Wie von Zauberhand war über Nacht eine Schar an Gartenzwergen in Myrtles Vorgarten erschienen. Es waren Figuren aus Keramik, die allerlei Aktivitäten nachgingen und jetzt den Rasen vor dem Haus bevölkerten. Elaine blinzelte verdutzt, als sie an diesem Morgen am Küchenfenster vorbeiging. „Gute Güte, deine Mutter hat die Gartenzwerg-Patrouille ausgepackt, Red. Was hast du denn dieses Mal angestellt?“
„Was?“ Red schob die Gardine zur Seite. Er stöhnte, während er sich die Hände vors Gesicht presste und hoffte, dass die Schar an Keramik-Gartenzwergen auf der anderen Straßenseite verschwunden war, wenn er sie wieder vom Gesicht nahm. Sein Flehen wurde nicht erhört.
„Red, womit hast du deine Mutter verärgert?“ fragte Elaine. War Myrtle wütend auf ihren Sohn, so pflegte sie das mit ihrer riesigen Gartenzwerg-Sammlung auszudrücken. „Sie muss die ganze Nacht gebraucht haben, um all diese Zwerge aus dem Schuppen zu holen. Sie hätte sich das Genick brechen können!“
Red drehte sich von diesem Anblick weg und sah in die zusammengekniffenen Augen seiner Frau, die ihn mit ihrem Blick traktierte. „Nichts! Ich habe nichts...“ Er hielt inne. „Ich habe sie für den Kirchenkreis und die Altargilde angemeldet.“
„Ich dachte, das war ihre Idee!“
„Elaine, sie langweilt sich schon wieder und du weißt, dass das nur Ärger bedeutet.“
„So schlimm wird es schon nicht sein“, wandte Elaine ein.
„Denkst du das wirklich? Kannst du dich noch erinnern, als sie diesen bissigen Leitartikel für den Charlotte Observer geschrieben hat?“
„Welchen meinst du?“ fragte Elaine.
„Genau das meine ich. Sie stürzt sich willkürlich auf irgendein Thema und treibt damit alle in den Wahnsinn.“
„Na, wir wohnen sowieso nicht in Charlotte. Es ist ja nicht so, dass deswegen die Leute hinter unserem Rücken über uns reden würden.“
„Sie hat auch hier für genügend Aufruhr gesorgt, das weißt du genau. Kannst du dich noch an den Tumult erinnern, den sie im Seniorenheim angerichtet hat?“ fragte Red.
Und ob Elaine sich noch erinnern konnte. Als Myrtle dort einmal eine Freundin besucht hatte, hatte sie eine Protestwelle gegen die Sitzordnung im Speisesaal losgetreten. „In deinem Alter solltest du dir deinen Sitzplatz aussuchen können“, hatte sie naserümpfend gesagt. Das hatte diejenigen verletzt, die mit ihrem Platz zufrieden waren und Entrüstung bei denen ausgelöst, die weniger glücklich über ihren Sitzplatz waren. Das ging sogar soweit, dass der Pfarrer hergebeten werden musste, um zu schlichten.
Red seufzte. „Wann immer sie zu viel Zeit hat, fixiert sie sich zu sehr auf die Kleinigkeiten im Leben.“
Elaine dachte schuldbewusst daran, wie sie sich stundenlang darüber ärgerte, dass Jack jetzt seine Trinkflaschen öffnen konnte.
„Sie wird sich wieder in das Leben anderer einmischen ‒ und womöglich Sitzstreiks organisieren, um gegen die späten Müllabfuhrzeiten zu protestieren... wer weiß, was sie sich ausdenkt, wenn sie wieder zu viel Zeit hat. Sie könnte ihre Freizeit dafür nutzen, etwas Gutes für die Gemeinde zu tun“, argumentierte Red.
„Die Blumendekoration für die Kirche übernehmen?“
Red wusste, dass er diese Diskussion nicht gewinnen würde. Außerdem wirkte Elaine, als hätte sie selbst äußerst schlechte Laune ‒ die gut und gerne noch bis zum Abendessen halten konnte. Oder bis zur Kuschelstunde auf dem Sofa, während „American Idol“ lief. Oder sogar...
„Was soll ich denn tun?“ fragte er flehend, während er verzweifelt die Arme in die Luft warf.
„Entschuldige dich bei ihr. Mach, dass sie diese Gartenzwerge wieder wegräumt, bevor die Leute tatsächlich anfangen, hinter unserem Rücken zu reden.“
Red ergriff das schnurlose Telefon, das Elaine ihm schnell wieder aus der Hand nahm und in die Ladestation stellte. Sie schubste ihn zur Tür und hinaus in den Vorgarten, bevor sie sich für eine zweite Tasse Kaffee in die Küche setzte. Dort wurde sie von ihrem verschlafenen französischen Austauschschüler begrüßt. Jean-Marc schlurfte am Küchenfenster vorbei und blieb beim Anblick der Gartenzwerge verdutzt stehen, um sie sich genauer anzuschauen. „Zut alors!“ Elaine schenkte ihm wortlos eine große Tasse Kaffee ein.
Red war zu spät dran, um das mit Myrtle schnell wieder in Ordnung zu bringen. Sie war bereits auf dem Weg zur Kirche für das Treffen der Altargilde, das sie Red zu verdanken hatte. Myrtles Spazierstock klopfte laut auf den Gehsteig, was sie auf gewisse Weise befriedigte. Ihre Haut war glatt wie eh und je, abgesehen von ein paar Fältchen, die erschienen, wenn sie lachte oder die Stirn runzelte. Sie war groß und hatte im Klassenzimmer immer bemerkenswerten Eindruck hinterlassen, während all der Jahre, in denen sie als Lehrerin gearbeitet hatte. Das war jedoch schon so lange her, dass sie bereits vergessen hatte, wie lange sie schon in Rente war. Sie lächelte selbstgefällig beim Gedanken daran, wie ihre Gartenzwerg-Patrouille Red heute Morgen begrüßen würde. Hätte sie der Altargilde oder dem Kirchenkreis beitreten wollen, hätte sie sich schon selbst angemeldet.
Die Altargilde bedeutete, auf Parke Stockard zu treffen, die besessen darauf zu sein schien, sich in jede einzelne Aktivität in der Kirchengemeinde einzumischen. Na wunderbar. Ein Morgen mit Parke würde Myrtles Stimmung ganz bestimmt nicht verbessern. Sie knallte ihren Spazierstock noch einmal wütend auf den Gehsteig, bevor sie die schwere Kirchentür öffnete und versuchte, sich von ihren mörderischen Gedanken abzulenken.
Das hatte jemand anderes offensichtlich nicht getan.
Parke Stockard lag auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen. Myrtle war froh, ihren Stock dabei zu haben, um sich darauf stützen zu können.
„Myrtle! Bist du hier, um uns bei der Altargilde zu unterstützen?“ Nathaniel Gluck, der schlaksige Pfarrer der Gemeinde, trat unbeholfen in die Kirche. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, als er den leblosen Körper am Altar erblickte. Er blieb abrupt stehen, ging ein paar Schritte nach vorne und hielt erneut inne. Seine knochigen Hände wanderten an seine Kehle und er gab ein ersticktes Geräusch von sich, bevor er sich wieder zusammenriss. „Gott im Himmel! Oh...“ er seufzte mit zitternder Stimme, „Gute Güte. Myrtle, wir sollten hier raus. Wir müssen die Polizei anrufen. Oder den Notarzt. Mein Büro ist nur den Korridor hinunter...“ Er wirbelte mit seinen Armen hilflos durch die Luft wie ein dürrer Jungvogel, der gerade das Fliegen lernte.
Myrtle hatte nicht vor, die Kirche so schnell wieder zu verlassen. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Herr Pfarrer. Ich werde... ähm... hierbleiben und aufpassen, dass keiner Beweise verwischt. Parke braucht wohl keinen Krankenwagen mehr. Rufen Sie bitte Red an.“ Myrtles Sohn Red war der Polizeichef von Bradley. Der Pfarrer hastete in sein Büro.
Der Mordschauplatz hatte etwas Düsteres an sich. Die Kanzel warf unheimliche Schatten auf die blonde Leiche auf dem Boden. Sogar die Blutflecken wirkten kunstvoll drapiert und Parkes Haare waren nur leicht zerzaust und verklebt. Rosen lagen auf dem Altar, auf Parke und auf dem Boden verteilt und erinnerten subtil an den Gewaltakt. Seltsam war nur ‒ Myrtle kniff ungläubig die Augen zusammen ‒ dass Parke ihr Oberteil falsch herum anhatte. Das sah ihr so gar nicht ähnlich.
Sie lag in einer dramatischen Pose vor dem Altar, eine zerbrochene Kristallvase um sie herum verteilt. Myrtle näherte sich der Leiche und fragte sich, ob sie wohl noch ein paar Informationen herausfinden konnte, bevor Red mit quietschenden Reifen in seinem Streifenwagen vorfuhr und sie aus der Kirche warf, bevor sie bis drei zählen konnte.
Myrtle war von sich selbst überrascht, als sie sich hinunterbeugte und Parkes nackten Arm berührte. Sie war noch warm. Der Mord war also erst vor kurzem geschehen... Die Stille in der Kirche fühlte sich plötzlich unheimlich an und Myrtle stellten sich die Nackenhaare auf.
Parke war offensichtlich an stumpfer Gewalteinwirkung gestorben. Aber was war die Tatwaffe? Der Altar war das reinste Chaos und es hätte so gut wie jeder der schweren Gegenstände sein können, die sich entweder auf oder um den Altar herum befanden.
Hatte der Angreifer Parke die Kristallvase auf den Kopf geschlagen oder war sie im Kampf runtergefallen? Eine schwere Messingschale, die für die Spenden verwendet wurde, könnte als Waffe benutzt worden sein. Oder die großen Kerzenständer aus Messing, die auf dem Altar verteilt lagen.
Myrtle trat näher heran, um die Blutspuren auf der Messingschale zu begutachten und bemerkte, dass unter all den Rosen ein Handy auf dem Altar lag. Sie legte ihren Spazierstock nieder, nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und nahm das Telefon auf. Die 'gute Myrtle' ermahnte sie, keine Beweisstücke zu verunreinigen, aber die 'böse Myrtle' hielt dagegen, dass sie ein gottgegebenes Talent für das Lösen von Rätseln hatte. Nun gut, zugegebenermaßen löste sie meist Kreuzworträtsel, aber die konnten genauso knifflig sein wie ein Mord. Sie half der Polizei also. Die 'gute Myrtle' verstummte.
Myrtle klickte sich durch das Menü, bis sie die Anruflisten fand. Parke Stockard hatte mit Sicherheit ein volles Telefonbuch, aber Myrtle bezweifelte, dass es sich bei allen Kontakten um Freunde handelte. Die letzten Anrufe gingen an drei verschiedene Nummern. Sie versuchte, den Anrufbeantworter abzuhören, legte allerdings enttäuscht auf, als ein Passwort verlangt wurde. Sie legte das Telefon dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte und setzte sich in eine Kirchenbank, um auf Nathaniel zu warten. Als sie sich umsah, entdeckte sie eine große Bibel unweit von ihr entfernt ‒ mit Sicherheit keine Bibel aus der Kirche, angesichts der Zettel und Post-itʼs, die herausragten. Sie ging die Kirchenbank entlang, öffnete das Buch und erblickte Kitty Kirks Namen, der in geschwungener Schulmädchen-Schreibschrift auf der ersten Seite stand.
Sie klappte das Buch zu, als die Tür geöffnet wurde und blieb ruhig sitzen, als Nathaniel wieder in die Kirche trat. „Red ist auf dem Weg“, sagte er. Der Pfarrer warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche und seufzte. Mit gerunzelter Stirn stieg er behutsam die Stufen zum Altar hoch. „Seltsam“, murmelte er.
„Was denn?“
„Die Blumen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich heute Morgen Rosen in dem Arrangement befunden hätten.“ Er runzelte die Stirn. „Ein Mitglied unserer Kirchengemeinde ist stark allergisch auf Rosen und Kitty hat immer darauf Acht gegeben, keine für die Blumendekoration zu verwenden.“ Es schien, als wollte er fortfahren, er sagte aber nichts mehr.
„Ich hätte nie gedacht, dass sie ermordet werden könnte“, sagte er mit gedämpfter Stimme und schien mehr zu sich selbst zu sprechen.
„Haben Sie damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte, Herr Pfarrer?“
Er schüttelte energisch den Kopf. „Nicht so etwas. Ich hätte mit Red gesprochen, hätte ich damit gerechnet, dass Parke etwas zustoßen könnte. Aber ich muss gestehen, dass sie wohl nicht allzu beliebt war.“
Myrtle runzelte bei dem Gedanken daran die Stirn. „Das überrascht mich nicht.“
„Aber sie hatte das Herz am rechten Fleck“, erwiderte er.
„Schon Dorothy Parker sagte: Wenn du wissen willst, was Gott von Geld hält, sieh dir die Menschen an, denen er es gegeben hat“, sagte Myrtle.
Nathaniel lächelte mild und begutachtete dann erneut ängstlich die Leiche. Die größte Wohltäterin der Kirche tot aufzufinden, setzte dieser Woche noch die Krone auf. Sie war auch ohne diesen Vorfall schon die schlimmste seiner gesamten Amtszeit gewesen. Er hatte die ganze Woche über Beschwerdeanrufe wegen der neuen Gesangsbücher erhalten, die Parke Stockard gespendet hatte. In der Messe letzte Woche hatten sie „Gott unserer Väter“ gesungen. Ganz im Sinne der politischen Korrektheit wurde das Loblied diplomatisch auf „Gott unserer Zeiten“ umgedichtet, was dem Großteil der Kirchengemeinde offensichtlich missfiel.
Plötzlich nahm Myrtle einen Geruch wahr. Sie hatte es in der Aufregung über Parkes Leiche nicht sofort bemerkt, aber sie war sich nun sicher, dass Zigarettenrauch in der Luft hing. Als ehemalige Raucherin entging ihr nicht der zarteste Hauch des vertrauten Duftes. In ihren Gedanken tauchte das Bild eines glatzköpfigen, knallharten Kerls mit Dreitagebart auf, der mit einer Kippe im Mundwinkel Parke umbrachte und dabei der Fairness halber noch einen Arm hinter den Rücken gebunden hatte. Aber der Geruch war zu schwach, als dass jemand in der Kirche geraucht haben konnte. Es war eher wahrscheinlich, dass der Mörder zuvor geraucht hatte und Myrtle nur noch den Geruch wahrnahm, der in den Kleidern hängen geblieben war. Das bestätigte, dass Parke noch nicht lange tot sein konnte.
Ihre Unterhaltung wurde vom Heulen der Sirenen unterbrochen, bevor kurz darauf der Kies auf dem Parkplatz vor der Kirche knirschte, als ein Auto einbog, jemand ausstieg und die Autotür zugeschmettert wurde. Einen Moment später kam Myrtles Sohn, der Polizeichef von Bradley, in die Kirche geeilt, dicht gefolgt von zwei Polizeibeamten. Das rote Haar, das Red seinen Spitznamen verliehen hatte, war mittlerweile grau meliert, was er seiner Meinung nach nicht seinem Alter, sondern den Sorgen über seine Mutter zu verdanken hatte. Sein raues Aussehen wurde noch verstärkt von einer Narbe, die sich seitlich über sein Gesicht zog. Red ließ andere gerne in dem Glauben, dass er sie sich im Einsatz zugezogen hatte, aber in Wahrheit stammte sie von einer unglücklichen Kombination aus einer selbstgebastelten Rampe, einem Red ohne Fahrradhelm und ein paar Achtjährigen, die ihn angestachelt hatten. Seine grünen Augen glitten flüchtig über den Tatort, bis sein Blick an Myrtle haften blieb.
„Mama!“ Die Röte stieg ihm ins Gesicht. „Hast du es darauf abgesehen, mir den Tag zu vermiesen? Zuerst tauchen die Gartenzwerge wieder auf und dann findest du eine Leiche in der Kirche?“
„Na, irgendjemand musste die Leiche ja entdecken, Red. Immerhin weißt du, dass ich keine Verdächtige bin.“
Red sah sie drohend an, was nicht besonders schwer war, angesichts seiner 1,95 Meter. „Da bin ich mir nicht ganz sicher, Mama. Ich kann mich daran erinnern, dass mir Elaine von deinem Clinch mit Parke Stockard erzählt hat.“
Myrtle sah ihn empört an. „Das war kein Clinch. Das war... eine Meinungsverschiedenheit.“ Die Gartenzwerge würden schön lange draußen bleiben.
Red drehte sich erneut zur Leiche. „Ich habe die State Police alarmiert. Und ich muss euch beide bitten, die Kirche zu verlassen und eure Aussage zu Protokoll zu geben.“
Myrtle bewegte sich langsam in Richtung Tür, während sie sich nochmals umsah.
„Na los, Mama.“
„Jetzt drängle doch nicht immer so, Red“, antwortete sie eingeschnappt. „Ich muss erst meinen Spazierstock suchen.“
Red blickte sich um und kniff dabei seine grünen Augen zusammen. „Wo ist der überhaupt? Eigentlich solltest du ihn ja in der Hand haben. Oder er sollte zumindest gleich neben der Kirchentür stehen. Habe ich recht?“ Er atmete tief ein, um seine Wut zu bändigen, ging an der toten Parke vorbei und hob Myrtles Spazierstock auf. „Wir wollen doch keine Spuren verwischen, nicht wahr?“
„Um Himmels willen. Ich bin nur näher an sie herangegangen, um mich zu versichern, dass die arme Frau nicht doch noch lebt und einen Krankenwagen braucht.“
Red schnaubte. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass darüber noch Zweifel bestanden.“ Er sah den Spazierstock in seiner Hand an, der neben Kittys Bibel auf der Kirchenbank gelegen hatte, und scheuchte Myrtle in Richtung der Kirchentür, wo Nathaniel immer noch ängstlich wartete. Seine Hand umgriff Myrtles Arm. Als diese aufsah, erblickte sie eine Gestalt, die sich aus ihrem Blickfeld durch die Tür duckte.
„Hey! Stopp! Polizei!“ bellte Red, als er und ein Polizeibeamter zur Tür eilten. Einen Augenblick später erschien Althea Hayes, vornehm gekleidet in einem hellgrünen Blazer und einem Blumenrock. Sie bedeckte sich mit der zitternden Hand den Mund, als sie Parkes Leiche erblickte. Altheas weißes Haar war wie immer sorgfältig am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden und wurde von einer Spange fixiert. Myrtle beneidete Althea um ihr Haar: Es war dick und da, wo es hingehörte. Myrtles Haar, in ihrer Jugend noch fein und unbändig, war mittlerweile spröde und das Gegenteil von Altheas Haar. Sie bändigte es einmal im Monat mit einer Dauerwelle, was das Haar jedoch nur noch mehr strapazierte. Obwohl Althea ganz außer Atem zu sein schien, hatten sich nur ein paar Strähnen aus dem Knoten gelöst. Myrtle war sich ziemlich sicher, dass sie selbst mittlerweile Einstein verdächtig ähnlich sehen müsste ‒ seitdem sie Parke entdeckt hatte, war sie sich bereits mehrmals mit der Hand durchs Haar gefahren.
„Mrs. Hayes“, sagte Red überrascht. „Was machen Sie hier?“
„Ich...“, setzte Althea an, schluckte dann schwer und sah zu Parke. „Ich bin für das Treffen des Kirchenkreises hier.“
„Das findet aber drüben im Speisesaal statt, nicht wahr?“
Nathaniel Gluck mischte sich ein. „Das stimmt, aber ich bin mir sicher, dass Althea noch das Blumenarrangement überprüfen wollte, nicht wahr? Da du und Kitty euch ja einige Aufgaben der Altargilde teilt.“ Er sah Althea auffordernd an.
Diese nickte zögerlich und sah immer noch zur Leiche hinüber.
Red sah sie unvermittelt an. „Mrs. Hayes, haben Sie irgendetwas gesehen oder gehört, als Sie die Kirche betreten haben?“
Althea schüttelte energisch den Kopf. Sie versteckt irgendetwas, dachte Myrtle.
„Kommen Sie“, sagte Red energisch, „wir müssen uns vom Tatort entfernen. Ich muss noch einen Anruf tätigen und eure Aussagen aufnehmen. Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir das auf der Wache erledigen, da die Spurensicherung die Kirche durchsuchen wird.“
„Und darin die Fingerabdrücke und die DNA von jedem einzelnen finden wird“, sagte Myrtle.
„Was...“ stieß Red aus, als ein Lärm zu ihnen drang, der auf eine Autoparade schließen ließ. Er hastete zu einem der dreckigen Fenster und spähte durch eine rote Scheibe. Red stieß einen Fluch aus, den er hastig auf „Sch...ande!“ korrigierte, als er sich daran erinnerte, dass er sich noch immer in der Kirche befand. „Ganz Bradley ist da draußen.“
„Da kannst du dich bei keinem Geringeren als dir selbst und deinen Sirenen bedanken“, sagte Myrtle und schritt erhobenen Hauptes durch die Kirchentür.
*****
Die Szene, die sich vor ihnen abspielte, erinnerte an eine Horde Paparazzi. Es waren so ziemlich alle Frauen anwesend, die für gewöhnlich die Kirche besuchten, von denen einige noch ihre Morgenmäntel anhatten und Lockenwickler im Haar trugen. Josh Tucker, der Reporter vom Bradley Bugle, schoss Fotos und nieste dabei heftig. Zwischen dem Niesen und Husten hantierte er mit seiner Kamera und machte sich Notizen. Kitty Kirk, die Leiterin des Kirchenkreises, sah sonderbar aus und ihr Teint war aschfahl. Sie starrte den Reporter verwirrt an. Myrtle vermutete, dass das an Erma Sherman liegen musste, Myrtles neugieriger Nachbarin, die sich durch die Menge geschoben hatte und nun an Josh Tuckers Arm hing und ihn dümmlich angrinste. Myrtle nahm an, dass er Ermas Begeisterung nicht teilte: Er war kreidebleich und ignorierte sie betont, während er den nächsten Niesanfall bekam. Vielleicht war er auf sie allergisch.
Ermas wieherndes Lachen und ihre großen Schneidezähne ließen sie unglücklicherweise wie einen Esel aussehen. Sie hatte zahlreiche Wehwehchen, die sie nur zu gerne jedem mitteilte. An was sie auch immer litt, ihre Augen und Ohren waren ausgezeichnet, ganz zu Myrtles Frust und Missfallen, die versuchte, heimlich an ihr vorbeizuschleichen. Der Zigarettenrauch fiel ihr plötzlich wieder ein, weshalb sie sich Josh und Erma näherte und vorsichtig an ihnen schnüffelte. Sie konnte nichts riechen und bewegte sich langsam durch die Menge, während sie weiterhin die Gerüche um sich aufnahm ‒ vergebens. Ihr Unterfangen wurde abrupt unterbrochen, als Reds bebende Stimme über die Menge dröhnte. „Alle begeben sich jetzt wieder zu ihren Autos und fahren dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Das hier ist ein Tatort.“
Seine Aussage ließ die Kirchenfrauen entsetzt die Luft anhalten, ein Blick auf Red ließ sie jedoch folgsam gehorchen. So kehrten sie widerwillig zu ihren Wägen zurück, während der Reporter des Bugles noch immer niesend Fotos schoss, dicht gefolgt von Erma Sherman.
„Geh schon mal zu meinem Wagen, Mama“, sagte Red. „Wir fahren auf die Wache, wo ich deine Aussage aufnehmen werde. Ich muss nur noch kurz mit Pfarrer Nathaniel sprechen und bin dann bei dir. Die State Police kommt vorbei und Detective Lieutenant Perkins wird sich mit dir unterhalten wollen.“
„John Perkins wurde der Fall zugeteilt? Immerhin jemand, den ich kenne.“
Red sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Stimmt... das hatte ich schon ganz vergessen. Wir haben dich zum Abendessen eingeladen, als er für einen Fall hier war. Es überrascht mich, dass du dich noch an ihn erinnern kannst.“
Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Red schon davonging. Myrtle konnte sich sehr gut an Detective Lieutenant Perkins erinnern. Sie hatte während des Abendessens versucht, Informationen über einen Mord an einer hochrangigen Person aus ihm herauszulocken. Er war ein netter Mann ‒ abgesehen von der Tatsache, dass er ihr nicht die kleinste Kleinigkeit verraten hatte. Selbst die Wachen des Buckingham Palace wirkten neben ihm gesprächig.
Myrtle hoffte, dass er sich dieses Mal nicht so stoisch benahm. Den Fall vor Red oder der State Police zu lösen, würde Eindruck machen und Red für sein selbstherrliches Benehmen eins auswischen.
Myrtle setzte sich auf den Vordersitz und wartete auf Red. Hätte sie sich auf die Rückbank gesetzt, würde nur das Gerücht aufkommen, Myrtle Clover hätte Parke Stockard umgebracht. Nicht, dass Parke es nicht provoziert hätte.
Die Fahrt zur Wache dauerte mit Red am Steuer nur ein paar Minuten. Myrtle erblickte eine Gruppe Menschen an einem Holztisch vor einem Diner sitzen, als Red vor dem alten Gerichtsgebäude aus Backsteinen, in dem sich auch die Polizeiwache befand, hielt. In Bradley, North Carolina, sprachen sich Gerüchte in Windeseile herum.
„Diese Geier“, stieß Myrtle aus.
„Mama, die sitzen immer vor Bo’s Diner. Sie trinken hier jeden Morgen ihren Kaffee, sitzen zusammen und unterhalten sich. Das hat nichts mit dem Mord zu tun.“
„Normalerweise haben sie aber nicht ihre schnatternden Gänse dabei.“
„Schnatternden...? Du meinst ihre Frauen? Die genießen wahrscheinlich einfach gemeinsam mit ihren Ehemännern ihre Rente.“
Myrtle entging nicht, wie sich die Frauen in ihre Richtung lehnten und hoffnungsvoll ihre Hörgeräte lauter drehten, als Red und sie die Polizeiwache betraten. Sie konnten ihnen ihre Neugier jedoch nicht übelnehmen. In Bradley, mit seinen 1.500 Einwohnern, passierten für gewöhnlich kaum Morde. Die Kriminalität beschränkte sich hauptsächlich auf Bud Dickens und Crockett Scott, die mehrere Abende nacheinander sturzbetrunken waren und in den nächtlichen Straßen lauthals Schlager zum Besten gaben.
Red hielt seiner Mutter die verwitterte Holztür auf, worauf diese in die winzige Wache trat. Sie musste vorsichtig gehen, damit sie auf dem unebenen Fußboden aus Kiefernholz nicht stolperte, der unter ihren Füßen knarrte und ächzte.
Ganz nach Protokoll hatte Red zuerst die State Police benachrichtigt, nachdem der Pfarrer ihn angerufen hatte. Als Red ihr eine Cola einschenkte, war bereits ein Teil der Spurensicherung angekommen und schaute noch kurz auf der Wache vorbei, bevor sie sich zur Kirche aufmachten.
Die Tür wurde geöffnet und ein großer, schlaksiger Mann mit einem typischen Militär-Stoppelhaarschnitt trat ein. Detective Lieutenant Perkins begrüßte sie höflich und bedächtig. Myrtle entschied, seine zurückhaltende Art gleich mit einer überschwänglichen Umarmung zu durchbrechen. Es war sicherlich das Beste, ihn gleich zu überrumpeln, um Informationen aus ihm herauszubekommen. Auf ihre feste Umarmung hin stieß er ein überraschtes „Uff“ aus, schien sie jedoch allem Anschein nach wiederzuerkennen.
„Mrs. Clover“, sagte er. Er führte sie in Reds kleines Büro und schloss die Tür. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, auch wenn die Umstände nicht so erfreulich sind wie letztes Mal. Könnten Sie mir kurz schildern, was Sie heute Morgen zur Kirche geführt hat und was passiert ist, als Sie dort ankamen?“ Er nahm von Reds Schreibtisch einen Notizblock und einen Stift in die Hand.
Myrtle atmete tief ein und beschrieb die Geschehnisse des Tages, wobei sie peinlichst genau darauf einging, wie sich Red in ihr tägliches Leben einmischte und wie furchtbar doch die Aufgaben in der Altargilde und dem Kirchenkreis waren. Sie beschrieb dann melodramatisch, wie sie Parke Stockard aufgefunden hatte und ahmte dabei lebhaft die Geräusche nach. Einzig die Hinweise, die sie gefunden hatte, und ihren kurzen Blick auf Parkes Handy erwähnte sie nicht. Als sie ihren Monolog beendet hatte, faltete sie ihre Hände im Schoß und wartete seine Reaktion ab. Diese blieb jedoch aus, denn Perkins setzte nur bedächtig die Kappe wieder auf den Stift und klopfte mit diesem sanft gegen das Notizbuch.
„Was denken Sie, was vorgefallen ist, Mrs. Clover? Warum sollte Parke Stockard ausgerechnet dort ermordet werden, wo sie so viel Geld und Mühe in die Gemeinschaft von Bradley investiert hat?“
Myrtle zögerte. Sie würde Perkins besser nicht mit seinen Ermittlungen weiterhelfen, wenn sie den Fall alleine lösen wollte. Er sollte schön selbst nachforschen.
„Sie würden mir sehr helfen, Mrs. Clover, wenn Sie mir Ihre Meinung verraten würden. Sie verfügen offensichtlich über wertvolles Wissen, das uns helfen könnte, in die richtige Richtung zu ermitteln.“
Zumindest schien jemand ihre Meinung zu würdigen. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihm helfen musste. Außerdem wusste sie nicht wirklich etwas. „Ich befürchte, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, Detective.“ Perkins sah sie stirnrunzelnd an, woraufhin sie hastig hinzufügte: „Die arme Parke.“ Überzeugend klang sie dabei jedoch nicht.
Er klappte seinen Notizblock zu und stand auf. „Vielen Dank, Mrs. Clover. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, wenden Sie sich bitte an Red.“ Als Myrtle das Gesicht verzog, fügte er hinzu: „Oder Sie rufen mich an.“ Er reichte ihr seine Karte und wartete höflich, bis sie aus dem tiefen Sessel aufgestanden war, kam aber nicht auf die Idee, ihr seine Hilfe anzubieten. Sie fragte sich, ob Red den Zigarettenrauch ebenfalls gerochen hatte. Aber er schien so außer sich darüber gewesen zu sein, dass sie die Leiche entdeckt hatte, dass er wohl nichts wahrgenommen hatte.
Reds Gesichtsausdruck zufolge, war er wohl immer noch sehr aufgebracht, stellte Myrtle fest, als sie zurück in den Hauptraum der Wache ging. Er bot ihr jedoch an, sie nach Hause zu fahren. Zumindest nahm sie an, dass er das vorschlagen wollte. Die Worte, die er zwischen seinen knirschenden Zähnen hervorpresste, waren nur schwer zu verstehen.
Sie fuhren los. Myrtle warf einen Blick auf die Uhr. „Gerade rechtzeitig für Das Versprechen von Morgen.“
Red lachte trocken. „Elaine hat vor einer Weile angerufen und nach dir gefragt. Ich werde sie zurückrufen und ihr ausrichten, dass es dir gutgeht. Du scheinst die Leiche ja gut verkraftet zu haben, wenn du in Gedanken schon bei deiner Seifenoper bist.“
„Das Versprechen von Morgen handelt von etwas ganz Ähnlichem und könnte hilfreiche Perspektiven bieten, Red. Angelique bringt in der Serie alle auf die Palme ‒ auch wenn sie bipolar ist und nicht wirklich etwas dafür kann, die arme Seele. Cliff sorgt für Aufruhr und ist auf Ärger aus, weil Angeliques Ex-Mann sein Bruder ist und sie ihn stalkt, weil er sich mit Cliffs Schwägerin trifft, die jetzt auch noch schwanger ist...“
„Und wie genau erinnert dich das an Parkes Mord?“
„Weil Angelique umgebracht wurde, ganz einfach. Warum denn sonst?“
Red krallte seine Finger um das Lenkrad, während er in Myrtles Einfahrt einbog.
„Du solltest mal zum Arzt wegen der Nerven, Red. Deine Adern stehen auf deiner Stirn schon richtig hervor. Hoffen wir mal, dass das kein Bluthochdruck ist.“ Mit diesen Worten kletterte Myrtle aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Gartenzwerg-Kolonie zu ihrer Haustür, als Red schon wieder davonraste.