Die Liste der Verdächtigen schien zu schrumpfen. Kitty Kirk könnte Parke Stockard immer noch umgebracht haben, es machte aber deutlich mehr Sinn, dass sie selber ermordet worden war, weil sie den wahren Täter kannte. Cecil Stockard könnte seine Mutter ebenfalls umgebracht haben, aber es schien unwahrscheinlich, da er ein stichhaltiges Alibi für Kittys Mord hatte und es zwischen den beiden Morden eine Verbindung zu geben schien. Was bedeutete, dass sich Myrtle noch mit Benton und Tippy Chambers, Josh Tucker und Althea Hayes unterhalten musste.
Sie war gerade dabei, sich einen Plan zu überlegen, als es an der Tür klingelte. Sie runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Sieben Uhr morgens. Sie nahm ihren Gehstock und ging zum Eingang, wo sie erst einmal durch die Gardinen neben der Haustür linste. Josh Tucker stand vor ihrer Tür. Sie nahm an, dass der Wunderknabe ganz heiß darauf war, sie wegen der Mordstory zu befragen. Hoffentlich würde er in seinem Artikel nicht allzu viele Adjektive verwenden. Myrtle sah den Bericht schon vor sich: „Myrtle Clover, kreidebleich und mit einem abgetragenen Morgenmantel bekleidet, erzählt die schauerliche Geschichte über...“
Sie öffnete die Tür und bemerkte, wie Josh an ihr heruntersah und sich schon entschuldigen wollte, dass er so früh bei ihr aufschlug. „Kein Problem, Josh“, schnitt sie ihm das Wort ab, „ich bin heute nur etwas später dran. Komm für einen Kaffee herein. Ich nehme an, dass du aus erster Hand erfahren willst, was letzte Nacht passiert ist? Das hat sich schnell herumgesprochen, aber das wundert mich ja nicht.“
Sie setzten sich an Myrtles Küchentisch. Auch wenn sie bereits Schauplatz vieler kulinarischer Desaster gewesen war, war es dank der fröhlichen Einrichtung immer noch ihr Lieblingsraum. Rot karierte Gardinen hingen an den Fenstern, die Wände waren in fröhlichem Gelb gestrichen und Myrtle holte zwei große bunte Kaffeebecher, in die sie heißen Kaffee eingoss.
Myrtle erzählte, wie sie in der Nacht zuvor zum Friedhof gefahren waren, ohne dabei auf das Abendessen einzugehen, das zu diesem Ausflug geführt hatte, und hoffte dabei inständig, dass der Gestank der Essensreste nicht mehr allzu stark in der Luft lag. Sie hatte noch nicht die Zeit gehabt, den Müll rauszubringen.
Als sie ihre Geschichte fertigerzählt hatte, sah Josh sie bewundernd an. Sie war kurz skeptisch und fragte sich, ob er wohl nur noch mehr Informationen aus ihr herausbekommen wollte, indem er ihr Honig ums Maul schmierte. Er musste verrückt sein, wenn er dachte, dass sie ihre Beweise und Informationen mit ihm teilte, nur damit er sich die Lorbeeren für den Fall einstreichen konnte. „Du hast also auf deine Instinkte vertraut und damit Kitty Kirks Leiche auf dem Friedhof entdeckt. Du bist wohl eine ausgezeichnete Beobachterin und dein Instinkt scheint der Polizei um Längen voraus zu sein. Hast du dort... ähm... irgendwelche Spuren gefunden, die zum Mörder führen könnten?“
Joshs Bewunderung ließ Myrtle vor Stolz strahlen, sie würde aber trotzdem keine Informationen preisgeben. „Das ist dann wohl Reds Job, oder? Ich bin mir sicher, dass die Polizei den Bereich und die Beweise bereits gesichert hat, sollte es denn welche geben.“
Josh nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee. „Jetzt mal unter uns, Myrtle.“ (Was bei Myrtle die Alarmglocken schrillen ließ, da Journalisten immer und zu jeder Zeit nur ihren nächsten Artikel im Kopf hatten), „was denkst du, wer das getan haben könnte? Bradley hat keine hohe Kriminalitätsrate, da sind zwei Morde in so kurzer Zeit beinahe schon unglaublich.“
Myrtle nickte. „Die letzten Wochen waren alles andere als gewöhnlich, nicht wahr? Ich kann auch nicht behaupten, dass ich so gar keine Vermutung hätte, wer diese Unruhe in die Stadt gebracht hat.“
„Es scheint beinahe so“, sagte Josh mit verschwörerischer Stimme, „als hätte die Unruhe mit ein paar Neulingen in der Stadt Einzug gehalten.“ Er sah sie vielsagend an.
„Wenn du darauf anspielst, dass das mit Parkes Umzug in die Stadt zusammenhängt, dann muss ich dir recht geben. Sie hat es geschafft, überall Chaos zu hinterlassen.“ Myrtle sah interessiert zu, wie Josh errötete. Er musste ein Auge auf sie geworfen haben. Was wenig überraschend war, immerhin war sie eine schöne Frau gewesen.
„Und kann man nicht dasselbe über Cecil Stockard sagen?“ fragte Josh unschuldig. Er hatte es offensichtlich auf Tratsch und Klatsch abgesehen. Aber Myrtle würde nicht vergessen, dass er nur wegen seines Artikels hier war. Er war nicht einfach nur ein Nachbar, der auf einen Kaffee vorbeigekommen war, ermahnte sie sich selber.
Als Myrtle nicht antwortete, versuchte es Josh erneut. „Ich meine, es scheint doch so, als würde er es manchmal mit dem Gesetz nicht ganz so ernst nehmen, nicht wahr? Da waren doch Drogen im Spiel und angeblich hat er auch online um Geld gezockt.“
Da sie davon ausging, dass er es sowieso bald herausfinden würde, erwiderte Myrtle: „Das stimmt alles, Josh. Aber Cecil Stockard saß gestern Nacht, als der Mord geschah, im Gefängnis von Bradley.“ Josh lehnte sich überrascht zurück und Myrtle fuhr fort: „Ja, wegen Trunkenheit am Steuer. Er kann Kitty also nicht umgebracht haben. Ich weiß, dass du für deinen Artikel recherchierst, Josh, aber du solltest vorsichtig sein. Das könnte sehr gefährlich werden.“
Josh sah sie enttäuscht an. „Ich könnte seine Verhaftung zumindest kurz im Lokalteil erwähnen.“ Er trank seinen Kaffee aus und machte sich auf, um seinen Artikel zu schreiben. Auf dem Weg nach draußen klingelte sein Telefon, woraufhin Myrtle ihm folgte und vorgab, die Geranien zu gießen.
„Und wie haben Sie reagiert, als Sie von Kitty Kirks Tod erfahren haben?“, fragte Josh. Er hörte zu und kritzelte ein paar Notizen auf einen Block, als er sich langsam einen Weg durch die Gartenzwerge in Myrtles Vorgarten bahnte. Myrtle verdrehte die Augen. Er setzte offensichtlich auf Emotionen und verzichtete auf die Fakten. „Und waren Sie überrascht, als sie gehört haben, dass es Mord war, Miss Sherman?“ Und dann noch Erma mit ihrem Hang zu dramatischen Übertreibungen. Na wunderbar.
Myrtle beobachtete, wie er in sein Auto stieg und davonfuhr. Sie konnte sich Josh einfach nicht als Mörder vorstellen. Sie hatte ihn ursprünglich auf ihre Liste gesetzt, da er genauso entrüstet über Parkes Kolumne gewirkt hatte wie sie selbst. Mittlerweile fragte sie sich jedoch eher, ob er sich nicht einfach nur solidarisch mit ihr gezeigt hatte. Sie war sich sicher, dass Sloan die Artikel seines Wunderknaben niemals gekürzt hätte, um für Parkes dämliche Storys Platz zu machen ‒ dafür war er dann doch zu heiß auf irgendwelche Auszeichnungen. Und Josh schien ebenfalls ein Auge auf Parke geworfen zu haben. Er errötete jedes Mal, wenn ihr Name genannt wurde.
Immerhin hatte er von alleine zu ihr gefunden. Jetzt musste sie nur noch ihre Liste durchgehen und sich mit den restlichen Verdächtigen unterhalten. Sie dachte an Tippy Chambers. Zu schade, dass erst nächsten Monat wieder ein Buchclubtreffen geplant war. Wer hätte geahnt, dass sie jemals so sehnsüchtig auf ein Treffen warten würde? Myrtle schüttelte ungläubig den Kopf und warf einen Blick auf den Kalender. Für 11 Uhr war ein Treffen des Kirchenkreises im Gemeindesaal geplant. Sie strahlte. Wie gut, dass Red sie für diesen ganzen Quatsch angemeldet hatte. Das war die Gelegenheit, um Tippy Chambers auf den Zahn zu fühlen. Sie zog sich an.
*****
Die Kirche war von ihrem Haus aus gut zu Fuß zu erreichen. Es war ein schöner Tag, auch wenn es bereits sengend heiß war. Das Seersucker-Kostüm klebte an ihr, während sie sich mit ihrem Gehstock zur Kirche aufmachte.
Ihr wachsames Auge erkannte Benton Chambers sofort, der sich auf dem Parkplatz vor der Kirche mit Tippy unterhielt. Als Myrtle auf sie zuging, ging Tippy in die Kirche und Benton zu seinem Auto. Floh er vor ihr? So gut ihr der Gedanke auch gefiel, ging sie doch davon aus, dass er zurück zur Arbeit musste. Sie rief ihm hinterher: „Huhu! Benton?“
Er versteifte sich und drehte sich mit seinem einnehmenden Politikerlächeln auf den Lippen um. „Oh, Mrs. Clover! Wie geht es Ihnen, Madam? Ist es nicht ein wunderbarer Tag?“
„Ja, das stimmt. Vielleicht etwas zu heiß. Ich habe mich ja gerade gefragt, ob Sie wohl schon von den neuesten Geschehnissen gehört haben? Von Kitty Kirk?“
Er musste bereits davon gehört haben, denn ein seltsamer Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit und er steckte die Hand in seine Anzugstasche. „Bitte entschuldigen Sie, Mrs. Clover, da ruft mich wer an.“
„Ich habe es gar nicht klingeln gehört“, sagte sie misstrauisch.
„Ich habe den Vibrationsalarm eingestellt“, sagte er, drückte eine Taste auf seinem Handy und sprach hinein, während er zu seinem BMW ging.
Myrtle suchte in ihrer Handtasche nach ihrem eigenen Handy. Sie wollte Elaine von Bentons Reaktion erzählen und wissen, ob sie ihr ebenfalls verdächtig vorkam.
Sie nahm ihr Telefon heraus, steckte es aber sogleich wieder zurück in ihre Tasche. Was brachte es ihr schon, Elaine anzurufen? Sie wusste bereits, wie das Gespräch ablaufen würde. Myrtle würde Elaine fragen, ob ihr Benton Chambers mit seinem vorgeschobenen Anruf verdächtig vorkam. Im Hintergrund würde Jack wegen verschütteten Cornflakes herumbrüllen, während Red sich über einen kaputten Laptop ärgerte und Jean-Marc mürrisch auf Französisch vor sich hin murmelte. Elaine würde vorgeben, Myrtle zuzuhören, nur um dann zu antworten: „Ja, ja, ähm... genau. Du bist in der Kirche?“ oder ähnliches sinnloses Zeug, bevor sie den Anruf schnell wieder beendete. Nein, sie würde sich auf sich selbst verlassen müssen. Elaine hatte sich von der ausgebrannten Mutter zu einer Amateur-Zoohüterin verwandelt.
Myrtle dachte kurz über ihre eigene Verwandlung von der beliebten Freundin, die jeder mit offenen Armen bei sich willkommen hieß, zur einsamen ‒ selbstständigen, korrigierte sie sich ‒ Ermittlerin, die sie jetzt war. Dann lächelte sie. Sie würde etwas später Miles anrufen und ihre Überlegungen mit ihm besprechen. Mit diesem Gedanken ging sie in den Gemeindesaal, wo die meisten Frauen des Kirchenkreises bereits darauf warteten, dass das Treffen begann. Neben Tippy Chambers in ihrem leuchtend roten Kostüm war noch ein Platz frei. Myrtle setzte sich schnell und drehte sich zu Tippy, um sich mit ihr zu unterhalten. In diesem Moment begann jedoch das Treffen, was Myrtles Plan durchkreuzte.
Myrtle hing ihren Gedanken nach, während die Vorsitzende das Protokoll des letzten Treffens vorlas. Sitzungen waren ihr ein Graus, weshalb sie sie nach Möglichkeit mied. Was einer der Hauptgründe war, warum sie sich nicht selbst für den Kirchenkreis angemeldet hatte. Das Protokoll schien endlos und die Klimaanlage des Gemeindesaals lief laut und eintönig. Myrtle vermutete später, dass sie wohl eingenickt sein musste. Es gab sonst keine Erklärung dafür, warum sie ihren Kopf auf einmal gegen Tippy Chambers Schulter gelehnt hatte.
Sie setzte sich auf und sah entschuldigend zu Tippy, die ihr ein höfliches, wenn auch eisiges Lächeln zuwarf. Myrtle nahm an, dass es in Tippys Welt nicht allzu viele Menschen gab, die ihre Kostüme zerknitterten oder sogar darauf einnickten. Sie nahm sich fest vor, das Treffen wach durchzustehen und zwickte sich selbst in den Arm. Das Treffen war während ihres kurzen Nickerchens nicht aufregender geworden und mehrere Frauen diskutierten nun monoton irgendwelche Kirchenthemen. Soweit Myrtle das einschätzen konnte, kauten sie die ewig gleichen Themen durch, ohne neue Vorschläge oder Ideen einzubringen.
Sie sah zu Tippy, um herauszufinden, ob diese wohl genauso gelangweilt war von der Sitzung wie Myrtle. Das Problem mit Tippy war jedoch, so entschied sie, dass diese ihre Ehrenämter so unglaublich ernst nahm. So übereifrig und interessiert. Irgendwas stimmte einfach nicht dabei, dachte Myrtle bösartig, dass Tippy so in diese lächerliche Sitzung vertieft war. Und das würde wahrscheinlich nach der Sitzung nicht anders werden, wenn Tippy dann anfing, irgendwelche Punkte der Tagesordnung zu vertiefen. Nein, das war der perfekte Moment, um sich mit ihr zu unterhalten.
Myrtle nahm ihre damenhafteste Haltung ein und zupfte an Tippys Ärmel. Tippy sah sie gequält an, besann sich dann aber auf ihre guten Manieren, älteren Mitmenschen mit Respekt zu begegnen, und lehnte sich zu Myrtle.
„Hast du das von Kitty Kirk gehört?“, fragte Myrtle.
Tippy sah sie mitleidsvoll an. „Ja, wir haben darüber gesprochen, während du geschlafen hast. Wir haben überlegt, wie wir ihr in der Kirche angemessen gedenken können, da sie sich so für die Gemeinde eingesetzt hat.“
Myrtle ärgerte sich, dass sie den einzigen spannenden Teil des Treffens verschlafen hatte. „Habt ihr darüber gesprochen, was mit ihr passiert ist?“
„Nein, wir haben nur ein Gebet für ihre Familie gesprochen, vereinbart, dass wir ihnen einmal Essen vorbeibringen wollen und die verschiedenen Gedenkmöglichkeiten besprochen.“ Tippy wandte ihren Blick betont auffällig wieder nach vorne.
„Es war Mord, musst du wissen“, flüsterte Myrtle ihr ‒ so hoffte sie ‒ verschwörerisch zu.
Tippys grüne Augen funkelten, als sie ihren Blick wieder Myrtle zuwandte. „Das habe ich gehört. Die Arme.“
„Es ist ein so schrecklicher Gedanke“, sagte Myrtle und hoffte, dabei wie eine schrullige alte Dame zu wirken, „dass die arme Kitty gelitten hat, während ich ein Abendessen für Freunde vorbereitet habe.“ Sie legte eine Pause ein. „Was hast du gemacht, als Kitty umgebracht wurde?“
Tippy atmete hörbar durch ihre zusammengekniffenen Lippen aus. „Das weiß ich nicht, Myrtle. Ich weiß überhaupt nichts über den Mord. Ich war gestern bei so vielen Treffen, dass ich ständig durch die Stadt gehetzt bin, um rechtzeitig beim Gartenclub, der Altargilde und der Historikergesellschaft zu sein.“
„Benton auch?“ fragte Myrtle. Sie versuchte in einem plauderhaften Tonfall zu sprechen, aber Tippy verhielt sich offensichtlich verdächtig. „Ja, Benton auch. Er befindet sich gerade mitten im Wahlkampf.“
„WILLST DU MICH UMBRINGEN?“, ertönte auf einmal Reds Stimme. Myrtle wirbelte herum, konnte ihn aber nirgendwo erblicken. Alle Anwesenden drehten sich zu ihr und starrten sie an, als Reds Stimme erneut durch den Raum schnitt. Da bemerkte Myrtle, dass Reds Stimme aus ihrer riesigen Handtasche zu kommen schien. Tippy warf ihr einen vernichtenden Sei-bloß-leise-Blick zu. Myrtle schnappte sich ihre Handtasche und den Gehstock und eilte zur Tür hinaus. Dieser Red. Er musste eine Sprachnachricht aufgenommen und als Klingelton eingestellt haben, als er ihr neues Handy eingerichtet hatte. Sie drückte auf dem Handy herum und versuchte vergebens, wieder einen normalen Klingelton einzustellen oder das Telefon leiser zu schalten. Dieses Mal hatte er es zu weit getrieben. Sie gab auf, steckte das Handy in ein Päckchen Papiertaschentücher und vergrub es tief in ihrer Handtasche.
*****
„Mama braucht ein neues Hobby“, brummte Red, als er durch die Tür der Polizeiwache schritt. Perkins, der gerade einen Aktenordner in der Hand hielt, hob fragend eine Augenbraue.
„Ich bin gerade an der Kirche vorbeigefahren und habe gesehen, wie sie versucht hat, Informationen aus Benton Chambers herauszubekommen. Sie bringt sich noch in ernsthafte Schwierigkeiten.“
„Müssen wir sie erneut auf eine falsche Fährte locken? Ich nehme an, dass sie bei ihrem letzten Ausflug nicht bemerkt hat, dass wir sie in die Irre geführt haben.“
„Sollte sie es bemerkt haben, hat sie es mir zumindest nicht erzählt“, antwortete Red. „Sie hat mir nur die Ohren wegen ihren Büschen vollgejammert.“
Perkins nahm seine Kaffeetasse vom Schreibtisch und nahm gedankenverloren einen Schluck. „Wie wäre es mit dem PC? Können wir sie dazu bringen, am Computer zu recherchieren und sie so für eine Weile beschäftigen?“
Red lachte laut auf. „Perfekt. Sie weiß nur, wie man Texte schreibt und E-Mails verschickt. Das Internet ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich weiß, wie wir das anstellen. Ich werde so tun, als würde ich mich mit dir am Telefon unterhalten. Ich muss sowieso bei ihr vorbeischauen und mit ihr Einkaufen fahren. Gib mir einfach 20 bis 25 Minuten und ruf mich dann an. Ich werde sagen, dass wir die Verdächtigen in die Suchmaschine eingeben müssen. Sie wird einen ganzen Tag brauchen, um herauszufinden, was das heißt und einen weiteren, um es selbst auszuprobieren. Dann kann sie ihre Schnüffeleien sicher von zuhause aus machen, ohne dabei die gesamte Gemeinde zu belästigen.“
*****
Myrtle hatte an diesem Morgen bereits eine interessante Entdeckung in der Zeitung gemacht. Joshs Artikel über Kittys Mord war wie immer gut geschrieben ‒ wie man es von jemandem erwartete, der bereits bei der New York Times gearbeitet hat. Aber dieses Mal fiel ihr etwas anderes auf. Sie hatte nicht nur das Gefühl, selbst darin vorzukommen, sondern bemerkte auch, dass die Story so geschrieben war, als wäre er für das Interview persönlich bei Erma Sherman gewesen. Und sie wusste mit Sicherheit, dass es ein Telefoninterview gewesen war. Nichtsdestotrotz beschrieb er ihren Gesichtsausdruck detailliert und verwendete Formulierungen wie „Sie zog nervös am Kragen ihrer Bluse“. Na ja. Josh ging wahrscheinlich davon aus, dass Erma ihm das in ihrer Schwärmerei nicht übelnehmen würde. Sie war wahrscheinlich so verzaubert über die Aufmerksamkeit, die er ihr zuteilwerden ließ, dass ihr gar nicht auffiel, dass er ein paar Details hinzugefügt hatte, die er gar nicht kennen konnte. Aber es verwunderte Myrtle. Hatte Josh vielleicht zuvor schon einmal seine Artikel ausgeschmückt und Parke hatte das bemerkt? Sie konnte diesem interessanten Gedanken nicht besonders lange nachgehen, da Red sie zwanzig Minuten später abholte, um mit ihr zum Einkaufen zu fahren. Er grinste nur, während sie ihm einen Vortrag über Respekt gegenüber Müttern hielt und darüber, dass man mit ihren Handys keine Spielchen trieb, als seines klingelte. „Wie war das? Ich soll online etwas für dich nachschauen? In Ordnung, klingt nach einer heißen Spur... ich werde sie mal online überprüfen. Ja, ich werde sie in die Suchmaschine eingeben.“ Myrtle wühlte geschäftig in ihrer Handtasche und gab vor, nach Rabattmarken oder einer Einkaufsliste zu suchen, während sie ihre Ohren spitzte. Es ärgerte sie, dass Red scheinbar davon ausging, dass sie keine Ahnung von Computern hatte und deswegen offen vor ihr sprechen konnte.
Als sie beim Supermarkt ankamen, grinsten beide selbstgefällig vor sich hin. Red war sich sicher, seine Mutter für ein paar Stunden beschäftigt zu haben (und dass sie inzwischen vergessen hatte, ihn das Handy neu einstellen zu lassen) und Myrtle grinste selbstgefällig, da sie zuvor schon einmal im Internet recherchiert hatte. Sie war sich nicht sicher, welchen Verdächtigen sie überprüfen sollte, aber das war nicht wichtig, denn es dauerte nur ein paar Minuten, im Internet nach jemandem zu suchen. Sie erledigte ihre Einkäufe in Rekordzeit, indem sie wahllos Dinge in ihren Einkaufswagen warf und nach kürzester Zeit auf die Kassen zusteuerte. Red lud amüsiert die Einkaufstaschen in den Kofferraum seines Polizeiautos. Seine Mutter brannte darauf, nach Hause zu kommen und herauszufinden, worüber er gesprochen hatte. Er war sich sicher, dass sie damit erst einmal beschäftigt war.
Die Tür fiel hinter Red ins Schloss, als er die Einkaufstaschen in Myrtles Haus trug. Als er sie auf dem Küchentresen abstellte, fragte er: „Soll ich dir beim Einräumen helfen, Mama?“
Sie scheuchte ihn davon. „Nein, das passt schon. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen für... den Kirchenkreis. Du kannst also schon gehen. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du währenddessen ständig Küchenschränke auf- und zumachst.“ Sie beobachtete, wie ihr Sohn grinsend hinausging. Dann warf sie ein paar der Lebensmittel in den Kühl- und Gefrierschrank und setzte sich vor ihren PC. Red hatte offensichtlich nicht zugehört, als sie ihm von dem Computerkurs erzählt hatte, den sie vor ein paar Jahren in der Bibliothek belegt hatte.
Myrtle öffnete die Suchmaschine und starrte nachdenklich den Bildschirm an. Mit wem sollte sie beginnen? Sie entschied sich für die Chambersʼ. Sie tippte zuerst Bentons Namen ein, woraufhin mehr als zehn Einträge erschienen. Sie begann aufgeregt zu lesen, bis sie bemerkte, dass alle Einträge von seinen politischen Ämtern handelten, wie Bürgerversammlungen oder Bentons ehrenamtlichen Einsätzen.
Die Suche mit Tippys Namen war noch enttäuschender. Sie fand nicht halb so viele Einträge und sie alle handelten vom Gartenclub und ihren kirchlichen Ehrenämtern. Myrtle lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte mürrisch auf den Bildschirm. Was hatte sie schon erwartet? Sie kannte Benton und Tippy schon seit deren Kindheit. Das einzig Schockierende, von dem sie bisher erfahren hatte, war Bentons Affäre und selbst die war angesichts der Umstände ziemlich vorhersehbar.
Sie beschloss daher, nach jemandem zu suchen, über den sie bedeutend weniger wusste: Parke Stockard. Diese Suche ergab leider über 13.000 Treffer. Myrtle seufzte. Es schien ein sehr häufiger Name zu sein. Sie durchsuchte ihr Altpapier nach einer alten Ausgabe des Bradley Bugle, in dem Parkes voller Name stand. Als sie „Parke Frances Stockard“ eingab, bekam sie nur fünfzig Ergebnisse angezeigt ‒ und alle zur richtigen Parke.
Sie schnitt eine Grimasse. Es waren alles alte Kolumnen, die Parke für die New York Post geschrieben hatte. Parkes Schreibstil war schon damals derselbe gewesen wie in ihrer 'Liebenswert Leben mit Parke'-Kolumne für den Bradley Bugle: zuckersüße Prosa und verhaltene Schmeicheleien für die Schönen und Reichen. Myrtle nahm an, dass Parke die perfekte Wahl für den Job gewesen sein musste. Am Anfang der Kolumne war jedes Mal ein kleines Foto von Parke bei einer anderen Veranstaltung. Sie war auf jedem Bild tadellos zurechtgemacht, perfekt gekleidet und einfach umwerfend, umgeben von anderen gut betuchten Menschen. Sie las sich so viele Artikel zu gesichteten Promis und Partys wie möglich durch, bevor sie angewidert aufgab.
Als nächstes suchte sie lustlos nach Althea Hayes und fand ein paar Erwähnungen in Ahnenberichten, über die Myrtle bereits Bescheid wusste ‒ sie war immerhin bestens informiert über die Verwandtschaftsverhältnisse in Bradley. Außerdem stieß sie auf einen alten Eintrag über ein Mittagessen für den guten Zweck, das der Gartenclub organisiert hatte. Als nächstes tippte Myrtle Tanners Namen ein, über den es nur sehr wenig zu lesen gab. Unter anderem war da eine Webseite mit einem Bild aller Angestellten der Versicherungsagentur, für die Tanner gearbeitet hatte. Tanner hatte mit seinem krötenartigen Gesicht einen leicht misstrauischen Blick aufgesetzt, als wäre er es nicht gewohnt, fotografiert zu werden.
Die Suche nach Kitty Kirk ergab einen Treffer mit einem Artikel über ihren Sohn, der wegen Drogenbesitzes verhaftet worden war. In einem späteren Artikel stand, dass ihr Sohn in eine Erziehungsanstalt geschickt worden war.
Myrtle setzte ihre Suche mit Cecil Stockard fort und übersprang zunächst die Artikel über Universitätsprofessoren, Taucher und Schauspieler, bis sie zu den Treffern zum richtigen Cecil aus Bradley kam. Er hatte eine eigene Webseite, auf der er offensichtlich damit prahlte, auf welchen Partys er gewesen war und wie viel Alkohol er getrunken hatte. Seine Freunde, die wie eine wilde Meute aussahen, hatten ihre eigenen Bilder von anderen Partys dazu gepostet. Dazu kam ein Verbrecherfoto von einer Festnahme ein paar Jahre zuvor wegen Drogenbesitzes in New York. „Na, der war aber schwer beschäftigt“, murmelte Myrtle. Keine der Informationen überraschte sie oder schien mit dem Mord an seiner Mutter in Verbindung zu stehen.
Schließlich tippte sie Josh Tuckers Namen ein. Sie fand mehrere Seiten an Suchergebnissen, was sie ganz aufgeregt werden ließ, bis sie bemerkte, dass die meisten Einträge auf der ersten Seite von seinem Journalismus-Preis handelten. Myrtle zog eine Grimasse. Der Wunderknabe. Sie hatte keine Ahnung, wonach Red suchte, aber es war sicherlich nicht einfach zu finden. Und dennoch hatte sie das ungute Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen.
Myrtle fuhr den PC herunter und sah gedankenverloren auf den schwarzen Bildschirm. Sie wusste, dass Cecil es nicht gewesen sein konnte, zumindest was den zweiten Mord betraf. Tippy hatte sich beim Treffen des Kirchenkreises nicht besonders überzeugend verhalten. Sie kam immer noch als Mörderin infrage, aber sie misstraute Myrtle und schwieg wann immer sie sie erblickte. Sie entschied, dass sie Althea erneut einen Besuch abstatten musste. Myrtle wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie etwas wusste. Myrtle würde auch noch ein weiteres Treffen mit dem Wunderknaben durchstehen müssen. Josh könnte weitere Informationen über den Fall haben und zählte immer noch zu den Verdächtigen. Mit Benton Chambers wollte sie sich auch noch unterhalten. Irgendetwas an ihm ließ Myrtle an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Er log zu viel, wenn es darum ging, wo er war. Es würde ihm nicht allzu schwerfallen, etwas so Großes wie einen Mord zu vertuschen. Sie nahm ihren Gehstock und ihre Handtasche und machte sich zum Rathaus auf.
*****
Das Rathaus befand sich im selben Gebäude wie die Polizeiwache. Myrtle sah sich vorsichtig um, bevor sie den Messingknopf drehte, um einzutreten. Sie konnte auf einen weiteren Vortrag von Red über Ermittlungsarbeit verzichten. Sie stieg vorsichtig die abgenutzten Stufen zur Hauptverwaltung hoch.
Am altmodischen Empfangstisch aus Holz saß eine Dame mittleren Alters, die einen Katalog durchblätterte. Sie sah überrascht auf, als die Tür geöffnet wurde.
„Hallo Lisa“, sagte Myrtle. „Ist Benton hier?“
Lisa sah Myrtle über ihren Brillenrand hinweg an. „Was willst du von ihm?“
Kleinstädte.
„Ist er hier? Es geht... um die Stadt.“
„Ich frage mal nach, ob er Zeit für dich hat“, antwortete Lisa herrisch. Sie nahm den Plastikhörer eines alten 80er-Jahre-Telefons, das mehr Kurzwahltasten hatte als das Gebäude Nebenanschlüsse. Sie drückte eine der Kurzwahltasten und bedeckte ihren Mund mit ihrer Hand, als sie sich mit Benton Chambers unterhielt.
Lisa ließ schließlich den Hörer sinken und fragte Myrtle: „Worum geht es bei deinem Besuch?“ Sie verbarg dabei keineswegs ihre Genugtuung, dass Myrtle es ihr sagen musste.
„Es geht um Probleme mit der Müllabfuhr“, antwortete diese. Lisa gab die Information an Benton weiter, hing das Telefon sorgfältig wieder auf, rümpfte die Nase und sagte schließlich: „Er erwartet dich.“ Sie nahm ihren Katalog wieder zur Hand und hatte offensichtlich das Interesse an Myrtles Überraschungsbesuch verloren.
Myrtle ging einen kurzen Flur hinunter und schaltete das Diktiergerät in ihrer Handtasche ein, um ihre Unterhaltung mit Benton später noch einmal durchgehen zu können. Sie öffnete eine alte Holztür, neben der ein Schild mit der Aufschrift Benton Chambers hing. Tippy hatte offensichtlich Bentons Büro miteingerichtet. Die Stadt Bradley konnte sich mit Sicherheit keine Orientteppiche oder Leder-Clubsessel für ihre Angestellten leisten. Und eine Stadt, die abgenutzte Teppichböden nicht austauschte, investierte garantiert nicht in alte Ölgemälde von Fuchsjagden.
Benton saß hinter einem großen Schreibtisch und erhob sich halb, als Myrtle eintrat. „Mrs. Clover, Sie haben ein Problem mit der Müllabfuhr? Was kann ich für Sie tun?“ Er hatte sein Politiker-Gesicht aufgesetzt, auch wenn sein Lächeln sich in seinen pausbäckigen Wangen verlor.
„Ähm... ja. Die Müllabfuhr ist immer um 8 Uhr gekommen und jetzt kommt sie schon um 7 Uhr. Ich muss mich jeden Dienstag beeilen, um sie nicht zu verpassen und das ist... anstrengend.“
Benton sagte nichts und paffte einige Male an seiner Zigarre. „Warum stellen Sie Ihre Mülltonne nicht schon am Vorabend bereit, Mrs. Clover? So müssen Sie sich am Morgen nicht beeilen.“
Myrtle strahlte ihn an, als wäre er ein Musterschüler. „Was für eine wunderbare Idee, Benton! Ja, genau, so werde ich es machen. Ich werde die Tonne schon am Montagabend rausstellen.“ Sie schüttelte bewundernd den Kopf. „Sie sind ohne Zweifel auf Zack. Ich bin einfach schon etwas tattrig. Das mit Kitty Kirk hat mich völlig aus der Fassung gebracht.“
Benton rutschte in seinem Stuhl hin und her und beeilte sich zu sagen: „Ja, na ja, Sie stellen Ihren Müll einfach schon am Vorabend raus und damit löst sich Ihr Müllproblem in Luft auf.“
„Sind Sie nicht bestürzt wegen Kitty? Ich kann einfach nicht glauben, dass ich meinem ganz normalen Leben nachgegangen bin, während Kitty ermordet wurde. Ich kann es einfach nicht glauben! Was haben Sie denn an dem Tag getan, an dem die arme Kitty ermordet wurde?“
Benton sah sie stirnrunzelnd an. „Das war ein sehr anstrengender Tag für mich. Ich habe beim Frauen-Hilfswerk für zahlreiche Damen eine Rede gehalten.“
„Den ganzen Tag lang?“, fragte Myrtle unschuldig.
„Nein, natürlich nicht. Aber ich war an diesem Tag in der ganzen Stadt unterwegs, bin meinen Pflichten nachgekommen, habe Reden gehalten...“ Er sah betont auffällig auf seine Uhr.
„Haben Sie währenddessen viele Leute getroffen?“ Myrtle entschied, alle Vorsicht fallen zu lassen. Wenn er an diesem Tag wirklich in der ganzen Stadt unterwegs gewesen war, konnte er ihr vielleicht mehr Informationen über die anderen Verdächtigen geben.
„Mrs. Clover, ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht versuchen, Reds Job für ihn zu übernehmen. Ich kann Ihnen sagen, auch wenn ich sehr hoffe, dass Sie nicht darauf hinauswollen, dass Tippy und ich in keinster Weise mit diesen Morden in Verbindung stehen. Punkt. Und ich habe an diesem Tag viele getroffen, wie Althea Hayes mit ihrem Neffen Josh zu Mittag in Bo’s Diner. Und ich habe Josh später am Nachmittag noch einmal getroffen.“ Er zog ausgiebig an seiner Zigarre, bevor er diese auf einem Aschenbecher ablegte. „Ich habe gehört, dass er mit Parke ebenfalls ein Hühnchen zu rupfen hatte, wegen seinen Artikeln für die Zeitung.“
„Interessant, dass Sie darüber Bescheid wissen“, erwiderte Myrtle.
Benton hob überrascht eine Augenbraue. „Sie müssten doch am besten wissen, wie das so in einer Kleinstadt ist, Mrs. Clover! Gute Güte, ich kann auf dem Weg vom Büro zu meinem Auto mehr schmutzige Geschichten erfahren als viele Privatermittler.“ Er lachte trocken und fuhr dann fort: „Herumschnüffeln kann sehr gefährlich sein. Sie wühlen sich wahrscheinlich nur durch harmlosen Klatsch und Tratsch. Wenn aber nicht, dann muss ich Sie warnen: Mischen Sie sich bloß nicht in derartige Geschichten ein. Das ist Sache der Polizei und Sie tun sich damit nichts Gutes.“ Er fuchtelte mit einem seiner dicken Finger in der Luft herum.
Myrtle erschauderte, als sie sich an die Worte der Seherin bei Crazy Dan erinnerte. „Sie haben recht, Benton, ich wollte nur etwas Klatsch und Tratsch erfahren. Für eine alte Dame wie mich gibt es nicht viel zu tun, müssen Sie wissen.“
Benton schien sich zu entspannen. „Das kann sein, Mrs. Clover, aber Sie können immer noch Bingo spielen. Im Gemeindezentrum wird um Punktemarken gespielt.“
Myrtle nickte traurig und griff nach ihrer Handtasche. „Und viel Glück mit der Müllabfuhr“, rief er ihr hinterher, als sie die Tür hinter sich schloss.
*****
Sie trat gerade aus der Eingangstür, um sich auf den weiten Weg zu Althea zu machen, als ihr Telefon klingelte.
Es war Miles, der behutsam fragte, wie sie mit dem Fall vorankam.
„Würde es dir etwas ausmachen, mich irgendwohin zu fahren? Dann kann ich dir auf dem Weg alles erzählen. Ich wollte gerade zu Althea gehen und es macht mir nichts aus, zu Fuß nach Hause zu gehen, aber beide Wege sind bei dieser Hitze ganz schön anstrengend.“
Einen Augenblick später saßen beide in Milesʼ Auto in Richtung des Boulevards. Myrtle erzählte ihm von ihrer Internetrecherche und dass sie keine skandalösen Neuigkeiten hatte herausfinden können. „Deswegen habe ich entschieden, Althea noch einmal einen Besuch abzustatten. Dieses Mal werde ich aber etwas aus ihr herausbekommen“, sagte sie entschlossen.
„Soll ich dich begleiten?“, fragte Miles.
„Nein, es würde nicht helfen, wenn wir sie noch misstrauischer machen, als sie es ohnehin schon ist. Außerdem“, sagte Myrtle stirnrunzelnd, „könnte sie zuletzt noch dem Miles-Bradford-Fanclub beitreten.“
Miles runzelte verärgert die Stirn. „Na gut, dann setze ich dich nur bei ihr ab. Was hältst du davon, wenn ich auch noch etwas im Internet recherchiere, sobald ich zuhause bin? Vielleicht hast du etwas übersehen.“
Myrtle nickte. „Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich etwas übersehen habe, irgendeinen Hinweis, der auffallen hätte müssen.“
„Und wäre es nicht seltsam, wenn nichts zu finden wäre, wo Red doch ganz klar gesagt hat, dass er sie alle online überprüfen muss?“
Miles bog in Altheas mit Lagerströmien gesäumte Einfahrt ein, bremste und schaltete den Motor aus. Myrtle saß einen Augenblick wortlos da. „Jetzt habe ich's“, sagte sie und fuchtelte mit ihrem Finger vor Milesʼ Gesicht herum.
„Es ist mir bisher noch nie aufgefallen, aber sowohl Josh Tucker als auch Parke Stockard sind in den letzten Jahren aus New York City hierher gezogen. Ich frage mich, ob sie sich wohl dort schon gekannt haben.“
Miles zog seine Augenbrauen nach oben. „Das ist eher unwahrscheinlich, nicht wahr? Immerhin leben dort acht Millionen Menschen.“
„Das stimmt, aber sie sind beide Journalisten.“
„Wenn man eine Tratsch-Kolumnistin als Journalistin bezeichnen kann“, erwiderte Miles.
„Sie hätten sich durchaus schon gekannt haben können, bevor sie nach Bradley gezogen sind.“
Miles kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Sie waren doch sicherlich nicht in den gleichen Kreisen unterwegs, oder? Parke war in jeglicher Hinsicht die glamouröse Schönheit und Josh...“
„...war kein Schönling. Das ist mir bewusst, aber Journalisten müssen doch immer wieder mal zusammenarbeiten. Ich werde Cecil anrufen.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sollte er wach sein.“
„Wach? Es ist 13 Uhr mittags!“
„Er ist eher ein Spätaufsteher.“
Cecil nahm nach dem zehnten Klingeln ab. „Hallo?“ drang seine verärgerte Stimme durchs Telefon.
„Cecil? Ich bin's, Myrtle Clover. Du bist sicher beschäftigt“, sagte Myrtle und unterdrückte ein Lachen, während Miles die Augen verdrehte, „deshalb werde ich mich kurz halten. Ich habe mich gerade gefragt, ob deine Mutter Josh Tucker in New York schon kannte.“
Nun klang Cecils Stimme herablassend amüsiert. „Sind wir wieder am Herumschnüffeln? Natürlich kannten sie sich schon aus New York. Er hat über viele Politiker geschrieben, die auf den Partys waren, über die Mutter immer in ihrer Kolumne geschrieben hat. Mehr weiß ich darüber nicht, ich war während unseres letzten Jahres dort ständig auf Entzug“, fügte er höhnisch hinzu.
„Glaubst du, dass Josh Tucker deine Mutter umbringen wollte, aus welchem Grund auch immer?“
„Nicht, dass ich wüsste. Aber die halbe Stadt wollte Mutter umbringen.“ Er schwieg kurz. „Eine Sache war da aber schon. Er hat Mutter die Schuld am Herzinfarkt seines Onkels gegeben. Das hat er mir klar zu verstehen gegeben.“
„Danke, Cecil“, sagte Myrtle. „Du hast mir sehr geholfen“, fügte sie hinzu.
Myrtle öffnete die Autotür. „Danke fürs Herfahren. Sieht ganz so aus, als hätten sie sich bereits aus New York gekannt. Ich werde Althea jetzt noch ein wenig über ihren Neffen ausfragen.“
Miles sah gedankenverloren durch seine Nickelbrille auf Altheas Garten. „Ich hätte nicht gedacht, dass Althea in diesem Haus wohnt. Es wirkt beinahe wie ein Haus aus Große Erwartungen."
Myrtle hatte noch gar keinen Blick in den Garten geworfen, so sehr hing sie ihren Gedanken über Cecil nach. „Grundgütiger, es hat tatsächlich etwas von diesem heruntergekommenen Satis House in dem Roman.“
„Vielleicht hat Althea denselben Gärtner wie du, das würde so einiges erklären.“
„Sehr witzig, Miles. Nein, nicht einmal Dusty würde einen Garten so verwahrlosen lassen. Es wäre ihm zu viel Arbeit, so hohes Gras zu mähen. Vielleicht erfahre ich von Althea, was los ist.“ Myrtle warf entschlossen die Beifahrertür zu und winkte Miles zum Abschied mit ihrem Gehstock zu.
Altheas sonst so gepflegter Garten war komplett verwachsen. Das Gras war lange nicht gemäht worden und in den Blumenbeeten wucherte das Unkraut. Zumindest ging Myrtle davon aus, dass es Unkraut war. Die Pflanzen blühten, ähnelten aber in keinster Weise den Gewächsen, die man für gewöhnlich in Englischen Gärten und deshalb auch um Altheas Haus herum fand. Japankäfer bevölkerten die Bäume. Myrtle runzelte die Stirn. Dieser Garten entsprach keinesfalls dem einer ehemaligen Präsidentin des Bradley Gartenclubs. Entweder hatte Althea ihren Gärtner gefeuert oder Tanner hatte sich um den Garten gekümmert, weshalb dieser jetzt verkam. Der Garten hatte bei ihrem letzten Besuch bereits kümmerlich ausgesehen, aber Myrtle war davon ausgegangen, dass Althea damals einfach noch nicht zur Gartenarbeit gekommen war. Jetzt aber fragte sie sich, ob diese überhaupt auf Altheas To-Do-Liste stand.
Myrtle klingelte und betete innerlich, dass Bambi nicht die Tür einrennen und sie im Ganzen verschlingen würde. Sie wartete bereits einige Minuten und Althea hatte immer noch nicht die Tür geöffnet. Myrtle runzelte erneut die Stirn und sah sich in der Einfahrt um. Altheas Cadillac war da. Als sie schließlich die Tür öffnete, trat Myrtle instinktiv einen Schritt zurück.