19. Kapitel

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»Alles wird gut! Vertrau mir!« Geflüsterte Worte einer vertrauten Stimme. Worte, die schon viele Jahre zurücklagen und verschüttet waren in meinen Erinnerungen. Ich hatte sie verdrängt und vergessen. Oder nicht mehr wahrhaben wollen. Doch Devens Bitte, ihm zu vertrauen, öffnete diese längst vergessene und tief vergrabene Kiste an Erinnerungen. Und nun schrien diese Worte in meinen Gedanken und ich konnte mich auf einmal wieder an den Klang ihrer Stimme erinnern. Es war die Stimme meiner Mutter. Erinnerungsfetzen kehrten nun zurück, in denen sie diese Worte immer und immer wieder wiederholte. »Es wird alles gut! Vertrau mir!« Und ich hatte ihr vertraut. Blind hatte ich ihr vertraut, wie ein Kind das eben tat. Aber ich hatte sie verloren. Ich hatte das Wichtigste in meinem Leben auf ewig verloren. Nichts war gut geworden. Damals hatte ich meine Mutter verloren. Und meine Fähigkeit zu vertrauen.

Deven hatte das Unmögliche geschafft. Er hatte mein Vertrauen gewonnen. Als ich jetzt nach der Trennung von ihm durch die vom Mondlicht erhellte Dunkelheit mehr stolperte als rannte, rannen mir die Tränen in Strömen übers Gesicht und meine Sicht verschwamm. Ich klammerte mich an dieses Vertrauen, das ich in ihn gesetzt hatte, daran, dass er wieder zu mir zurückkommen würde. Aber ich hatte gespürt, wie etwas in mir zerriss, als ich ihn verlassen hatte. Er hatte einen Teil meines Herzens mit sich genommen und Angst hinterlassen. Pure Angst, ihn zu verlieren. Diese Angst nahm mir die Luft zum Atmen, drohte mein Herz zu zerquetschen und über mich herzufallen wie ein tollwütiger Hund.

Kontrolliere die Angst, Keylah! Du kannst das!

Ich fing an zu schluchzen und drohte zu stolpern, rappelte mich aber wieder auf.

Nein, Deven, ich schaffe es nicht, ich bin zu schwach.

Einem Menschen zu vertrauen und ihn zu lieben machte schwach.

Du bist nicht schwach! Kontrolliere die Angst! Du kannst das! Vertrauen macht nicht schwach. Vertrauen macht die Welt bunter und schöner und wärmer. Vertrauen lohnt sich! Und Liebe! Ohne die Liebe ist die Welt kalt!

Und plötzlich wusste ich, dass er recht hatte. Es war die Gefahr, die mich frieren ließ, und es war Liebe, die das genaue Gegenteil davon war. Liebe bedeutete Wärme, Licht, Geborgenheit.

Ich hatte mich geirrt. Vertrauen und Liebe machten nicht schwach, nein, sie machten stark. Es war Devens Wärme in meinem Herzen, die mich nun stark werden ließ und mir den Willen gab, die Angst zu kontrollieren. Sie ließ die Angst nicht verschwinden. Aber wahrscheinlich ging es darum gar nicht. Das, was zählte, war, wer der Herr in meinem Leben war: die Angst oder die Liebe! Ich hatte es bisher noch nicht begriffen, aber Liebe war unendlich viel stärker als Angst. Also tat ich das Einzige, das sinnvoll war: Ich klammerte mich an die Liebe und die Hoffnung und rannte.

Devens Gedanken zu hören gab mir zusätzlich Kraft. Denn obwohl ich mich immer mehr von ihm entfernte, fühlte er sich durch seine Gedankenstimme ganz nah und sicher an. Doch eigentlich war es nur eine Illusion. Allerdings war mir nicht bewusst, wie schnell selbst diese Illusion vorbei sein würde.

Der Weg durch den Wald wurde uns beiden sehr erschwert, denn erst auf unserer Flucht stellten wir fest, wie wild der Sturm gewütet hatte. Der Waldboden war bedeckt mit Ästen und umgestürzte Bäume behinderten mein Vorankommen, sodass ich zusehends langsamer wurde und meine Kraft schwand. Immer öfter blieb ich schwer atmend und nach Luft ringend vor einem erneuten Hindernis stehen, hielt mir meine stechenden Seiten und suchte nach Kraft für die nächste Strecke.

Auch Deven begegneten die Folgen des Sturms bei jedem Schritt, aber wie nicht anders erwartet nahm er sie mit Leichtigkeit und gab mir Hilfestellungen, wie ich meine bewältigen konnte.

Ich staunte über einen entwurzelten Baum, der sich perfekt an einen anderen anlehnte, und man fast den Eindruck bekam, man könnte an seinem Stamm wie an einem Berg hinauflaufen, direkt in den Himmel. Diese Vorstellung ließ mich lächeln. Ein Weg in den Himmel. Falls es das tatsächlich gab, so nahm ich mir vor, ihn zu finden. Falls ich aus dieser Sache hier lebend herauskäme.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich Devens leise Gedanken zunächst gar nicht wahrnahm. Er war stehen geblieben, lauernd, abwartend, so viel hatte ich gehört. Es dauerte, bis mir klar wurde, dass er versuchte, seine Gedanken so sehr zu kontrollieren, um sie vor mir zu verbergen. Zu spät bemerkte ich, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten war.

Deven!, rief ich ihn in Gedanken. Deven, sag mir was los ist!

Keylah, versprich mir, dass du weiterläufst. Versprich mir, dass du das Ziel im Auge behältst. Versprich mir, dass du überlebst! Selbst in seiner Gedankenstimme hörte ich die Angst.

Deven, was ist los???

Sie sind da, Keylah! Die Jäger, sie haben mich umzingelt. Es gibt keinen Weg mehr heraus hier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit …

Die Welt hörte auf sich zu drehen und mein Herz vergaß, wozu es gemacht war. Der Wald um mich herum verschwamm und ich bemerkte nicht, dass es Tränen waren, die meine Welt untergehen ließen. All meine Kräfte versagten von einer Sekunde zur nächsten und ich sackte in mir zusammen.

Keylah, renn weiter, lass es nicht umsonst gewesen sein!

Wie soll ich es schaffen ohne dich? Ich spürte die Verzweiflung in mir aufsteigen, unbändig und allmächtig.

Du bist stark, Key, viel stärker, als du denkst! Tu es für mich und lauf!

Langsam, wie in Trance, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, rappelte ich mich wieder auf und setzte einen Fuß vor den anderen. Ich spürte nichts. Es war, als hätte eine übermächtige Ohnmacht alle meine Gefühle in sich aufgesogen.

Ich höre sie! Sie sind ganz nah! Aber … was ist das? Die Stimmen! Ich höre Stimmen, es sind so viele. Was sagen sie? Ich kann nichts sehen in dieser Dunkelheit. Da … o nein, was ist das? Augen, leuchtende Augen, überall …

Mein Herz quittierte endgültig seinen Dienst. Die Wesen der Nacht hatten Deven umzingelt. Als ob Seelenjäger aus Jissurim nicht schon reichten.

Deven, es tut mir so leid. Alles.

Keylah, nein, für nichts musst du dich entschuldigen. Du hast mir so viel gegeben. Du hast mir mein Leben zurückgegeben. Danke! Key, ich lie…

Da brach seine Gedankenstimme plötzlich ab. Es blieb nur Leere und die Stille erfüllte meinen Kopf und drohte, ihn zum Zerplatzen zu bringen. Ich rief ihn noch minutenlang, obwohl ich genau wusste, dass er nicht antworten würde, doch ich konnte einfach nicht damit aufhören.

Plötzlich war da nur noch Schmerz, der meinen ganzen Körper durchströmte und in mein Herz stach. Die Wärme, seine Wärme, war aus meinem Leben verschwunden. Und auch wenn ich fast achtzehn Jahre ohne diese Wärme gelebt hatte, war es nicht mehr wie vorher. Wenn die Liebe geht, ist es noch kälter als je zuvor.

Seltsame Geräusche drangen an mein Ohr, die ich nicht zuordnen konnte, bis ich bemerkte, dass es mein eigenes Schluchzen war. Ich konnte es nicht kontrollieren und ich rannte, obwohl ich nichts mehr sah. Ich müsste umdrehen, vielleicht würde ich ihn finden, vielleicht könnte ich ihm noch helfen, ich müsste doch irgendetwas tun. Tränen versperrten mir die Sicht und der Schmerz hinderte mein Gehirn daran, Befehle entgegenzunehmen. Die Welt um mich herum verschwand. Es gab nur noch Tränen und Dunkelheit und Schmerz und ein einziges Wort, das in meinem Kopf als Dauerschleife widerhallte: Deven, Deven, Deven …

Plötzlich rannte ich wie gegen eine eiskalte Wand. Die Kälte war übermächtig. Sofort versteiften sich all meine Glieder und das Blut in meinen Adern schien zu gefrieren. Bereits im nächsten Augenblick war ich von tiefem Nebel eingehüllt. Die Welt um mich herum schien zu verschwinden und alles versank im Nebel, der durch den Mondschein seltsam leuchtete.

Wie aus dem Nichts stand er plötzlich da. Er schälte sich aus dem Nebel, groß und mächtig, bekleidet mit einer schwarzen Robe, die seine dunkle Seele noch mehr unterstrich.

Ich wusste sofort, dass er es war. Die Kälte war intensiver als jede andere, die ich je zuvor gespürt hatte. Sie war lähmend und schwächte mich von Sekunde zu Sekunde mehr. Selbst mein Herz schien langsamer zu schlagen.

Schalith ging langsam auf mich zu. Ich war unfähig, mich zu rühren. Die Kälte hielt mich gefangen.

Er lächelte selbstgefällig und als er anfing zu sprechen, flogen seine Worte wie kleine Nebelschwaden um meinen Kopf, als wollten sie meine Gedanken vernebeln.

»Wie schön, dich wiederzusehen, Keylah! Es ist so viele Jahre her. Du bist erwachsen geworden.« Er lachte schallend. Es war ein einnehmendes Lachen, das man überall heraushören würde. Ein Lachen, das sicherlich jeden zum mitlachen einlud. Auch ich spürte den Drang mitzulachen, auch wenn ich nicht wusste, warum. Mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an.

»Entschuldige, du erinnerst dich sicher gar nicht mehr. Wie unhöflich von mir! Darf ich mich vorstellen? Ich bin Schalith, der Herrscher der Jissurim.«

Er streckte mir seine Hand entgegen und plötzlich fragte ich mich, warum ich sie eigentlich nicht ergreifen sollte. Doch dann fielen mir wieder Devens Warnungen ein. Schalith hatte eine Gabe. Und ganz offensichtlich versuchte er sie gerade zu nutzen.

Ich ließ seine Begrüßung unbeantwortet. »Ich weiß!«, sagte ich kühl, doch meine Stimme klang nicht so selbstbewusst, wie ich es beabsichtigt hatte.

»O ja, wie dumm von mir! Natürlich weißt du das! Du bist ein intelligentes Mädchen, nicht wahr?«

Sein Lächeln schien dauerhaft auf seinem Gesicht festgeklebt. Seine Worte hatten eine seltsame Wirkung. Konfuse Wärmefetzen gingen von ihnen aus, die jedoch gleich wieder in der Kälte verdampften. Ein Teil von mir wollte ihm zustimmen, wollte ihm gefallen und tun, was er sagte. Ich wusste, es war seine Gabe, die mich dazu trieb, und mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an. Doch es fiel zunehmend schwerer, je länger ich in seiner Gegenwart zubrachte.

»Du gehörst hier nicht her! Das weißt du, oder? Du bist viel zu intelligent für ein Mädchen aus Benoth.« Seine Stimme wurde bei dem letzten Wort sehr abfällig. Dann wurde er wieder schmeichelnd und leise. »Tief in dir drin weißt du es.« Er machte eine kurze Pause und holte tief Luft. »Du wurdest in Jissurim geboren, Keylah.«

Eine tiefe Kälte griff nach meinem Herzen und drückte es mit eisigen Händen. Die Luft wurde immer frostiger und es fiel mir schwer zu atmen.

»Nein, das kann nicht sein!«, keuchte ich.

»Natürlich. Ich war bei deiner Geburt dabei. Ach, was warst du doch für ein süßes Baby! Und von Anfang an schon so dickköpfig.«

Verträumt blickte er ins Leere, als schwelge er in längst vergangenen Erinnerungen. Dann blickte er mir wieder tief und durchdringend in die Augen.

»Du gehörst zu uns. Und tief in dir drin spürst du das auch. Du bist etwas Besonderes. Du hast nie hierher gepasst. Komm zu uns zurück. Ich kann dir alles geben, was du dir wünschst.«

Melodisch drangen seine Worte in meinen Kopf. Es war eine seltsame Mischung aus frostiger Kälte und behaglicher Wärme. Doch irgendetwas an dieser Wärme war falsch, aber ich konnte mich nicht mehr an den Grund erinnern.

»Aber die Kette … Die Kette meiner Mutter. Woher kommt sie?«, fragte ich und versuchte mich zu erinnern, warum sie so wichtig war.

Ich musste mich unbedingt erinnern.

»Ach, diese dumme Kette. Durch sie sind die ganzen Probleme doch erst entstanden. Gib sie mir und du wirst dich gleich viel leichter fühlen. Die Kette ist ein einziges großes Missverständnis.« Lächelnd schüttelte er den Kopf, als wäre dies die einzig logische Antwort auf alle meine Fragen.

»Ich weiß nicht …« Die Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum wie Fliegen über dem Essen. Es ergab keinen Sinn mehr.

»Dein Vater hätte diese Kette deiner Mutter nie schenken dürfen!«

»Mein Vater?« Etwas Klarheit drang in meine Gedanken, wie wenn der wolkenverhangene Himmel plötzlich ein paar Strahlen Sonne durchlässt.

»Aber Jetur war nicht mein Vater.«

Einen Moment lang schaute Schalith mich erschrocken an. Er fasste sich aber sofort wieder. »Nein, natürlich, du hast recht. Ich …«

»Wenn meine Mutter diese Kette von meinem Vater bekommen hat, dann heißt das … dass mein Vater aus Kadosch stammt.«

Diese Erkenntnis überraschte mich selbst und doch war sie die einzig logische. Sobald ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass es wahr war.

Schalith zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte er sich wieder gefasst. »Natürlich, du hast recht. Doch es ist noch viel komplizierter. Komm mit mir und ich werde dir alles erklären, was du wissen willst.«

Wieder versuchten seine lauwarmen Worte mich zu umhüllen, versuchten mich von der Kälte abzulenken.

Doch die Kälte seiner Gegenwart blieb weiterhin in meinem Herzen. Im nächsten Moment wusste ich, was ich zu tun hatte. Es stand mir plötzlich glasklar vor Augen. Ich musste ihm widerstehen. Nein, ich musste ihm nicht nur widerstehen, sondern ich würde ihm auch widerstehen können. Meine Großmutter hatte mir einmal den Rat gegeben: »Wehr dich nicht gegen deine Gabe! Es liegt dir im Blut!« Mit einem Mal wurde mir klar, wie recht sie damals hatte. Ganze Eiszapfen der Erkenntnis zerschmolzen in meinem Inneren.

»Du wirst mich niemals bekommen, Schalith. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Ich werde immer gegen dich kämpfen, mit allem, was ich bin.«

Schlagartig fiel seine Schein-Wärme von mir ab und die Kälte traf mich mit nie gekannter Wucht. Aber das störte mich nicht. Ich hatte keine Angst vor ihm und das sah er in meinen Augen. Plötzlich war es nicht mehr die Kälte, die mich beherrschte, sondern ich beherrschte sie. Und nicht nur das lag mir im Blut, sondern noch viel mehr. Der Nebel vor meinem inneren Auge war verschwunden und ich fragte mich, wieso ich das alles erst jetzt erkannte. Ohne eine Spur von Zweifel zog ich die Kette meiner Mutter aus meiner Jackentasche und betrachtete den Anker, dessen Bedeutung mir noch nie so klar gewesen war wie in diesem Augenblick. Es lag mir im Blut, das spürte ich jetzt. Die Kette baumelte an meiner linken Hand, während ich mit der rechten mein Messer zückte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Schalith zusammenfuhr und die Augen weit aufriss. Damit hatte er nicht gerechnet. Ich gab ihm keine Gelegenheit zu reagieren und schnitt mir, ohne innezuhalten, in die linke Hand. Das Blut tropfte in großen dunklen Tropfen auf die Kette und schließlich den Anker. Bereits der erste Tropfen reichte aus. Die Kette, die bisher immer fremd und kalt in meinen Händen gewesen war, wurde warm und der Anker leuchtete für einen Moment auf wie eine Sternschnuppe am wolkenlosen Nachthimmel. Schaliths Hände ballten sich zu Fäusten und er trat einen Schritt zurück, als er sah, wie ich mir die Kette um den Hals legte. Sobald sie meinen Hals berührte, hatte ich das Gefühl, als würde der Klang meines Herzens durch den Wald, bis zum Meer und über das Meer hinaus erschallen.

Mit einem Schlag verschwand der Nebel, als würde er aufgesogen von einer fremden Macht, und es wurde plötzlich taghell.