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Kapitel 9

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Nachdem Myrtle von Erma regelrecht gekidnappt worden war, fuhr Myrtle schwerere Geschütze auf, um ihr aus dem Weg zu gehen. Die kurze Pause, die sie Ermas Kurzurlaub im Casino zu verdanken hatte, hatte ihr nur Lust auf mehr gemacht: mehr Ruhe vor Erma. So fing sie damit an, vor dem Verlassen des Hauses mehrere Minuten lang durch die Vorhänge zu spähen, ihre Post in Windeseile zu holen und die Nummernanzeige ihres Telefons zu aktivieren.

Da Myrtle einige Zeit damit verbrachte, durch die Vorhänge zu linsen, bemerkte sie, dass der Pilgervater (wie sie ihn in Gedanken nannte) genauso hastig zu seinem Auto und wieder zurück ins Haus spurtete wie sie selbst. Das könnte bedeuten, dass er kein ganz hoffnungsloser Fall war. Vielleicht hatte er Ermas weniger reizendes Wesen in den letzten Wochen bereits erkannt. Womöglich war er aber auch einfach nur der Schar an hartnäckigen Witwen leid, die ihn bei jeder Gelegenheit belagerte. Myrtle war es nicht entgangen, dass er mehrmals nicht geöffnet hatte, als wieder einmal eine Interessentin mit einem Eintopf bewaffnet vor der Tür stand. Dass seine Lichter auch lange nach Mitternacht noch brannten, deutete außerdem darauf hin, dass er wohl wie Myrtle lange wach war. Ob er wohl genauso schlecht schlief wie sie? Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass es Menschen gab, die genauso schlaflos waren wie sie.

Myrtle saß in ihrer Küche und trank mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen ihren Kaffee. Ihre Vorkehrungen hatten überraschend gut gewirkt, sodass Myrtle Erma schon über eine Woche meiden hatte können. Wie es Erma wurmen musste, dass sie ihren Klatsch und Tratsch für sich behalten musste. Myrtle schmunzelte.

Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Erma auf die Post zurückgreifen würde, um sie zu sprechen. So erhielt Myrtle eines Morgens einen Brief. Wobei es weniger ein Brief als vielmehr eine Schmähschrift war. Erma klagte darüber, dass ihr schlechter Gesundheitszustand während der letzten Woche sie davon abgehalten hatte, Myrtle zu besuchen ‒ ihre Anstrengungen waren also überflüssig gewesen. „Ich wollte dich unter keinen Umständen mit meiner schweren Erkältung anstecken, meine liebe Myrtle. Erkältungen können für ältere Menschen...“

Außerdem schrieb sie, dass sie versucht hatte, Myrtle anzurufen, als sie sicher war, dass sie zuhause war („Du könntest langsam taub werden, meine liebe Myrtle“), gefolgt von einer Reihe an bissigen Anschuldigungen („Sag Red, dass er sich an Cecil Stockard halten soll. Dieser Geier hatte es schon seit Monaten auf seine Mutter abgesehen...“), bevor sie zum fulminanten Finale ansetzte: „Sodom und Gomorra sind im Vergleich zu Bradley harmlos. Diese Stadt ist dem Untergang geweiht! Liebe Grüße, Erma.“

Myrtle fluchte, knüllte das violett-umrahmte Briefpapier zusammen, zielte auf ihren Papierkorb ‒ und verfehlte ihn. Sie fluchte erneut. „Blöde Kuh“, murmelte sie, während sie ihren Gehstock nahm und zur Haustür ging. Sie würde ins Büro des Bradley Bugle gehen und ihre Ermittlungen weiterführen. Es war offensichtlich unmöglich, dieser Frau aus dem Weg zu gehen, denn das Böse lauerte bekanntlich immer und überall.

Myrtle starrte mürrisch auf ihren Vorgarten. Ermas Unkraut wucherte bereits über den Randstein in Myrtles Garten und bescherte ihr somit Klee, Vogelmiere und Löwenzahn. Sie hatte sich deswegen bereits vor ein paar Wochen bei Erma beschwert, diese aber hatte nur schulterzuckend geantwortet: „Es ist grün, Myrtle. Und du musst sie nicht gießen.“ Erma hatte dazu noch einen elektrischen Insektenvernichter besorgt und ihn am äußersten Rand ihres Grundstücks platziert, was dazu geführt hatte, dass nun alles, was in der gesamten Nachbarschaft summte und brummte, angezogen wurde. Das hatte Myrtle gerade noch gefehlt ‒ Mücken, die aus den gesamten Gärten der Siedlung zu ihr zogen.

Myrtle schmiedete bereits einen heimtückischen Plan, wie sie sich mitten in der Nacht in Ermas Garten schleichen konnte, um heimlich in einer Ecke Kudzu zu pflanzen. So schnell, wie das Kraut wuchs, wäre Ermas Haus bereits davon überwuchert, wenn diese am nächsten Morgen die Augen aufschlagen würde. Sie zertrat mit ihrem Stock einen Büschel Klee und bückte sich, um ihn auszureißen. Ein Eichhörnchen aus Ermas Garten beobachtete sie aufmerksam.

In diesem Moment durchschnitt ein Schrei die schwüle Luft, brachte Myrtle aus dem Gleichgewicht und ließ sie vornüber stürzen. Sie streckte ihre Hand aus, um sich abzufedern, wurde jedoch von zwei riesigen Händen unsanft wieder hochgerissen. Bevor sie sich versah, blickte sie in Ermas strahlende Augen. „Wenn ich mal nicht dein Schutzengel bin, Myrtle! Du hättest dir womöglich noch die Hüfte gebrochen, wäre ich nicht hier gewesen“, rief Erma und ignorierte dabei die Tatsache, dass sie an Myrtles Sturz Schuld hatte.

Myrtle versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien, aber Erma hielt sie mit beiden Armen fest umklammert. „Ich freue mich so, dich zu sehen. Ich hatte schon Angst, dass du gestürzt sein könntest und irgendwo in deinem Haus liegst, wo du nicht mehr aufkommst. Wie in der Werbung! Ich dachte schon, ich müsste bei dir einbrechen. Vielleicht solltest du mir einen Schlüssel für dein Haus geben, Myrtle. Nur für alle Fälle.“

Myrtle erschauderte. „Das ist nicht nötig, Erma. Red wohnt direkt gegenüber. Was könnte es besseres geben, als einen Polizisten in unmittelbarer Nähe?“

Erma setzte zu einer Antwort an, woraufhin Myrtle sich schnell umdrehte und loslief. „Ich würde so gerne noch hierbleiben und mit dir plaudern, aber ich muss dringend in die Stadt.“ Erma redete immer noch, als Myrtle bereits ein paar Meter weg war, aber sie ignorierte sie einfach und ging weiter. Erma würde sowieso ihrer einsetzenden Taubheit die Schuld geben.

*****

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Das Büro des Bradley Bugle glich einer Altpapiersammlung. Überall stapelten sich Notizblöcke, Bücher, lose Blätter und Fotos, die offensichtlich nie verwendet worden waren ‒ es war das reinste Chaos. Sloan Jones, der Herausgeber, wusste jedoch ganz genau, wo was zu finden war. Würde ein Leser des Bugle unangekündigt vorbeischauen und nach einem Foto des Umzugswagens der Pfadfinder bei der Parade am 4. Juli von vor zehn Jahren fragen, würde sich Sloan nachdenklich mit seinem dicken Zeigefinger an die Stirn tippen und ein Lied summen, während er zu einem Stapel gehen und schließlich zielsicher das Foto herausziehen würde.

Es schien ganz so, als hätte Josh Tucker das Chaos im Büro nur noch verschlimmert. Aber er verbesserte das Ansehen der Zeitung, denn schließlich arbeitete nicht in jeder Kleinstadt ein ehemaliger Reporter der New York Times. Nach seinem Abschluss hatte Josh Bradley umgehend verlassen, so sehr hatte er der Kleinstadt entkommen wollen. Und immer, wenn Myrtle auf seine Eltern traf, verspürte sie denselben Wunsch. Sie platzten fast vor Stolz und Angeberei... Josh hier, Josh da. Es war unerträglich. Warum er dann nach Bradley zurückgekehrt war, wo er doch so ein hohes Tier in New York war, war Myrtle ein Rätsel.

Zwischen all den gestapelten Büchern, Seiten und Fotos auf Sloans Schreibtisch stand eine Art Schrein für eine große Trophäe. Myrtle vermutete, dass das spitze Ding auf dem Granitsockel eine Schreibfeder darstellen sollte. Sie fand, dass es eher einer Spritze ähnelte. Sloan jedoch war der Auszeichnung und dem Journalisten, dem er sie zu verdanken hatte, treu ergeben. „Wo ist der Wunderknabe?“ fragte Myrtle, als sie auf Sloan zuging. Abgesehen von einem gegrunzten Hallo hatte er sie seit ihrer Ankunft im Büro kaum beachtet und stattdessen den Artikel vor sich weiter Korrektur gelesen.

„Hmm? Oh, Josh ist in der Parke-Stockard-Sache unterwegs.“ Sloan rieb sich mit einer fleischigen Hand die hohe Stirn und schüttelte bewundernd den Kopf. „Vielleicht löst er den Fall sogar. Er hätte mit Sicherheit das Zeug dazu.“ Sloan bemerkte Myrtles mürrischen Gesichtsausdruck und fügte hastig hinzu: „Nicht, dass Red nicht das Zeug dazu hätte, Myrtle.“ Sloan konnte sich nur zu gut an seine Highschool-Zeit erinnern, als er ständig Myrtles Zorn auf sich gezogen hatte. Das wollte er auf keinen Fall herausfordern.

Aber wenn er dachte, sie damit beschwichtigen zu können, irrte er sich gewaltig. „Ich habe eher vor, den Fall persönlich zu lösen, Sloan“, sagte Myrtle. Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: „Im Prinzip ist das nur eine Denksportaufgabe, weißt du.“

Sloan begann geschäftig ein paar Stapel Papiere umzusortieren und wieder neu anzuordnen. „Ach ja, okay.”

„Für meine Nachforschungen brauche ich Informationen über Benton Chambers und seine Verbindungen zu Parke Stockard.“ Myrtle beäugte ihn misstrauisch, als dieser ein seltsames Geräusch von sich gab.

Sloan wirkte auf einmal nervös. „Du mischst dich doch nicht in Benton Chambersʼ Angelegenheiten ein, nicht wahr, Myrtle? Er ist einer unserer besten Werbekunden mit all den Werbeaktionen für seine Wahlkampagne.“ Sloan blickte traurig durch das offene Fenster, als könnte er deutlich vor sich sehen, wie all das Geld dafür wieder aus dem Büro in die Taschen von Benton Chambers flog.

„Ich will nur die Wahrheit herausfinden, Sloan.“ Sie bediente sich ihrer besten Lehrerinnen-Stimme und beobachtete, wie Sloan in seinem Stuhl zusammensackte.

„Na, ich denke, ich kann dir etwas verraten, da das sowieso nichts mit der Sache zu tun hat.“

Sloan schob abwesend sein Wasserglas zur Seite und fuhr mit dem Finger durch den Wasserring auf dem Schreibtisch, der dadurch entstanden war. Er zögerte erneut und sah Myrtle unglücklich an. Sie räusperte sich auffordernd, woraufhin er seufzte und zu sprechen begann. „Benton Chambers will erneut kandidieren und sich für ein neues Baugesetz und eventuell sogar eine Verschiebung der Erschließungsprojekte einsetzen.“

„Das weiß ich doch schon, Sloan. Das steht auf all seinen Wahlflyern.“

Sloan starrte auf seinen Zeigefinger und sah dabei aus, als würde er sich fragen, warum dieser nass war. Er rieb ihn gedankenverloren an seinem verknitterten Hemd trocken. „Parke war nicht gerade glücklich darüber und es wird gemunkelt, dass sie Benton unter Druck gesetzt hat, um die Entwicklungsprojekte voranzutreiben.“ Der Gedanke an die wunderschöne tote Parke ließ ihn seufzen.

„Aber warum sollte Benton das stören? Dann würde sie ihn eben nicht wählen. Eine Stimme ‒ na und?“

Sloan zog an seinem Hemdkragen. „Stimmt.“ Als Myrtle ihn hartnäckig anstarrte, fügte er hinzu: „Es wird herumerzählt, dass Parke Stockard etwas gegen Benton Chambers in der Hand hatte. Etwas, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen sollte.“

Myrtle erinnerte sich an ihre Unterhaltung mit Shelia im Diner. Das schien zu bestätigen, dass Parke über eine Affäre mit einer weiteren Frau Bescheid gewusst hatte.

„Wer genau sagt das?“

Sloan mied ihren Blick und zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich der Wunderknabe. Sie nahm sich vor, Josh Tucker nach den Gerüchten zu befragen, die er in die Welt gesetzt hatte.

„Parke Stockard hat also womöglich damit gedroht, Bentons Geheimnis zu verraten und damit seine Bemühungen um eine Wiederwahl und seinen Ruf zu zerstören, wenn er ihren Bauprojekten nicht zustimmt.“

Sloan zuckte erneut mit den Schultern. „Ich glaube, dass du damit die falsche Spur verfolgst, Myrtle. Vielleicht solltest du dich eher auf ihren Sohn Cecil konzentrieren. Der ist nun wirklich ein schwerer Fall, das kannst du mir glauben.“ Sloan hatte noch immer an einem Kommentar von Cecil ihm gegenüber von vor ein paar Wochen zu knabbern.

„Angeblich“, sagte er, „wirft Cecilia diesen ständig grinsenden Kerl aus Parkes Haus.“

„Die Vertreibung aus dem Paradies, nicht wahr?“

„Der ist wohl komplett auf die schiefe Bahn geraten. Seine Spielsucht hat sie auf die Palme getrieben und sie ist der Meinung, dass er ihrer Mutter Unsummen an Geld abgeschwatzt hat.“ Sloan lächelte selbstgefällig bei dem Gedanken daran, wie sich Cecil Stockard in einer heruntergekommenen Wohnung von Dosenbohnen ernährt.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Parke sich Geld abschwatzen hat lassen. Sie wurde wohl einfach schwach, weil er ihr Sohn war.“

Sloan warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, was ihn an seine Abgabefristen erinnerte. „Was ist mit deiner Kolumne, Myrtle? Du wirst doch nicht deinen Job vernachlässigen, um Detektiv zu spielen?“

„Ich nehme an, dass du etwas Platz übrig hast, jetzt, wo es Parkes Kolumne nicht mehr gibt“, erwiderte Myrtle eisig. „Hat dein preisgekrönter Wunderknabe denn nicht genug Material?“ Sie sah grimmig zur großen Trophäe auf Sloans Schreibtisch.

Sloan verzog verzweifelt das Gesicht und sagte: „Ich hätte ihre Kolumne so oder so überarbeiten müssen. Schließlich hattest du viel mehr Leser als sie. Die Leute verschlingen deine Artikel regelrecht...“ Myrtle sah ihn stirnrunzelnd an und vervollständigte den Satz für ihn: „...wie zum Beispiel die Tipps gegen Nasenbluten und Wadenkrämpfe?“

Myrtle hätte schwören können, dass sie ein unterdrücktes Kichern gehört hatte. „Ich hatte für diese Woche ein paar richtig gute Tipps, zum Beispiel wie man die Klingen der Müllschlucker wieder schön scharf bekommt.“ Sloan rieb sich die Schläfen. „Und zwar indem man Eiswürfel in den Müllschlucker gibt und ihn einschaltet.“

Sloan erschauderte. „Schreib aber dazu, dass sie die Hände nicht reinstecken sollen. Es würde uns gerade noch fehlen, wenn irgend so ein Depp uns verklagt, weil er seine Hand reinsteckt, um zu überprüfen, wie scharf die Klingen sind.“

Myrtle schnaubte missbilligend und vernahm auf einmal einen schwachen Geruch nach Zigarettenrauch und erinnerte sich daran, dass derselbe Geruch in der Kirche in der Luft gehangen hatte. Sie fixierte Sloan mit einem durchdringenden Blick, der ihn erstarren ließ. „Sloan, rauchst du wieder?“

Sloan sah sie schuldbewusst an. „Nur, wenn ich Alkohol trinke.“

„Angesichts der Tatsache, dass da eine halbleere Flasche Jim Beam und ein Glas auf dem Tisch stehen, ist das nicht sehr beruhigend.“ Er errötete und Myrtle hakte weiter nach: „Was ist mit dem Wunder- ähm, Josh? Raucht der?“

Sloan schnaubte. „Nein, er ist der vorbildlichste Journalist, den ich jemals kennengelernt habe. Keine Laster, soweit ich das beurteilen kann. Und er hat in New York gelebt. Gotham City!“ Sloan schüttelte den Kopf ‒ wobei Myrtle nicht ganz sicher war, ob er ihn jetzt dafür bewunderte oder verachtete.

„Hey, Sloan. Könntest du mir Joshs Handynummer geben?“ Sloan sah sie unsicher an. „Da er so ein toller Journalist ist, kann er mir vielleicht ein paar Tipps geben, wie ich meine Kolumne verbessern kann.“ Myrtle hoffte inständig, dass Sloan ihre Lüge nicht durchschaute. Immerhin sollte es offensichtlich sein, dass ihre Kolumne nicht verbessert werden musste. Ihre Bedenken waren jedoch umsonst gewesen ‒ Sloan war von Joshs außergewöhnlichem Talent überzeugt. Er gab ihr die Nummer, die Myrtle noch auf dem Weg aus dem Büro in ihr Telefon tippte. Josh könnte ihr wertvolle Einblicke in den Fall bieten, auch wenn sie das nur ungern zugab. Er war sowohl ein alter Hase als auch ein Neuankömmling in Bradley.

Er nahm sofort ab. „Josh Tucker am Apparat.“

„Josh, hier spricht Myrtle Clover.“ Sie meinte, ein Seufzen vernommen zu haben.

„Was kann ich für dich tun, Myrtle?“

„Ich würde mich gerne morgen mit dir treffen. Vielleicht kannst du mir etwas über den Fall erzählen?“

Dieses Mal war das Seufzen sogar für Myrtles achtzigjähriges Gehör deutlich hörbar. „Das würde ich sehr gerne, aber ich bin gerade sehr beschäftigt.“

Myrtle stimmte einen schmeichelnden Tonfall an. „Es würde mir sehr viel bedeuten. Deine Eltern sind so gute Freunde von mir“ ‒ die Lüge ließ sie schmerzvoll die Augen zusammenkneifen ‒ „und ich würde mich freuen, mich mit dir zu unterhalten. Außerdem habe ich auch etwas herausgefunden. Ich habe da einen Hinweis für dich.“ Jetzt musste sie sich nur bis zum nächsten Tag etwas Gutes einfallen lassen. Sie konnte im Notfall aber auch einfach irgendetwas Wirres erzählen, immerhin war sie eine alte Frau.

Josh schien noch nicht ganz überzeugt davon zu sein, seine wertvolle Zeit investieren zu wollen. „Ein Hinweis zu... ?“

„Ähm... na ja, ich habe mich mit Kitty unterhalten... Ja genau.“

Nun drang ein Ächzen zu ihr durch. Vielleicht war Kitty nicht das beste Lockmittel, angesichts ihres seltsamen Verhaltens während der letzten Tage. Sie hätte besser sagen sollen, dass Red ihr Informationen zukommen hat lassen. „In Ordnung, Myrtle“, sagte er schließlich besänftigend. „Vielleicht können wir uns für ein spätes Mittagessen treffen. In Bo’s Diner?“

Und schon wieder war sie dem Herzinfarkt einen Schritt näher. Nun ja, sie hatte ja bereits ein schönes Alter erreicht. „Dann sehen wir uns dort!“ Myrtle legte breit grinsend auf. Wenn irgendjemand etwas über den Fall wusste, dann war es Mr. Spürnase. Vielleicht verhalf er ihr ja zum Durchbruch. Auf dem Weg nach Hause kam ihr ein Gedanke. Sie sah auf Joshs Telefonnummer, die Sloan für sie aufgeschrieben hatte. Die Nummer war ihr bekannt vorgekommen und jetzt wusste sie auch warum. Sie nahm den Zettel heraus, auf dem sie sich die Nummern aufgeschrieben hatte, die Parke mit ihrem Handy angerufen hatte. An dem Tag, an dem sie ermordet worden war, hatte Parke Josh Tucker angerufen.

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Zuhause angekommen, konnte Myrtle ihre Gedanken nicht vom Fall lösen. Sie brauchte dringend einen Assistenten. In den Büchern und Filmen hatten alle Detektive einen. Es wäre außerdem praktisch, wenn ihr Assistent jüngere Knochen hätte. Sie entschied, Elaine anzurufen und sich mit ihr über den Fall zu unterhalten.

Myrtle wollte gerade wieder auflegen, nachdem sie es eine Weile klingeln hatte lassen, als Elaine mit einem hastigen „Hallo“ abnahm. Im Hintergrund hörte sie Jack kreischen, französische Brocken, die verdächtig nach Schimpfen klangen, und einen Lärm, als ob ein wildes Tier Todesangst erleiden würde. „Verwählt!“ sagte Myrtle und wollte schnell auflegen.

„Myrtle? Bist du es?“

„Das sollte ich dich fragen! Du klingst so seltsam. Ist alles in Ordnung? Was ist das für ein Lärm?“

„Jack hat eine Salbe in die Finger bekommen.“

„Ich rufe sofort den Vergiftungsnotruf an!“

„Hä? Nein, er hat sie nicht gegessen, er hat sich nur die gesamte Tube in die Haare geschmiert.“ Elaine klang, als würde sie vor dem Chaos fliehen, denn der Lärm wurde stetig leiser. „Und Jean-Marc, na ja, er wollte bei der Wäsche helfen. Du weißt ja, wie viel Wäsche man mit einem Kleinkind zusammenbekommt. Ich schätze seine Hilfe ja sehr“, sagte sie überzeugend, „aber die Waschmaschine ist außer Kontrolle geraten...“ Sie kicherte. Oder schluchzte sie? „und wollte aus der Tür marschieren.“

„Jean-Marc?”

„Nein, die Waschmaschine. Sie springt im Kreis. Aber vielleicht zieht sie sich bald selbst den Stecker.“

„Ich rufe dich später wieder an.“ Verzweiflung machte sich in Myrtle breit. Der Stress schoss regelrecht durch den Hörer und sie befand sich mitten in der Schusslinie.

„Hättest du etwas gebraucht?“

„Nein, nicht so wichtig.“ Myrtle wurde bewusst, dass sie bei diesem Fall auf sich alleine gestellt war. Red hatte recht: Elaine war zu beschäftigt.