Kittys Kleinwagen war neben dem Friedhof geparkt. Myrtle griff gerade nach der Autotür, als Miles seinen Arm ausstreckte, um sie aufzuhalten. „Wir müssen Red anrufen. Der Mörder könnte immer noch in der Nähe sein. Und wer weiß, ob wir nicht Beweise zerstören, wenn wir da herumtrampeln.“
„Ich habe nicht vor, herumzutrampeln, Miles. Aber es ist doch unsere Pflicht nachzusehen, ob Kitty ‒ oder wer auch immer dort liegt ‒ noch atmet. Wir könnten ihr helfen. Ich bin gleich wieder zurück. Gute Güte, es wird mich schon niemand im vollen Licht deiner Scheinwerfer angreifen. Das wäre ja verrückt.“
„Die sind verrückt, Myrtle. Na gut, aber...“
„Ich werde vorsichtig sein.“
Myrtle griff nach ihrem Gehstock und ging vorsichtig auf den Grabstein zu. Sie wollte die Beweise selber finden und hatte keineswegs vor, irgendetwas zu zerstören. Der unebene und steinige Boden ließ sie besonders vorsichtig sein. Als Myrtle nur ein paar Schritte von dem Körper entfernt stand, erkannte sie Kitty Kirk und dass sie durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden war. Neben ihr lag ein Zementkreuz, das von einem Grabstein abgebrochen sein musste. Reglos, wie sie dastand, fiel Myrtle im Scheinwerferlicht des Autos aus den Augenwinkeln noch etwas anderes auf. Sie lehnte sich auf ihrem Gehstock nach vorne und begutachtete etwas, das auf dem Boden lag, drehte sich dann um und ging zum Auto zurück, wo Miles bereits in sein Handy sprach. Sie wollte etwas sagen, aber Miles hielt eine Hand hoch.
„Genau, Red.“ Er verzog das Gesicht und hielt sich das Handy vom Ohr weg. „Nein, Sie haben mich nicht falsch verstanden. Genau. Nein, sie ist hier bei mir im Auto. Dann bis gleich.“
„Klingt ganz so, als wäre da jemand wenig erfreut?“
Miles lehnte sich zurück und legte den Kopf an der Stütze ab. „Das kann man wohl sagen. Ich kann mir vorstellen, dass er nicht besonders erfreut darüber ist, noch einen Mordfall zu haben und er war besonders aufgebracht, weil seine Mutter die Leiche entdeckt hat ‒ mal wieder."
„Immerhin helfen wir ihm. Drei Paar Augen sehen mehr.“
Miles wollte schon einwenden, dass er bezweifelte, dass Red die Meinung seiner Mutter teilte, aber Myrtle winkte ab. „Lass mich dir lieber erzählen, was ich gefunden habe, Miles. Ähm... neben der armen Kitty natürlich. Ich habe auch ein Scheckheft auf dem Boden gefunden... Cecil Stockards Scheckheft.“ Ihre Stimme war vor Aufregung ganz schrill.
„Cecil?”
Myrtle nickte ungeduldig. „Ja, wir haben uns geirrt, Miles, völlig geirrt. Wir hätten schon viel früher auf Cecil kommen sollen. Er spielt und hat Drogen genommen und verkauft. Er war derjenige, der Geld brauchte und wahrscheinlich dachte er, dass der Tod seiner Mutter all seine finanziellen Probleme lösen würde.“
Miles runzelte die Stirn. „Aber er wusste doch sicher, was im Testament stand, nämlich, dass der Großteil des Geldes an seine Schwester und Wohltätigkeitsorganisationen gehen würde.“
„Woher denn? Es würde doch naheliegen, dass seine Mutter ihn im Testament bedenkt.“
„Aber du hast mir doch erzählt, dass du dich bei der Beerdigung mit Cecil unterhalten hast und dass er anscheinend wusste, dass seine Mutter ihn praktisch komplett aus dem Testament streichen wollte. Er hat selbst gesagt, dass seine Mutter ihm lebend mehr brachte als tot.“
„Na ja, vielleicht hat er das nur so gesagt, um von sich abzulenken. Tatsache ist auf alle Fälle, dass sein Scheckheft direkt neben einem Mordschauplatz liegt. Ich nehme an, dass wir recht hatten: Kitty wusste über etwas Bescheid und hatte vor, den Mörder zu erpressen. Und Kitty war so oder so kein großer Fan von Cecil. Er war derjenige, der ihren Sohn mit Drogen in Kontakt gebracht hat. Sie hätte es ihm wahrscheinlich liebend gern erzählt, um ihn etwas nervös zu machen. Er wird sicher bemerkt haben, dass sie ihn sein Leben lang damit verfolgen würde und hat deshalb entschieden, dem Ganzen vorzeitig ein Ende zu bereiten.“
Miles nickte langsam. „Das ergibt durchaus Sinn. Aber Cecil wäre niemals in der Lage gewesen, Kitty zu bezahlen, wo er doch pleite war.“
„Aber das konnte Kitty ja nicht wissen. Sie hat sich nicht wirklich oft mit ihm unterhalten. Sie ist wahrscheinlich davon ausgegangen, dass er einen Batzen Geld von Parkes Vermögen geerbt hat und dass er ihr so einiges schuldig war. Und Cecil musste klar gewesen sein, dass er Kitty beseitigen musste. Er wusste, dass er nie zahlen könnte, was sie von ihm verlangte.“
In der Ferne waren die Scheinwerfer eines Polizeiautos zu sehen, das die gewundene Straße hochfuhr. Das Auto hielt und Red sowie Detective Lieutenant Perkins stiegen aus. Perkins ging mit einer Taschenlampe in der Hand auf die Leiche auf dem Grabstein zu und Red näherte sich Milesʼ Auto. Miles bemerkte, dass Myrtle einen unscheinbaren Gesichtsausdruck aufsetzte. So unscheinbar eine grobknochige Frau eben wirken konnte.
Red öffnete die Beifahrertür und sah seine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Bist du jetzt eine professionelle Leichenaufspürerin, Mama?“
Myrtle hüstelte leise. „Miles und ich wollten noch eine kleine Spritztour machen. Du weißt schon, Verdauungsfahrt für zwei volle Mägen.“
„Schon gut. Ich weiß jetzt schon, dass du flunkerst. Nach diesem kulinarischen Desaster könnt ihr unmöglich einen vollen Magen haben, außer, ihr habt ihn euch mit Müsli und Kuchen vollgeschlagen. Und eine nette Spritztour durch den Friedhof? Muss ich dir einen Holzpfahl durch das Herz rammen?“
„Immerhin helfe ich dir, indem ich Kitty Kirk gefunden habe, bevor es zu spät ist. Vielleicht kommt ihr so an Informationen, die ihr nicht mehr gefunden hättet, wenn sie erst morgen oder noch später gefunden worden wäre.“ Sie gestikulierte in die Richtung, in der Perkins gerade den Boden mit der Taschenlampe absuchte. „Ich kann dir übrigens auch schon sagen, dass ihr dort direkt neben Kittys Leiche Cecil Stockards Scheckheft finden werdet“, sagte Myrtle triumphierend. „Schaut ganz so aus, als hätte sie ihn mit dem Mord an seiner Mutter erpressen wollen. Er kam mit seinem Scheckheft, entschied dann aber, Kitty umzubringen, anstatt ihr jahrelang Geld zu zahlen. Fall gelöst.“
Red schüttelte den Kopf. „Fall nicht gelöst. Cecil Stockard hat wegen Trunkenheit am Steuer den lieben langen Tag in einer von Bradleysʼ Gefängniszellen verbracht.“
Myrtle sah ihn verdutzt an. „Den ganzen Tag?“
Red nickte. „Seit fünf Uhr heute Morgen, als er völlig betrunken nach Hause fahren wollte.“
„Das bedeutet also, dass ihm jemand den Mord in die Schuhe schieben will“, sagte Miles. „Derjenige weiß offensichtlich aber nicht, dass er ein wasserdichtes Alibi hat.“ Myrtle nickte enthusiastisch.
„Oder“, sagte Red trocken, „er hat sein Scheckheft verloren, als er bei der Beerdigung seiner Mutter war.“
„Das Grab seiner Mutter ist auf der anderen Seite des Friedhofs“, konterte Myrtle. „Ich bezweifle stark, dass er einfach so über den Friedhof schlendert.“
„Aber vielleicht trifft er sich hier mit... Geschäftspartnern, um Drogen zu verkaufen. Es könnte eine ganz einfache Erklärung geben.“
Irgendetwas kam Myrtle trotzdem verdächtig vor und ließ sie nicht los. Irgendetwas an Cecil. Sie grübelte noch eine Weile, gab dann aber auf. Vielleicht kam sie später drauf.
Red knallte Myrtles Autotür zu und ging zu Perkins. Myrtle beobachtete ihn dabei, wie er den Boden absuchte, Perkins auf das Scheckheft aufmerksam machte und dann in ihre Richtung gestikulierte. „Ich glaube immer noch, dass jemand den Mord an Kitty Cecil in die Schuhe schieben wollte. Was bedeutet, dass der Mord sorgfältig geplant wurde. Kitty hat wohl den Mörder angerufen und ihm damit gedroht, ihn zu verraten oder zu erpressen. Der Mörder hat dann ein Treffen für heute vereinbart. Es hätte nicht einmal dunkel sein müssen, da der Friedhof für gewöhnlich sowieso verlassen ist. Er nimmt den abgebrochenen Teil eines Grabsteins auf, schlägt Kitty nieder und platziert Beweismittel, die zu Cecil Stockard führen. Es scheint alles gut durchdacht. Irgendjemand will auf keinen Fall überführt werden.“
Milesʼ Magen knurrte und er warf einen Blick auf die Uhr. Es war viertel vor zehn und es war immer noch nichts zu essen in Sicht. Er beobachtete Red und Perkins mürrisch, die mit ihren Taschenlampen Reifenspuren ableuchteten. „Ich nehme an, dass sie uns noch befragen wollen?“, fragte er bedrückt.
„Das denke ich auch. Immerhin haben uns unsere Schlussfolgerungen zu Kittys Leiche geführt.“ Myrtle seufzte betrübt. „Das mit Kitty ist schon traurig. Sie hatte wirklich kein einfaches Leben mit ihrer mittelmäßigen Ehe und den Drogenproblemen ihres Sohnes. Erpressung war mit Sicherheit eine dumme Idee, aber ich nehme an, dass sie darin ihre einzige Chance sah, an etwas Geld zu kommen und somit ihr Leben zu verbessern. Das hat sie nicht verdient.“
Miles war gerade nicht besonders gut auf Kitty Kirk zu sprechen, da er sie langsam, aber sicher mit seinem knurrenden Magen in Verbindung brachte. „Immerhin können sie uns gleich befragen und dann nach Hause lassen. Ich bin am Verhungern.“
Myrtle trommelte gedankenverloren mit ihren Fingern auf dem Armaturenbrett herum. „Warte... ich denke gerade nach.“ Sie griff nach Milesʼ Ärmel. „Was, wenn wir uns eine Ausrede ausdenken, damit sie uns auf der Wache befragen?“
„Warum sollten wir das tun?“ stöhnte Miles und fragte sich, ob diese Nacht wohl jemals enden würde.
„Die Gefängniszellen befinden sich in der Wache. Ist ja nur eine Kleinstadt. Wenn wir es dorthin schaffen, können wir vielleicht zu den Zellen gelangen und Cecil ein paar Fragen stellen.“
Bei Miles machte sich beim Gedanken an weitere Verzögerungen Sarkasmus breit. „Oh, ich bin mir sicher, dass Red und Perkins sehr erfreut sein werden, wenn wir Cecil befragen wollen. Was genau sollen sie denn in der Zwischenzeit machen, während wir unsere Befragung durchführen?“
Myrtle ignorierte seinen Unterton. „Uns fällt schon etwas ein. Vielleicht schicken wir sie los, um Essen zu holen oder so.“
In diesem Moment fuhr ein Leichenwagen vor und ein paar Leute sprangen heraus, um den Tatort zu sichern. Miles blickte bei all dem Gewusel und den ankommenden Polizeiwagen mit jeder Minute unbehaglicher drein. Als Red am Auto vorbeiging, kurbelte Miles das Fenster herunter und rief: „Sollten Myrtle und ich nicht aus dem Weg gehen? Soll ich wegfahren?“
„Sie sind tatsächlich etwas im Weg, aber ich muss noch Ihre Aussage zu Protokoll nehmen“, antwortete Red.
Myrtle lehnte sich über Miles und fragte: „Warum fahren wir dazu nicht auf die Wache?“
Red dachte kurz nach. „Ich muss dort sowieso noch ein paar Sachen abholen. Als ich von dir losgefahren bin, habe ich nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern wird. Na gut, dann folgen Sie mir auf die Wache. Es sollte nicht lange dauern. Ich muss mich noch um andere Dinge kümmern... wie zum Beispiel, Kittys Mann zu informieren.“
Myrtle konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das ablaufen würde. Red würde Tiny Kirk erzählen, dass Kitty tot war und der würde antworten: „Das ist sie nicht!“ Er hatte sich immerhin in letzter Zeit ziemlich entrüstet über Kittys Fehlverhalten gezeigt. Er würde ihren Tod wahrscheinlich als eine ihrer Charakterschwächen ansehen.
*****
Die Fahrt zur Wache dauerte nur ein paar Minuten und schon kurz darauf ließen sich Miles und Myrtle gegenüber von Red, der mit gezücktem Kugelschreiber auf ihre Aussagen wartete, auf Plastiksofas mit kaputten Federn nieder. Myrtle spielte auf Zeit. Für ihren Geschmack ging alles viel zu schnell. Und es gingen zu viele Polizisten in der Wache ein und aus. „Red, ich bin unglaublich hungrig“, setzte sie an, „Könntest du mir schnell etwas zu essen holen, bevor wir unsere Aussagen machen? Mir ist schon ganz übel.“
Red sah sie stirnrunzelnd an und setzte zu einer Antwort an, als Miles leise hinzufügte: „Ehrlich gesagt bin ich auch ziemlich hungrig, Red. Ich möchte Ihnen heute Abend nur ungern Unannehmlichkeiten bereiten, aber müssen Sie nicht auch erst etwas essen, bevor Sie die ganze Nacht durcharbeiten? Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie beim selben Abendessen wie ich.“
„Und gleich hier ums Eck ist ein Imbiss, der bis zwei Uhr morgens offen hat“, warf Myrtle ein. Sie blinzelte ihn unschuldig an, als würde sie davon ausgehen, einen besonders wertvollen Vorschlag einzuwerfen.
„Ich dachte, ihr seid mit euren vollen Mägen zu einer Spritztour auf dem Friedhof aufgebrochen“, erinnerte Red sie säuerlich und wurde mit einer errötenden Myrtle belohnt. „Na gut, ich geh schnell etwas holen und dann könnt ihr, während wir essen, eure Aussagen machen. Bleibt einfach, wo ihr seid“, sagte er bestimmt, „und findet mir bloß keine Leichen mehr.“ Er nahm seinen Schlüsselbund aus der Tasche und ging zur Tür hinaus.
Myrtle griff nach ihrem Gehstock und stand mühsam auf. „Dann mal los, bevor jemand zur Tür hereinkommt. Man würde meinen, das gesamte Universum dreht sich heute Nacht um die Bradley Polizeistelle.“
Aus der kleinen Polizeiwache führte auf einer Seite eine Tür zu Reds Büro und auf der anderen Seite eine Eisentür zu sechs Gefängniszellen. Das Gefängnis von Bradley wurde normalerweise für die vorübergehende Verwahrung von schweren Straftätern verwendet, bis diese in ein anderes Gefängnis verlegt wurden, oder als Ausnüchterungszelle für jene, die betrunken Auto gefahren waren. So wie es an diesem Abend Cecil Stockard erging.
Cecil saß auf der Liege in der Zelle. Sein schwarzes Haar hing ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht und er sah aus, als hätte er sich zumindest für einen Tag lang nicht rasiert. Myrtle bezweifelte stark, dass er frisch geduscht roch und hielt deshalb genug Abstand, um ihre Theorie nicht überprüfen zu müssen. Er sah auf und grinste sie verlegen an, als sie eintraten. Er lallte und Myrtle fragte sich, ob er nach so vielen Stunden hinter Gittern immer noch betrunken sein konnte oder ob er einfach nur müde war. „Mrs. Muss-sich-überall-einmischen Myrtle und ihr Freund. Wie nett, Sie zu sehen. Ich würde Ihnen ja etwas zu trinken anbieten“, er gestikulierte um sich herum, „aber wie Sie sehen, gibt es hier nicht viel, das ich Ihnen anbieten könnte.“
„Ähm... es tut mir leid, Sie unter diesen Umständen anzutreffen, Cecil.“
Er nickte, wodurch ihm sein strähniges Haar in die Augen fiel. Er streifte es mit einer schmutzigen Hand wieder hinter die Ohren. „Und Sie sind hier, weil...?“
Myrtle atmete tief ein. „Weil wir Kitty Kirks Leiche entdeckt haben. Wir müssen noch unsere Aussagen machen.“ Sie beobachtete aufmerksam Cecils Gesichtsausdruck und entdeckte ehrliche Überraschung. „Wirklich. Kitty Kirk?“ Er sah sie an, als ob er Kitty Kirk nicht mit einem gewaltsamen Tod in Verbindung bringen könnte... als ob ihm dafür viel bessere Kandidaten einfallen würden.
Miles hüstelte. „Und wir fanden auch Ihr Scheckheft am Tatort.“
Cecils Wangen liefen rot an und seine Augen funkelten vor Wut. „Ich war nicht einmal in der Nähe dieser Frau. Und ich habe den ganzen Tag hier drinnen vor mich hin gegammelt. Den ganzen Tag.“ Er sah sich in der Zelle um. „Jemand versucht, mir das in die Schuhe zu schieben. Ich finde mein Scheckheft schon seit einer Woche nicht mehr. Jemand muss es mir geklaut und dort hingelegt haben.“
Miles berührte Myrtle am Arm. „Wir sollten besser wieder in den Vorraum, Myrtle.“
„Nicht, dass es noch so aussieht, als würden Sie sich mit dem Kriminellen verbünden, was?“ schrie Cecil, als sie fluchtartig den Raum verließen. Sie hatten sich gerade wieder hingesetzt, als Red mit einer großen, vor Fett triefenden Plastiktüte durch die Tür trat.
„Hallo“, sagte Red, „das hat etwas länger gedauert als geplant. Hier ist das Essen... Miles, ich habe für Sie eine große Portion genommen, da ich angenommen habe, dass Sie sehr hungrig sind. Dann nehmen wir schnell die Aussagen auf und ich werde während der Fahrt essen.“ Er nahm kopfschüttelnd ihre Aussagen zu Protokoll, bis er schließlich sagte: „In Ordnung, ich glaube, wir sind fertig. Ihr könnt nun gehen.“ Mit diesen Worten verließ er die Wache, während er gleichzeitig seinen Cheeseburger hinunterschlang. Im selben Moment kamen mehrere Officer der State Police in die Wache gelaufen.
„Machen wir ne Fliege?“ raunzte Miles ihr wie ein Gangsterboss in Film-Noir-Manier zu.
Myrtle, die noch ihre Pommes verdrückte, sagte: „Natürlich. Oh, können wir auf dem Weg noch bei Pfarrer Nathaniel vorbeischauen?“
Miles seufzte und verfluchte innerlich die Tatsache, dass er noch im Besitz eines gültigen Führerscheins war. „Dem Pfarrer? Warum? Nein, warte, ich möchte es gar nicht wissen.“
*****
Pfarrer Nathaniel begrüßte sie an der Haustür. Er trug ein langes Herrennachthemd, das, so dachte Myrtle, bereits in den 1950ern aus der Mode gekommen war. Seine knochigen Arme und Beine schauten wie dürre Äste aus dem Nachthemd hervor, wodurch er stark an Ichabod Crane aus Sleepy Hollow erinnerte. Oder an den Sandmann. Da war noch etwas anderes... Myrtle beugte sich zu ihm und schnupperte. „Sie rauchen!“, rief sie erstaunt.
Pfarrer Nathaniel errötete. Der arme Kerl, dachte Miles, wollte wahrscheinlich vor dem Schlafengehen nur noch eine letzte Zigarette genießen und wurde sogleich von Myrtle „Die Nase“ Clover auf frischer Tat ertappt.
„Ich möchte es mir abgewöhnen“, erwiderte der Pfarrer so würdevoll wie möglich.
Myrtle war außer sich. Ihr wichtigster Beweis an Parkes Mordschauplatz hatte sich als falsche Fährte erwiesen. Sie hatte damals in der Kirche offensichtlich nur den Rauch an Pfarrer Nathaniels Kleidung erschnuppert. Sie versuchte, ihre Gedanken von damals nachzuvollziehen.
Miles griff ein, um zu verhindern, dass sich der Pfarrer wie vor dem Schiedsgericht eines Anti-Rauch-Komitees fühlte. „Der Grund, weshalb wir hier sind“, sagte er und warf Myrtle einen fragenden Blick zu, denn in Wahrheit hatte er nicht die geringste Ahnung, was sie dort taten, „ist, dass Kitty Kirk ermordet wurde.“ Als der Pfarrer sie nur anstarrte, stieg Myrtle ein: „Und Red ist gerade auf dem Weg zu Tiny Kirk, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Vielleicht möchten Sie ebenfalls vorbeischauen. Und da Kitty in der Kirche eine so wichtige Rolle übernommen hat...“ Myrtle zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, Sie möchten es sicher erfahren.“
Pfarrer Nathaniel nickte. „Vielen Dank, dass du vorbeigeschaut hast, Myrtle.“
Ihr natürlicher Killerinstinkt sagte Myrtle, dass dies die perfekte Gelegenheit war, ihn unvorbereitet zu erwischen, und fügte schnell hinzu: „Da ist noch etwas, Pfarrer Nathaniel, das mir schon seit längerem auf dem Herzen liegt. Als Althea am Morgen von Parkes Tod zu uns in die Kirche kam, haben Sie sie gleich in Schutz genommen. Können Sie mir sagen, warum?“ Der Pfarrer sah Myrtle ernst an. „Das kann ich mit Sicherheit nicht, Myrtle. Das ist streng vertraulich.“ Mit diesen Worten schloss er sachte, aber bestimmt die Tür hinter sich, um sich anzuziehen.
So begaben sich Myrtle und Miles schließlich auf den Heimweg. Myrtle sprach während der Fahrt nicht viel, da sie in Gedanken schon die Befragung ihrer Verdächtigen plante. Miles, der nun nicht mehr mit seinem knurrenden Magen beschäftigt war, war müde und brauchte erst mal etwas Abstand von seiner neu gewonnenen Freundin... zumindest für eine Weile. Er hätte sich nie erträumt, dass sein Lebensabend in einer Kleinstadt so aufregend sein würde.