16. Kapitel

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Angst ist überall. Seit Anbeginn begleitete mich die Angst der Menschen. Sie war nahezu überall. Die Menschen in Benoth hatten Angst vor allem. Vor der Finsternis, vor den dunklen Wäldern, vor Jissurim, vor den Wesen der Nacht, vor Hunger, vor wilden Hunden, ja, sogar vor der Freiheit hatten sie Angst. Die Namen dieser Angst waren vielfältig. Ich hasste die Angst. Sie lähmte, machte handlungsunfähig. Und wenn die Angst dich daran hinderte, aus Furcht vor den bösen Dingen dieser Welt die guten zu erleben, dann hatte die Angst ihr Ziel erreicht: Sie hinderte dich daran, zu leben. Denn Angst war ein Gefängnis. Doch ich wollte frei sein. Seit ich denken konnte, wollte ich frei sein. Ich liebte den Himmel, das Fliegen der Vögel, den Wind und die Träume von einem weit entfernten Meer. Ich liebte die Freiheit. Also entschied ich mich gegen die Angst. Ich entschied mich, mich vor nichts zu fürchten.

Als ich jetzt das Tal betrat, spürte ich, wie die Angst nach mir griff und es mir nicht leichtfiel, sie abzuschütteln. Es war keine Angst um mich selbst, keine Angst vor den Grausamkeiten der Finsternis, vor den dunklen Gestalten dieser Welt. Es war die Angst um ihn. Für einen kurzen Augenblick ließ ich die Angst zu, rief ihn in Gedanken und bat ihn, sich in Sicherheit zu bringen. Dann atmete ich tief durch und ließ die Angst hinter mir liegen.

Schon nach den ersten Schritten verstand ich, warum Deven es die Hölle Benoths genannt hatte. Die Gestalten, die hier durch die Gegend stolperten, hatten mehr Ähnlichkeit mit wilden Tieren als mit Menschen. Viele liefen geduckt, manche sogar auf allen vieren. Dreck und Blut entstellte ihre Gesichter und in vielen Ecken hörte man es stöhnen und wimmern. Ich duckte mich und bedeckte mein Gesicht mit meinen Haaren. Ich hielt mich an die dunkelsten Ecken, wobei das nicht schwer war, denn hier unten schien die Finsternis noch dunkler und intensiver zu sein. Fast als könnte man sie mit den Händen greifen. Nur an wenigen Stellen brannten kleine Feuer, zu meinem Glück. Der Gefahr war ich mir wohl bewusst. Denn schon auf dem Berg hatte ich die Kälte gespürt, die dieses Tal ausstrahlte. Hier unten jedoch war sie allgegenwärtig. Verstohlen rieb ich mir die Arme und hielt meinen Oberkörper umklammert, obwohl ich wusste, dass sich die Gänsehaut nicht abschütteln ließ. Meine Idee, Deven hier herauszuholen, war mir oben noch so leicht vorgekommen. Hier unten entpuppte sie sich als die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich beschloss, mich immer am Rand des Tales zu halten und einmal außen herumzuschleichen. In Gedanken rief ich ihn immer wieder.

Die ständige Zu- und Abnahme der Kälteintensität verwirrte mich zusehends. Ein offensichtlich betrunkener Ausgestoßener wankte unkoordiniert in meine Richtung und mit ihm eine eisige Welle, bevor er zusammen mit einer Mülltonne umstürzte und regungslos im Dreck liegen blieb. Ein neuer Kältepulk erreichte mich, als sich mehrere Gestalten wild schreiend prügelten. Die eine traf mich an der Schulter, doch wurde sie sogleich von der nächsten an eine Wand geschleudert.

Zügig bewegte ich mich weiter. Von Deven keine Spur. Hätte ich gewusst, was mich noch erwartete, wäre ich ohne Zweifel umgedreht.

Der erneute Kältestoß traf mich mit voller Wucht. Wie ein Sprung in einen kalten Gebirgsbach schoss die Kälte durch meinen Körper, als sich harte Arme von hinten um meinen Körper schlangen und ich die eisige Klinge eines Messers an meiner Kehle spürte.

»Ein Mucks und du bist tot!«, zischte eine raue Stimme an meinem Ohr. Langsam und ohne das Messer von mir zu nehmen, wurde ich vorwärtsgezerrt, hinein in eine Behausung, die man im besten Fall als Zelt bezeichnen konnte.

»Ich werde jetzt das Messer wegnehmen, aber wag es nicht, um Hilfe zu schreien. Hier würde dir sowieso keiner helfen.« Der Mann nahm die Klinge von meinem Hals und ich spürte, wie mir ein paar Blutstropfen den Hals hinabrannen. Grob drehte er mir die Arme auf den Rücken und fesselte sie fest auf dem Rücken und um meine Füße. Dann stieß er mich hart zu Boden, sodass ich ihn das erste Mal ansehen konnte. Im ersten Moment erinnerte er mich an Rudi, den Händler: die schiefen Zähne, das fiese Lachen, der magere Hals. Und natürlich das Brandzeichen der Ausgestoßenen auf der Stirn. Doch er war viel größer als Rudi, die Haare standen wild und ungepflegt von seinem Kopf ab und sein Atem roch nach Abfall und Alkohol. Seine Augen starrten mich gierig an.

»Was hast du hier zu suchen?«

In Gedanken ging ich alles durch, was ich um mich herum erkennen konnte. Suchte nach Anhaltspunkten, wo ich mich befand, in der Hoffnung Deven könnte mich hören.

»Ich … ich bin neu hier!«, brachte ich schließlich hervor.

»Erzähl mir keine Märchen! Ich beobachte dich, seit du das Tal betreten hast. Du verhältst dich nicht wie eine Ausgestoßene«, motzte er mich ungeduldig an.

»Nein, natürlich nicht, mein Zeichen ist noch ganz frisch, erst ein paar Stunden …«

Gereizt griff er nach mir und strich mit einer fahrigen Bewegung meine Haare aus dem Gesicht. Misstrauisch beäugte er das verkohlte Zeichen auf meiner Stirn und ich hoffte inständig, dass ich ihn lange genug hinhalten konnte, bis Deven mich fände oder ich eine Möglichkeit zur Flucht entdeckte.

»Wenn du mich anlügst …«, knurrte er und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Viel zu fest stopfte er ein Tuch in meinen Mund. »Es ist besser für dich, wenn du nicht schreist. Sollte dich hier jemand von den anderen finden, wirst du dich nach mir zurücksehnen.« Er lachte ein fieses, kaltes Lachen, bei dem seine ungepflegten Zähne noch größer wirkten. Dann verpasste er mir einen ordentlichen Tritt in den Magen, drückte mein Gesicht grob auf den Boden und flüsterte mir drohend ins Ohr: »Und wenn ich wiederkomme … gehörst du mir!«

Er schnüffelte gierig an meinem Gesicht und stieß seinen nach Verwesung riechenden Atem aus, sodass mir übel wurde. Ruckartig, als müsste er sich wegreißen, stand er auf, stieß mit einem Holzstock, den er offenbar als Krücke benutzte, nach meinem Kopf und ließ mich zusammengekrümmt vor Schmerzen in seinem Zelt liegen.

Ich musste weggetreten gewesen sein, denn ein Geräusch ließ mich hochfahren. Zunächst fürchtete ich, mein Entführer wäre zurückgekehrt, doch die ausbleibende Kältezunahme zeigte mir, dass dem nicht so war. Ich lauschte angestrengt und plötzlich ergriffen mich von hinten zwei warme Hände.

Schnell löste Deven meine Fesseln und zog mich in seine Arme. Erleichterung durchströmte mich und seine Wärme verminderte den Schmerz der Kälte.

»Du hast mich gefunden!«, flüsterte ich fassungslos und spürte eine Träne über mein Gesicht rollen. Mein Körper zitterte und ich wusste nicht, ob es die Schmerzen waren oder die Anspannung, die von mir abfiel. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich dieser Kälte hier im Tal schon zu lange ausgesetzt war.

Deven nahm mein Gesicht in beide Hände. »Du dummes Ding!«, wisperte er kopfschüttelnd. »Immer muss ich dich retten!« Seine Lippen berührten meine Stirn. Nie hatte ich geahnt, dass die Schönheit des Lebens aus solch kleinen Dingen bestehen konnte, dass sich auch in der tiefsten Finsternis ein kleines Licht finden ließ.

»Wir müssen hier raus! Kannst du laufen?« Besorgt begutachtete er mich. Der Schnitt am Hals war nur oberflächlich und blutete kaum. Der Stoß des Holzstocks hatte mir jedoch eine Platzwunde an der Stirn beschert, doch auch sie hatte inzwischen aufgehört zu bluten. Das Schlimmste war der Tritt in den Magen gewesen. Am liebsten wäre ich zusammengekrümmt liegen geblieben.

»Ich denke schon«, antwortete ich, »aber wie hast du mich gefunden?«

»Keylah«, er schaute mir dabei so intensiv in die Augen, dass mein Herzschlag einen Moment aussetzte, »ich habe dich die ganze Zeit gehört. Ich habe alles gehört. Ich schalte nicht einfach ab. Ich höre dich überall!«

Seine Worte machten mich sprachlos und durchströmten mich mit einer sanften Wärme, die nach meinem Herz griff und ganz leise begann, sich dort einzunisten.

»Komm, wir haben nicht viel Zeit.« Er fasste meine Hand. Ich spürte seine Entschlossenheit, mich hier herauszubringen, mich nicht loszulassen. Ich erwiderte den Druck seiner Hand noch fester.

Hastig führte er uns durch das Gewirr aus Zelten, Müllbergen, Feuerplätzen und schlafenden oder bewusstlosen Menschen. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Dreck und Dunkelheit, so viel Böses und Hässliches an einem Ort gesehen wie hier in diesem Tal. Und doch genoss ich den warmen Druck von Devens Hand, der mir zeigte, dass es auch inmitten der tiefsten Kälte ein Stückchen Wärme gab, für das es sich lohnte zu kämpfen.

Wir waren fast am Ausgang angekommen, wo der schmale Pfad die Steilwand hinauf aus dem Tal herausführte, als Deven mich gegen eine Holzwand drückte und mir bedeutete, leise zu sein. In einiger Entfernung trugen zwei Gestalten eine dritte den Berg hinauf. Verwundert blickte ich Deven an.

»Ich habe Rudi einen kleinen Streich gespielt«, grinste er mich an.

»Du wusstest, dass er dich holen lassen will?«, entgegnete ich.

»Natürlich. Keine Tat, die gegen ihn gerichtet ist, bleibt ungestraft. Ich hatte nur nicht geahnt, dass sie so schnell sein würden. Aber dank deiner gedanklichen Beschreibung wusste ich, wie die zwei Sucher aussehen. Ebenso dein Entführer.«

Verblüfft starrte ich ihn an. »Ist der, den sie tragen, etwa er? Wie hast du das gemacht?«

»Deine Neugier ist wieder einmal stärker als deine Achtsamkeit.« Sanft strich er mir die Haare aus dem Gesicht und rieb die Reste des Kohlezeichens von meiner Stirn. »Ich erzähle dir alles. Aber lass uns erst von hier verschwinden. Wir gehören hier nicht her!«

»Mit dem größten Vergnügen!«, sagte ich und meinte es so.

Wir nahmen einen anderen Weg aus dem Tal, sodass wir den beiden Helfershelfern ausweichen konnten. Unterwegs erzählte mir Deven die ganze Geschichte. Wie er den besagten Ausgestoßenen mit der Kette – einen schrägen Typen namens Aly – schnell gefunden hatte, dann aber immer beunruhigter wurde von dem, was er von mir hörte. Und wie er dann meinen Entführer abgepasst und in die Behausung von Aly gezerrt hatte.

»Ich war froh, dass ich schon wusste, was mich erwartete. Aus deinen Gedanken hörte ich, wo du bist und wie die Typen aussehen. Also machte ich mit Aly einen Deal. Das ist das Gute, letztlich ist jeder Ausgestoßene auf irgendeine Weise käuflich.«

Er sog die Luft durch die Zähne und ich wusste, es war nicht nötig, nach den Details dieses Deals zu fragen.

»Wir verpassten deinem Entführer ein Schlafmittel, jubelten ihm eine billige Kette unter und ich setzte Aly darauf an, den beiden Abgesandten von Rudi zu verklickern, dass dein Entführer versucht hatte, ihm die Kette zu stehlen, sodass sie annahmen, er wäre ich. Nun bringen sie ihn zu Rudi und falls er vorher nicht aufwacht, werden sie spätestens dann ein böses Erwachen erleben.«

Ich lächelte. »Rudi wird ganz schön sauer sein.«

»Ja!« Auch er lächelte mich an und für einen Moment lang schien es nur ihn und dieses Lächeln zu geben, das die Macht hatte, die ganze Finsternis dieser Welt zu erhellen. Doch dann schaute er weg und sein Gesicht wurde ernst. »Ja, er wird sauer sein. Und das nächste Mal wird er nicht nur zwei harmlose Helfershelfer schicken. Das heißt, wir müssen dich so schnell es geht nach Kadosch schaffen. Mitsamt deiner Kette.« Mit diesen Worten hielt er mir das hin, worum es hier eigentlich ging, was mein Leben bedeutete, was die einzig verbleibende Brücke zu meiner Vergangenheit und meiner Herkunft war.

Ich zögerte nach ihr zu greifen, hatten wir doch bereits so viel auf uns genommen wegen dieser Kette. Hoffentlich war sie all das auch wert.

»Deine Mutter hat die Kette sicher nicht ohne Grund dort gelassen, Keylah! Hab Vertrauen!«

Ich schluckte und versuchte den Kloß in meinem Hals zu vertreiben. Ich fragte mich, wem der Basisstein, aus dem diese Kette entstanden war, wohl gehörte – falls er überhaupt existierte. Was, wenn ich nur einer Illusion hinterherjagte?

Als wir endlich wieder die Ebene erreichten, lag hinter uns das Tal der Ausgestoßenen und vor uns die dunklen Wälder. Über uns spannte sich der gigantische Himmel, dessen Anblick mir jedes Mal aufs Neue den Atem raubte. Die Morgendämmerung breitete bereits ihre ersten Boten auf ihm aus. Ich liebte die Dämmerung und das, wie sie den Himmel dann aussehen ließ. Der Kampf der Finsternis gegen das Licht spiegelte sich am Himmel. Ich liebte diesen Anblick. Besonders dann, wenn das Licht die Schlacht gewann. Tief in mir drin bewahrte ich den Wunsch, es möge den Tag geben, an dem das Licht den endgültigen Sieg davontrüge.

Wir wandten uns gen Norden und tauchten wieder in die Dunkelheit der Wälder ein. Irgendwo im Norden sollte es liegen, dieses unbekannte Land Kadosch. Ein Land mit so vielen Geheimnissen. Und jetzt auch mit einem Geheimnis von mir. Doch davor lag noch das Meer. Es war unvorstellbar, der Wald könnte irgendwann zu Ende sein.

Wir liefen schweigend. Die Dunkelheit hier im Wald war noch zu intensiv und drückend für Gespräche.

Doch schon nach wenigen Schritten blieb Deven abrupt stehen. Wie ein witterndes Tier sah er sich nach allen Seiten um. Erst da bemerkte ich die Käfer auf dem Boden. In Scharen rannten diese Mistkäfer über den Waldboden und verschwanden in irgendwelchen Verstecken. Fast zeitgleich kamen die Vögel. Viele kleine Meisen flogen uns hektisch entgegen, ignorierten uns und zogen in die Richtung weiter, aus der wir gerade gekommen waren: aus dem Wald heraus. Bevor ich fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, kam ein Rudel Rehe. Dann unweit von uns entfernt rannten Hirsche und zu meinem Schrecken auch Wildschweine davon. Sie alle schienen sich nicht für uns zu interessieren. Alle hatten nur ein Ziel: den Wald verlassen.

»Sie flüchten!«, flüsterte Deven und seine Stimme klang belegt.

»Aber vor was?«, fragte ich, obgleich ich die Antwort schon wusste, sie förmlich spürte.

»Vor dem Sturm. Vor seinem Sturm.«