach deine Waffe zum richtigen Zeitpunkt. Und nun komm!«
Murrend folgte der junge Mann der Frau und die beiden machten sich an den Abstieg ins Tal. Sie waren flink und schnell.
Das Blut in meinen Adern gefror und erst als sie fast unten waren, wagte ich mich zu bewegen.
Panik stieg in mir auf. Sie waren auf der Suche nach Deven! Keiner suchte ungefragt den Händler auf, ohne dass es Folgen hatte, hatte mir Deven erklärt. Sein Angriff auf Rudi war mehr als ungefragt gewesen. Und das alles nur wegen mir und meiner Kette!
Deven! Komm da raus!
Meine Gedanken überschlugen sich. Was, wenn er mich nicht hören konnte? Oder nicht rechtzeitig fliehen? Ich konnte hier nicht tatenlos sitzen, während diese beiden Abgesandten Rudis auf der Suche nach ihm waren.
Auf der Erde fand ich ein Stück Kohle. Ich steckte es ein, kroch aus der Hecke und machte mich geduckt an den Abstieg. Als ich fast unten war, holte ich die Kohle aus der Tasche. Schnell malte ich mir ein Zeichen auf die Stirn, öffnete meine Haare, sodass sie ins Gesicht fielen, und hoffte, dass mich niemand allzu genau anschaute. Er hatte mir das Leben gerettet, nicht nur einmal, ich würde ihn jetzt nicht im Stich lassen. Ich zückte das Messer und versteckte es in meinem Ärmel. Dann holte ich tief Luft und betrat das Tal der Ausgestoßenen.