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Kapitel 17

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Im ersten Moment wollte Myrtle kaum glauben, dass die hexenähnliche Gestalt vor ihr die sonst so elegante und gepflegte Althea sein sollte. Ihr Haar, das sie sonst immer zu einem ordentlichen Knoten gebunden hatte, hing zerzaust über ihre Schultern. Bambi saß verloren neben ihr und sah ängstlich zu seinem Frauchen hoch. Myrtle griff nach Altheas Arm. „Was ist passiert? Ist etwas Schlimmes geschehen?“ Ihr wurde sehr schnell bewusst, dass tatsächlich etwas Schlimmes geschehen war. „Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe“, sagte Althea unsicher, „ich konnte die Tür nicht finden.“ Sie war mit einem dicken Flanellnachthemd sowie einem Morgenmantel bekleidet und sah aus, als würde sie schwitzen.

In Myrtle machte sich langsam aber sicher die Gewissheit breit, was Althea in den letzten Wochen so verzweifelt vor ihr verstecken wollte. Sie litt an einer frühen Form von Alzheimer. Myrtle war unbegreiflich, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Zum Beispiel, als sie so unerwartet in der Kirche auftauchte, als Parke Stockard ermordet wurde, wo sie doch im Gemeindesaal hätte sein sollen. Die unangemessene Kleidung, die sie beim Buchclubtreffen trug. Wie sie die Aktivitäten und Menschen mied, die sie sonst so mochte, nur um ihren Zustand zu verbergen. Ihr verwilderter Garten. Pfarrer Nathaniel musste Bescheid gewusst haben, weshalb er so schnell das Thema gewechselt hatte, als Althea in der Sakristei erschienen war. Und hier stand Althea vor ihr ‒ offensichtlich an einem ihrer schlechteren Tage ‒ und war verloren in ihrem eigenen Haus, hatte bis ein Uhr mittags geschlafen und trug dreckige, nicht der Jahreszeit angemessene Kleidung. Myrtle spürte, wie eine Welle der Traurigkeit sie erfasste.

Aber Althea bat Myrtle ins Haus. Myrtle war sich nicht ganz sicher, ob Althea überhaupt wusste, wo sie gerade war, aber sie schien Myrtle unbedingt hereinbeten zu wollen. „Ich bin so froh, dass du mir helfen kommst“, sagte sie. „Ich kann das Bügeleisen nirgendwo finden.“

Myrtle griff nach Altheas Arm. „Aber deshalb bin ich nicht gekommen, Althea. Ich bin es, Myrtle. Ich wollte... na ja, dich besuchen, um mit dir über den Mord an Parke Stockard zu sprechen.“

Althea runzelte die Stirn und ein flüchtiger Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte Myrtle, dass sie sich erinnerte. „Parke Stockard.“ Sie verzog das Gesicht. Sie konnte sich eindeutig erinnern. „Diese furchtbare Frau!“

Sie schien ganz vertieft zu sein, sodass Myrtle bereits fürchtete, dass sie sich vielleicht nicht mehr aus ihren vernebelten Gedanken lösen könnte. Aber Althea fuhr fort: „Sie war so schrecklich zu ihm. Wie kann eine so schöne Frau so böse sein? Sie hat sein Leben zerstört.“ Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. „Aber das dürfen wir niemandem sagen.“

Myrtle fühlte sich schon genauso verwirrt wie Althea. „Sie hat Tanners Leben zerstört? Indem sie versucht hat, euer Haus zu kaufen?“

Althea sah Myrtle mit ausdruckslosen Augen an. „Tanner? Nein, sie hat Joshs Leben ruiniert. Mein Neffe, Josh Tucker.“

In Myrtles Ohren rauschte es, während ihr Gehirn versuchte, diese Information zu verdauen. „Sie hat Joshs Leben ruiniert?“

Althea sah etwas verunsichert aus. „Sie hat behauptet, dass er sich nicht wirklich mit den Leuten unterhalten hat, über die er in seinen Artikeln geschrieben hat. Er wurde gekündigt. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen und er musste wieder nach Hause kommen.“

„Aber... warum war das so ein großes Geheimnis? Und woher weißt du davon?“

„Seine Eltern waren so stolz auf ihn. Er wollte nicht, dass sie es erfahren. Und ich wusste...“ Sie dachte einen Augenblick lang angestrengt nach. „Worüber haben wir gerade gesprochen?“

„Wie du davon erfahren hast, dass Parke daran schuld war, dass Josh gekündigt wurde?“, erwiderte Myrtle.

„Weil... ich immer die New York Times gelesen habe. Ich war so stolz auf ihn. Ich habe einen Artikel darüber gelesen, dass er von der Zeitung suspendiert wurde, weil es Probleme mit seinen Artikeln gab.“ Sie sah traurig aus, ihre Augen nahmen aber schnell wieder einen leeren Ausdruck an.

Myrtle verfluchte sich selbst dafür, dass sie nicht genauer über die Verbindung aus New York recherchiert hatte.

„Althea, ich muss los.“

Althea nickte und sah immer noch verloren aus. Das dicke Nachthemd und der Morgenmantel schienen ihren zerbrechlichen Körper geradezu niederzudrücken. Myrtle sah sich in dem ehemals so ordentlichen und jetzt so chaotischen Arbeitszimmer um und sagte traurig: „Ich werde deine Tochter anrufen, damit sie Hilfe für dich organisiert.“

Althea nickte. „Ja, das wäre nett. Ich brauche etwas Hilfe.“ Myrtle ließ Althea ziellos in Richtung der Küche davonziehen. Ihre Gedanken überschlugen sich noch immer angesichts dessen, was sie gerade erfahren hatte. Auf ihrem Weg nach draußen plärrte ihr Telefon: „WILLST DU MICH UMBRINGEN?“ Sie fluchte, als sie bemerkte, dass sie vergessen hatte, Red einen anderen Klingelton einstellen zu lassen. „Schärfer als einer Schlange Biss“, murmelte Myrtle.

Es war Miles. „Hör zu, wegen der Internetrecherche? Hast du alle Treffer zu Josh Tucker gelesen?“

„Nicht alle, die ich hätte lesen sollen, nein“, gab Myrtle zu. „Ich habe aufgehört, als ich bemerkt habe, dass es immer nur um seine Auszeichnung für den Bugle geht. Ich nehme an, dass etwas über seine Kündigung bei der Times dabei ist? Etwas, das mit Parke Stockard zu tun hat?“

Miles wirkte überrascht. „Ja, genau. Oh, hast du das von Althea erfahren?“

„Ich habe bei Althea so einiges erfahren. Mehr, als ich erwartet hätte. Aber was genau hast du gelesen?“

„Die bei der Times haben offensichtlich erfahren, dass Josh Tucker seine Artikel mit Erfundenem ausgeschmückt hat. Es waren zwar keine allzu großen Sachen, aber die Times hat sich nun eben nicht auf Fiktion spezialisiert. Sie haben ihn gekündigt, eine Entschuldigung für ihre Leser abgedruckt und Parke Stockard als Informantin erwähnt. Klingt für mich nach einem Mordmotiv.“

„Nicht nur das, denn Althea hat auch erzählt, dass sich Joshs Frau daraufhin von ihm scheiden hat lassen. Er stand also ohne Job und ohne Frau da. Er ist dann zurück nach Bradley gezogen, wo sich ausgerechnet Parke Stockard ebenfalls niedergelassen hat.“

„Klingt nach einem seltsamen Zufall, nicht wahr?“ fragte Miles.

„Überhaupt nicht. Wenn ich mich recht erinnere, hat entweder Parke oder Cecilia oder sonst wer erwähnt, dass jemand Parke wohl ständig davon vorgeschwärmt hat, wie toll Bradley doch sei. Was wetten wir, dass das Josh oder seine Exfrau waren? Als Parke sich dann nach einer wärmeren Gegend und einem vielversprechenden Immobilienmarkt umsah, hat sie sich auch für Bradley interessiert. Als sie bemerkte, dass es genau das war, wonach sie suchte, ist sie hierher gezogen.“

„Ich werde versuchen, im Internet noch etwas mehr herauszufinden“, sagte Miles. „Was machst du? Soll ich dich abholen?“

„Nein, das ist nicht nötig. Ich wollte... ähm noch etwas erledigen.“ Sie wollte Miles noch nicht erzählen, was sie wusste und dass sie zum Bugle wollte, um auf seinem Schreibtisch nach Beweisen zu suchen. Eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie ihrem Assistenten davon erzählen sollte. Wie gut, dass Myrtle leise Stimmen zu ignorieren pflegte. Sie hatte zu viel Zeit in diesen Fall gesteckt, um den Ruhm zu teilen.

Aber das hieß noch lange nicht, dass sie einfältig war. Sie musste sichergehen, dass weder Sloan noch Josh Tucker im Büro waren, damit sie sich in Ruhe umsehen konnte. Glücklicherweise hatte sie als Kolumnistin einen Schlüssel fürs Büro. Sie wählte die Nummer des Bradley Bugle. Sloan nahm ab. „Myrtle, womit kann ich dir heute dienen?“ Sloans Stimme sagte ihr deutlich, dass er nicht besonders erfreut über ihren Anruf war.

„Ich muss ganz dringend bei dir im Büro vorbeischauen. Jetzt gleich. Ich... ich muss mit dir über meine Kolumne sprechen. Du weißt doch, wie gern sie alle lesen und ich denke, dass wir sie vergrößern sollten. Die Artikel des Wunderknaben sind einfach so fade. Kannst du die nicht ein wenig kürzen und etwas Platz für mich schaffen? Ich bin gleich da, dann können wir das besprechen.“

Jetzt klang Sloan alarmiert. „Na gut, Myrtle, ich werde hier sein.“

Myrtle lächelte. Sie erkannte an seiner Stimme, dass sie ihn erfolgreich vertrieben hatte. Sie würde dort ankommen und eine Notiz von Sloan an der Tür finden, die sie darüber informierte, dass er ganz unerwartet für ein Interview wegmusste.

„Ist Josh da, Sloan? Ich wollte auch mit ihm kurz sprechen.“

Sloan gab hastig den Telefonhörer weiter, offensichtlich ganz heiß darauf, die kämpferische Myrtle loszuwerden.

„Josh? Hallo, hier spricht Myrtle. Hör zu, ich habe letzthin zufällig gehört, wie Red sich unterhalten hat und ich habe einen Hinweis für dich zu Kitty Kirks Mord. Ja, ganz genau. Du musst allerdings ziemlich weit rausfahren... kannst du dich an dieses Haus erinnern, das über und über mit Radkappen bedeckt ist? Crazy Dans Haus draußen am Highway. Ja, er hat offensichtlich Informationen zum Fall. Gern geschehen, Josh.“

Sloan war gerade dabei, seine Sachen zusammenzusuchen, als Josh auflegte. „Josh! Ich muss los. Myrtle Clover will vorbeischauen und sie ist schon wieder auf Kriegsfuß wegen ihrer Kolumne. Sag ihr irgendwas... dass ich ein unerwartetes Interview reinbekommen habe.“

Josh stand von seinem Schreibtisch auf und sah dabei noch gebeugter aus als gewöhnlich. „Sie hat gesagt, dass sie sich mit dir unterhalten will?“

„Nein, sie hat gesagt, dass sie sich mit mir unterhalten MUSS. Was bedeutet, dass ich hier weg muss.“ Er eilte zur Tür. „Ich gehe etwas essen, aber erzähl ihr das bloß nicht! Lass dir eine Ausrede einfallen. Eine gute!“

Myrtle versuchte angestrengt, die neuen Informationen zu verarbeiten, sodass ihr der Weg in die Innenstadt äußerst kurz vorkam. Nachdem sie einen kurzen inneren Zwiespalt ausgefochten hatte, entschied sie, dass sie sich der Polizei anvertrauen sollte. Mit etwas Glück würde sie innerhalb der nächsten paar Minuten den Beweis finden, der ihr noch fehlte. Sie wählte Reds Nummer und landete auf dem Anrufbeantworter. „Red? Ich habe Informationen zum Fall, die dich interessieren werden. Ruf mich schnell zurück, sobald du Zeit hast.“

Während sie weiterlief, schien die Luft um sie herum regelrecht aufgeladen zu sein ‒ und das war sie tatsächlich, wie sie bemerkte, als es laut über ihr donnerte. Myrtle sah zum Himmel empor, der voll mit wogenden dunklen Wolken war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Diese plötzlichen Sommerstürme brauten sich an so heißen Tagen unerwartet zusammen.

Myrtle steckte ihren Schlüssel in das Schloss, drehte den Messing-Türknopf am Eingang zum Bradley Bugle und trat in das mit Papier vollgestopfte Büro. Sie ging zu Sloans Schreibtisch.

Er war leer. Zumindest war Sloan nicht da, es türmten sich darauf Papierstapel, Fotos, Bücher und die riesige Trophäe. Myrtle grinste. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihn mit ihrer Ankündigung zu vertreiben. Sie ging zu Joshs Schreibtisch, der voll war mit sorgfältig gestapelten Ordnern und Unterlagen. Unsicher, wonach sie eigentlich suchte, öffnete Myrtle die oberste Schublade seines Schreibtisches. Wenn sie nur einen Beweis dafür finden könnte, der Josh mit dem Mordschauplatz in Verbindung brachte. Eine tiefe Stimme ertönte hinter ihr: „Myrtle? Willst du eine Kolumne vorbeibringen?“