image
image
image

Kapitel 7

image

Die Tür des Diners fiel hinter Myrtle ins Schloss. Es war einer dieser Nachmittage, an denen die Brise einen noch mehr erhitzte anstatt abzukühlen. Sattgegessen an ihrem schweren Fastfood wie sie war, stand nun ein Nickerchen während ihrer Lieblingssoap Das Versprechen von Morgen auf dem Programm.

Ihre Pläne wurden jedoch von einem „Huuhuu“ hinter ihr durchkreuzt. Myrtle verzog ihr Gesicht, als Erma Sherman neben ihr zum Stehen kam, die Autotür öffnete und auf Myrtle zugelaufen kam. Sie trug ein Kleid mit großem Blumenmuster, das wie ein Zelt an ihr hing.

Myrtle fuhr zusammen, als Erma ganz nah an sie herankam, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie entblößte ihre großen Vorderzähne für ein ‒ so schien sie anzunehmen ‒ umwerfendes Lächeln. „Wohin des Weges, Myrtle? Ich kann dich fahren. Du solltest nicht zu Fuß zum Supermarkt gehen. Gestern stand es noch ganz schlecht um dich und du siehst noch kein bisschen besser aus.“

„Danke“, murmelte Myrtle. Es war aussichtslos, ihr zu erklären, dass sie nicht auf dem Weg zum Supermarkt war oder dass es ihr bestens ging... Erma Sherman war eine unbändige Laune der Natur.

Erma ignorierte Myrtles schwachen Protest und schob sie zu ihrem alten Cadillac. Im Inneren des Wagens roch es nach Menthol-Hustenbonbons. Als sie losfuhren, gab Erma großzügig und lauthals Einsicht in ihre Fußballenentzündung. Sie musste entweder halb taub oder darauf versessen sein, ihr Publikum zu unterhalten. Schon bald fuhren sie an Myrtles Haus vorbei, wobei Myrtle gegen das Autofenster klopfte und hilflos auf ihr Haus gestikulierte. Erma aber fuhr unbeirrt weiter. Myrtle ergab sich schließlich ihrem Schicksal und ließ sich in den Sitz sinken. Es war unglaublich, wie viel Unsinn aus Ermas Mund kam. Ohne ihrem Monolog Beachtung zu schenken, beobachtete Myrtle ihr Gesicht. Erma sah einer Ratte verblüffend ähnlich und Myrtle erwartete beinahe schon, dass ihr Schnurrhaare wuchsen.

„... vor allem seitdem Kitty Parke vergiftet hat. Das war nämlich kein Versehen. Aber weißt du, ich habe Kittys Eintöpfe auch nie gemocht. Vor allem nicht ihren Hühnereintopf. Da muss ich Parke also zustimmen. Meine Magenprobleme, weißt du. Letztens habe ich Tunfisch gegessen...“

„Was?“ rief Myrtle. Erma hielt überrascht inne. „Wovon redest du? Kitty hat Parke Stockard vergiftet? Wie bitte?“

Erma sah sie verblüfft an. „Na, an diesem Mittwoch vor ein paar Wochen. Parke hatte sich schon seit Monaten über Kittys 'fade Eintöpfe' beschwert. Und alle wussten, dass Parke gegen Meeresfrüchte allergisch war. Kitty allen voran. Sie hat ja auch immer so gut Acht gegeben, wenn sie die Blumendekoration für die Altargilde gemacht hat ‒ keine Rosen, du weißt schon. Wegen diesem wunderbaren Reporter beim Bugle, Josh Tucker. Er ist gegen Rosen allergisch. Deswegen hat sie immer Wiesenblumen genommen...“

„Was war jetzt mit dem Vergiften?“ presste Myrtle zwischen ihren Zähnen hervor, um eine weitere Liebeserklärung von Erma Sherman an Josh Tucker zu unterbinden.

„Sie hätte also darauf geachtet, keine Meeresfrüchte in den Eintopf zu geben für das Abendessen, das immer mittwochs stattfindet. So Sachen schreibt sie sich nämlich auf. Außerdem reicht das Budget der Kirche höchstens für Hühnchen und nicht für Meeresfrüchte.“

Myrtle seufzte verzweifelt.

„Aber sie hat Krabbenfleisch genommen und allen gesagt, es wäre eine neue Hühnchenkreation.“ Erma quietschte vor Lachen. „Es war tatsächlich eine neue Kreation. Parkes Gesicht ist angeschwollen, sie hat einen Ausschlag und kaum mehr Luft bekommen. Sie mussten sie sogar ins Krankenhaus bringen. Habe ich dir schon erzählt, dass ich letzthin auch im Krankenhaus war? Ich hatte da so einen Stein...“

Myrtle klinkte sich wieder aus. Machte sich Kitty Sorgen, die Polizei könnte sie wegen der Geschichte mit den Meeresfrüchten vor ein paar Wochen befragen? Oder hatte sie erneut gegen Parke Stockard ausgeholt und sie dieses Mal sogar umgebracht?

„Na ja, ich bin froh, dass es dir wieder besser geht, jetzt, wo ich ein paar Tage weg sein werde.“ Sie wartete kurz, um Myrtle die Gelegenheit zu geben nachzuhaken. Diesen Gefallen tat Myrtle ihr nicht.

„Ich fahre ins Casino, das Indianercasino im Reservat. Du musst da mal mit hin. Manchmal bringe ich echt viel Geld mit nach Hause. Ich war halt schon immer ein Glückskind.“

Das wiederum bezweifelte Myrtle stark. Zumindest was ihr Aussehen betraf, war sie nicht vom Glück geküsst worden. Um schließlich irgendetwas zu sagen, erwiderte sie: „Ich spiele nicht, Erma, deshalb werde ich wohl eher nicht mitkommen.“

„Aber es würde dir Spaß machen, wir fahren immer mit dem Bus hin. Mit dem Senioren-Freizeitprogramm. Außerdem spielen sehr viele. Du wärst überrascht.“

Myrtles Gesichtsausdruck zeigte nur wenig Überraschung, weshalb Erma fortfuhr: „Sogar die Reichen spielen. Cecil Stockard zum Beispiel habe ich dort schon oft gesehen.“ Als sie bemerkte, dass sie endlich Myrtles Aufmerksamkeit hatte, fuhr sie großspurig fort: „Und er ist ein High Roller. Du weißt schon, einer von denen, die...“

„Ich weiß, was ein High Roller ist“, fuhr Myrtle sie ungeduldig an. „Bist du dir da sicher?“

„Natürlich bin ich mir sicher. Ich habe sogar gehört, dass er auch online spielt. Mich würde nur interessieren, ob er schon große Gewinne gemacht hat.“

Oder eher große Verluste. Das wäre ein Mordmotiv.

Myrtle wurde unsanft in die Realität zurückgeholt, als Erma einen Randstein überfuhr, diagonal in eine Parklücke schlitterte und auf die Bremsen trat.

„Da wären wir. Wir sehen uns dann später.“ Myrtle wollte gerade etwas erwidern, als auch schon die Fahrertür zugeknallt wurde. So schnell sie gekommen war, war Erma auch wieder verschwunden und zwängte sich schon durch die Ausgangstür des Supermarkts.

Myrtle saß noch ein paar Minuten verdutzt in Ermas Auto, bevor sie in ihrer Handtasche nach ihrem Telefon suchte.

„Elaine? Gut, dass ich dich erwische! Kannst du mich beim Supermarkt abholen? Erma Sherman hat mich entführt. Ich wollte eigentlich nach Hause gehen, aber die hat mir mein letztes bisschen Energie geraubt. Brauchst du etwas vom Supermarkt? Nein? Ja, in fünf Minuten wäre super.“

Myrtle stieg aus dem alten Cadillac, was gar nicht so leicht war, angesichts der Tatsache, dass sie beinahe auf Höhe des Asphalts saß. Sie schmetterte wütend die Tür zu und ging zum Eingang des Supermarkts, wo sie sich an die Wand lehnte, um auf Elaine zu warten.

Es war ein drückend heißer Tag. So heiß, dass sogar vom Asphalt auf dem Parkplatz Dampf aufstieg. Myrtle fluchte und wünschte sich, sie würde mehr schwitzen, um etwas abzukühlen. Es war einer dieser Tage, an denen der Eiswagen durch die Straßen fuhr und durstige Kinder zum Strahlen brachte. Und einer dieser Tage, an denen das Eis sofort schmolz, kaum war es aus der Tiefkühltruhe draußen.

Ein Mercedes raste auf den Parkplatz und Benton Chambers, der Stadtrat, sprang heraus. Na ja, springen war übertrieben, denn er ging an einem Stock und trug einen großen Gips am rechten Fuß. Myrtle beobachtete ihn. Er schien sich angeregt mit sich selbst zu unterhalten. Dann erblickte sie das Headset an seinem Ohr.

Als er an Myrtle vorbeihumpelte, war er immer noch in sein Gespräch vertieft. Sie verzog das Gesicht. Sie war sich sicher, dass sie nicht so geschrien hatte, als sie Elaine angerufen hatte. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die in ihre Handys schrien.

„Ich kümmere mich darum, Don. Ja, das Dokument liegt vor mir auf meinem Schreibtisch und ich lese es mir gerade in diesem Moment durch.“ Benton blickte in Myrtles überraschtes Gesicht und zwinkerte ihr zu. Sie nahm an, dass Politiker ständig wegen irgendetwas flunkerten.

Elaines grüner Minivan bog in eine Parklücke und Myrtle setzte sich auf den Beifahrersitz. Elaine sah erschöpft aus. Ihr normalerweise sorgfältig frisierter Bob stand in alle Richtungen ab. Sie war sich wohl öfters durch die Haare gefahren. Jean-Marc saß süffisant grinsend auf der Rückbank. „Er hat versehentlich die Kaffeemaschine kaputt gemacht“, murmelte Elaine. Es war keine weitere Erklärung notwendig. Myrtle konnte sich nur zu gut vorstellen, wie im Hause Clover ein Morgen ohne eine ausreichende Ladung Koffein ablief. Red ohne Kaffee? Das war sicher kein schöner Anblick gewesen. Myrtle warf einen misstrauischen Blick nach hinten (sie war sich sicher, dass Jean-Marc mehr Englisch verstand, als er zugab) und erzählte Elaine dann von ihrer Entführung durch Erma Sherman und ihrer Unterhaltung oder, besser gesagt, ihrem Monolog. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob Elaine überhaupt zuhörte. Jean-Marc auf der Rückbank schenkte ihr da schon mehr Aufmerksamkeit. Er nickte, als sie sich kurz zu ihm umblickte. „Erma Sherman“, wiederholte er. Dann deutete er etwas an, das verdächtig nach einem großen Nagetier aussah. Er sah Myrtle fragend an und sie nickte zustimmend. Er sprach von Erma, keine Frage. Jack kicherte und imitierte nun ebenfalls ein Nagetier.

„Übrigens, danke, dass du mir ein neues Telefon gekauft hast, Elaine.“

„Hmm? Oh, ja genau, es hat allen Schnickschnack.“

Und genau das mochte Myrtle daran nicht. Aber sie nahm an, dass es schlichtweg keine einfachen Telefone mehr gab. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sie den Klingelton ändern konnte, damit nicht jedes Mal die Nationalhymne der USA ertönte, wenn sie jemand anrief.

Elaine bemerkte, dass Myrtle auf eine Reaktion wartete. Sie waren mittlerweile in Myrtles Einfahrt angekommen und sie bemerkte plötzlich, dass ihre Schwiegermutter keine Anstalten machte, die Tür zu öffnen. Offensichtlich erwartete sie eine Antwort. „Ähm... Ja genau, arme Erma. Fußballenentzündungen sind furchtbar. Na ja, ich werde dann mal eine neue Kaffeemaschine besorgen. Kannst du von hier aus zu Fuß gehen?“

Myrtle öffnete bedächtig die Autotür und stieg aus. Es würde also kein Detektiv-Duo geben ‒ Elaine war zu beschäftigt. Sie war auf sich alleine gestellt.