Kapitel 1
„Brrrr!“
Marleen schüttelte sich und zog die flauschige Decke unter dem Fotoalbum aus ihrer Ausbildungszeit zur Physiotherapeutin noch etwas höher.
„Der Kneipp'sche Schenkelguss! Folter pur!“, kommentierte sie das Foto von ihr in Badeanzug und Gänsehaut. Auf dem Bild stand sie mit gespreizten Fingern und hochgezogenen Schultern vor einer weiß gefliesten Wand und kreischte. Die junge Frau neben ihr hielt einen daumendicken Schlauch an ihren rechten Oberschenkel und ließ mit einem Grinsen Wasser über die Beinaußenseite laufen. „Eiskaltes, nein, lausig kaltes Wasser war das.“ Bei dem Gedanken an die Unterrichtsstunde in Wassertherapie kräuselte sich jetzt noch die Haut auf ihren Armen.
Weil sie gerade dringend Ablenkung brauchte, hatte Marleen den Bildband mit den Erinnerungen an diese schöne, aufregende Zeit aus dem Regal genommen und es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht.
Während sie umblätterte, glitt ihr Blick immer wieder in die Ferne. Wie schön der Anfang ihres Berufslebens doch gewesen war! Ja, sie liebte ihre Arbeit. Selbst an ihren ersten schlecht bezahlten Job in dem kleinen Kölner Vorstadtkrankenhaus erinnerte sie sich noch gern. Von da an hatte sie sich Schritt für Schritt hochgearbeitet. Horchte sie jetzt in sich hinein, dann spürte sie, wie ihr Ehrgeiz noch immer so heiß brannte wie zu Beginn ihrer Ausbildung.
Von ihrer ersten eigenverantwortlichen Behandlung an hatte sie mit ihren Patienten gelitten, gelacht und geschwitzt, sich unablässig weitergebildet und dazugelernt, um dann endlich diese tolle Stelle in der renommiertesten Reha-Klinik der Domstadt zu bekommen. Doch auch als sie dort gut eingearbeitet war und immer mehr Patienten nur von ihr behandelt werden wollten, lag es ihr fern, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Sie hatte schließlich ein Ziel vor Augen. In den nächsten drei bis vier Jahren wollte sie alles dafür zu tun, sich ihren Traum zu erfüllen – die Eröffnung einer eigenen Praxis.
Marleen blickte träumerisch zu dem frischen Grün der Linden vor dem Wohnzimmerfenster. Natürlich würde sie ganz klein anfangen, aber das war ja gerade das Aufregende – eine Praxis von Grund auf nach den eigenen Vorstellungen aufzubauen. Die beruflichen Erfahrungen, die sie bis dahin gesammelt hatte, hätten das sichere Fundament dafür gebildet.
Aber noch etwas war ihr damals wichtig gewesen, und das war Svens Zugeständnis, sie auf ihrem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen. Genau das hatte er ihr am Abend nach ihrem Einzug in die erste gemeinsame Wohnung fest versprochen.
„Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Wenn es soweit ist, werde ich dich unterstützen, so gut es geht. Ich finde es doch super, wenn du das Ding durchziehst. Wer hat schon eine Frau mit einer eigenen Praxis?“
Marleen erinnerte sich noch genau, wie sie Sven in diesem Moment selig vor Freude und Dankbarkeit um den Hals geflogen war.
„In der Anfangsphase wird es finanziell bestimmt eng für uns werden. Wir werden viel Stress haben und wenig Zeit für uns. Aber nach ein, zwei Monaten kann ich mir bestimmt wieder öfters Zeit nehmen für uns beide“, hatte sie ihm mit einem Augenzwinkern zugesichert. Sie wusste ja, wie ungehalten er reagierte, wenn er auf die zärtlichen Stunden mit ihr verzichten musste. Dafür hatte Sven aber auch seine guten Seiten. Zum Beispiel liebte er alles Abenteuerliche und bewunderte Menschen, die etwas riskierten. Dann war er sofort Feuer und Flamme, und das hatte Marleen damals schon, bei ihrem ersten Date, sehr an ihm gemocht.
Sie seufzte tief. All das war ja nun Schnee von gestern.
Gerade mal ein Jahr, nachdem sie zusammengezogen waren, hatte sich ihr gemeinsames Leben von Grund auf geändert, und leider nicht nur zum Besseren.
Das Gute zuerst: Sie war kurz nach dem Einzug schwanger geworden. Das Schlechte: Acht Monate später hatte sie keinen Job mehr. Acht Wochen vor der Entbindung war sie nervlich so fertig gewesen, dass sie ihrem Chef die Kündigung überreicht und die Reha-Klinik fluchtartig verlassen hatte. Am Arbeitsplatz gemobbt zu werden, ist grauenhaft. Für sie als Hochschwangere war es die Hölle!
Gedankenversunken schüttelte Marleen den Kopf und blätterte zur nächsten Albumseite. Wie naiv es doch von ihr war, zu glauben, ihr Chef und die Kolleginnen würden es nur gut mit ihr meinen! Oder war sie wegen ihrer Schwangerschaft schon so abgelenkt gewesen, dass sie die ersten negativen Anzeichen übersehen hatte? Möglicherweise lag es auch an ihrer Art, immer nur das Gute in den Menschen zu sehen.
Traurig blickte sie von einem Foto zum nächsten, während sie weiter an die üblen Vorgänge in der Reha-Klinik dachte. Mit dem zeitlichen Abstand, den sie jetzt hatte, wurde ihr immer klarer, dass sich die Abwärtsspirale schon viel früher in Gang gesetzt hatte, bei einem Ereignis, in dem sie überhaupt nichts Problematisches sah.
Sie schnaubte verächtlich. Die Sache mit Frau Süderbecks Portmonee war also nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Das wurde ihr jetzt erst richtig klar. Aber wie konnte es dazu kommen, dass sie vorher keinen Verdacht geschöpft hatte? Sie wusste doch, dass sie ihren beiden Kolleginnen nicht uneingeschränkt vertrauen konnte.
Die flippige Katrin, die gerade erst ihr Examen bestanden hatte, war mit ihren einundzwanzig Jahren ein ganzes Jahrzehnt jünger als sie und verhielt sich oft noch wie ein unreifer Teenager. Mit ihrer anderen, fast gleichaltrigen Kollegin hatte sie sich erst gut verstanden. Doch in den letzten Monaten war Nora immer mehr auf Distanz zu ihr gegangen. Der Hauptgrund lag Marleens Ansicht nach in Noras Liaison mit Sören, dem Chefphysiotherapeuten. Nachdem die Nachricht von der Beziehung der beiden in der Klinik die Runde gemacht hatte, war ihre Kollegin umgehend in die Rolle der First Lady der Abteilung aufgestiegen. Von da an ließ sie keine Gelegenheit aus, den anderen zu zeigen, wer ab jetzt das Sagen hat. Und noch etwas machte Marleen die Zusammenarbeit mit Nora schwer. Seitdem sie ihre Schwangerschaft bekannt gegeben hatte, ließ Nora sie immer wieder auf subtile Weise spüren, dass ihr dieser Ausnahmezustand ein Dorn im Auge ist. Mit jeder ihrer herzlosen Sticheleien war das Ziehen in Marleens Babybauch heftiger und anhaltender geworden. Von da an war sie nur noch ungern zur Arbeit gegangen, obwohl sie ihre Patienten liebte und sie sie immer gern behandelt hatte.
Als ihr Blick auf das schlafende Baby im Stubenwagen neben ihr fiel, huschte ein dankbares Lächeln über ihr Gesicht. Dankbar dafür, dass sie damals genügend Kraft entwickeln konnte, um die schrecklichen Ereignisse, wegen denen sie fristlos gekündigt hatte, an sich abprallen zu lassen. Klar, jetzt war sie ihren Job los, und sie würde statt ihres Gehalts nur noch Arbeitslosengeld bekommen, aber dafür war Paulchen unbeschadet zur Welt gekommen, und nur das zählte. Wenigstens für sie als Mutter.
Marleen seufzte tief, als sie an Svens Reaktion auf ihre Kündigung dachte. Statt sich um seinen ungeborenen Sohn zu sorgen und Verständnis für ihre Kurzschlusshandlung aufzubringen, hatte er sich maßlos aufgeregt. Ihr dröhnten jetzt noch seine herzlosen Worte im Ohr.
„Meine Güte! Wie konntest du nur so gedankenlos handeln und so kurz vor dem Beginn des Mutterschutzes kündigen! Na ja, dein Arbeitgeber wird nicht besonders traurig sein, eine schwangere Mitarbeiterin loszuwerden“, hatte er spöttisch gemeint und wie selbstverständlich angehängt: „Verdammt! Wenn dich deine Kollegen sowieso schon öfters gemobbt haben, dann hätte ich in den zwei Wochen doch aufgepasst, dass mir keiner was ans Zeug flicken kann. Und wie stellst du dir das jetzt vor? Mit dem bisschen Arbeitslosengeld kann man doch kaum was anfangen.“
„Bis vor Kurzem hatte ich doch gar keine Ahnung, was in den Köpfen meiner Kollegen vorgeht.“ Völlig irritiert hatte sie Sven angestarrt. Wie konnte er nur so gefühllos argumentieren? „Das hört sich ja fast so an, als sei es dir egal, dass ich Angst um unser Kind hatte. Als wäre für dich das Geld wichtiger als unsere Gesundheit.“
„Nein, natürlich nicht. Das weißt du doch.“
„Dann setz mich doch bitte nicht so unter Druck! Wenn du hochschwanger gewesen wärst und so ein ungutes Gefühl im Bauch gehabt hättest, wärst du auch nicht auf die Barrikaden gegangen. Außerdem hatte ich sowieso nicht vor, dort nach der Mutterschutzzeit weiterzuarbeiten. Diese ständigen Intrigen und Sticheleien hält doch keiner auf Dauer aus. Wie ich meine Kollegin Nora kenne, würde sie rund um die Uhr dafür sorgen, dass ich als Mutter bloß keine Vorteile eingeräumt bekäme.“
„Übertreibst du da nicht ein bisschen? Ärger mit den Kollegen ist doch normal. Den habe ich auch jeden Tag. Trotzdem hättest du dich doch ein bisschen zusammenreißen und zur Wehr setzen können. Das hätte ja nicht gleich zu einer Fehlgeburt geführt.“
„Aus deiner Sicht mag das ja alles richtig sein. Aber mein Gefühl sagte mir in dem Moment eben, dass es besser sei, mich nicht noch mehr aufzuregen. Ohne Zeugen kann ich sowieso nicht beweisen, dass man mich zu Unrecht beschuldigt und dass die Straftaten, die mir mein Chef anlastet, nur Missverständnisse sind. Und um juristisch gegen ihn vorzugehen, fehlt mir im Moment einfach die Kraft.“
„Aber so hast du deine Schuld gewissermaßen zugegeben“, hatte Sven dann nur noch schnippisch erwidert. Gleich darauf war er mit dem Hinweis zur Tür geeilt, er habe einem Freund versprochen, bei einer Autoreparatur zu helfen.
Marleen war an diesem Abend noch lange damit beschäftigt, das Gefühlschaos, das seine herzlosen Vorwürfe hinterlassen hatten, einigermaßen in den Griff zu bekommen. Hätte sie das Risiko wirklich in Kauf nehmen und kämpfen sollen? Nein! Schluss mit dem Hin und Her! Und außerdem. Was konnte ihnen denn schon passieren? Finanziell würde es ihrer zukünftigen kleinen Familie doch nicht schlecht gehen. Wenn sie sich überall ein bisschen einschränkten, war die Zeit bis zur ersten Zahlung des Mutterschaftsgeldes doch spielend zu schaffen. Immerhin verdiente Sven, seitdem er an dem Neubauprojekt in der Nachbarstadt zu tun hatte, wesentlich mehr als vorher.
Das Streitgespräch mit Sven lagen nun schon etliche Wochen zurück. Nur das ursächliche Ereignis, das sie veranlasst hatte, auf der Stelle zu kündigen, ließ Marleen immer noch keine Ruhe. Während sie das selig schlummernde Bündel neben sich schaukelte, kaute sie auf der Unterlippe. Wie oft hatte sie sich in den vergangenen Monaten die verantwortlichen Szenen ins Gedächtnis zurückgeholt, um Fehler an ihrem Verhalten aufzudecken. Es war zum Heulen! So sehr sie auch grübelte, es ließ sich einfach nichts finden, woran sie das nahende Unglück hätte erkennen können. Kein Anzeichen, woran sie die schwelende Gefahr hätte erkennen müssen. Kein Hinweis auf das offene Messer, in das sie blindlings rannte. Und das Schlimmste war, dass es niemanden in der Klinik gab, der bezeugen konnte, dass sie vollkommen korrekt gehandelt hatte.
Wieder ließ Marleen die Szene, in der sie gerade das Zimmer der alten Dame betreten hatte, vor ihrem inneren Auge Revue passieren:
Der Raum mit den beiden Betten an der rechten Seite wirkte hell und durch das duftige Lindgrün der Bettwäsche kaum wie ein Krankenzimmer. Doch die Raumluft machte den freundlichen Eindruck schnell zunichte. Sie war nicht nur unangenehm aufgeheizt, sondern es roch auch jetzt, am späten Nachmittag, noch intensiv nach Kohlgemüse. Der Hauch von Kaffee, den die Tasse auf dem Nachtschränkchen verströmte, half leider auch nicht gegen die Übelkeit, die augenblicklich in Marleens Speiseröhre aufstieg.
Eigentlich war sie, was Gerüche anging, hart im Nehmen, aber seit dem Beginn ihrer Schwangerschaft hatte sich ihr Geruchsempfinden von Monat zu Monat zum Nachteil verändert. Jetzt, zwei Wochen vor dem Beginn ihrer Mutterschutzzeit, konnte sie selbst die unauffälligsten Parfums und angenehmsten Naturdüfte kaum noch ertragen.
Bevor sie auf die Patientin im hinteren Bett zuging, atmete sie tief durch.
„Hallo, Frau Süderbeck. Hier muss aber unbedingt mal gelüftet werden. Für die Atemgymnastik braucht man doch frische Luft.“ Mit einem raschen Griff öffnete sie das Fenster, soweit es die Sicherheitsverriegelung zuließ. „Seit wann sind Sie denn allein im Zimmer?“
„Schön guten Tag, Frau …“ Die alte Dame sah sich hilfesuchend um.
„Meister“, half Marleen rasch nach.
„Ja, richtig.“ Dankbar drückte Frau Süderbeck Marleens Hand und sah sie schuldbewusst an. „Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, wer das war, der da im Nachbarbett lag und wann derjenige entlassen wurde.“ Sie presste ihre alterskrausen Lippen zusammen und lächelte verschämt. „In meinem Oberstübchen wird es in letzter Zeit immer unordentlicher.“
„Ist doch nicht schlimm.“ Marleen streichelte zum Trost die knochige Hand ihrer Patientin, die sich nun aufgeregt umsah.
„Ich habe nur das dumme Gefühl, meine Zimmernachbarin hat bei ihrer Entlassung auch ein paar von meinen Sachen eingepackt.“ Sie zwinkerte Marleen aus ihren munteren Augen zu. „Bestimmt aus Versehen oder weil sie nicht mehr so gut gucken konnte.“
Marleen stutzte. „Vermissen Sie denn etwas?“
Frau Süderbeck nickte energisch. „Ja, ja. Mein Portmonee. Ich weiß genau, dass ich es hier im Nachtschränkchen hatte.“ Sie mühte sich ab, die schwergängige Schublade herauszuziehen.
Marleen griff rasch zu und half soweit mit, bis sie eine Handbreit offen stand. Außer einem Paket Papiertaschentücher, einem Heftroman mit einem gut aussehenden Adeligen obenauf und einer Rolle Gebissreinigungstabletten befand sich darin nichts.
Die alte Frau stöhnte bei dem Anblick gequält. „Was mache ich denn jetzt nur? Wissen Sie, ohne mein Portmonee fühle ich mich so unwohl wie ein unmündiges Kind. Wie soll ich mich denn nun bei den netten Schwestern und Pflegern erkenntlich zeigen? Sie sind doch alle so bemüht um mich.“
Marleen nickte betroffen. „Und Sie sind sicher, dass es nicht vielleicht im Schrank liegt oder in einer Tasche Ihres Bademantels steckt?“
„Nein, nein“, erwiderte Frau Süderbeck völlig überzeugt. „Das wüsste ich doch.“ Die alte Frau zog sich ächzend an der Schlaufe über ihrem Kopf zum Sitzen empor und hievte ihre dürren Beine über die Bettkante, bis sie abwärts baumelten. Nachdenklich blickte sie durch das Fenster in den Park hinaus. „Oder habe ich es vielleicht doch in meiner Handtasche?“
Marleen linste auf die Uhr. Wenn sie mit den Atemübungen durchkommen wollte, musste sie allmählich beginnen. Sie reckte und drehte sich, um nach der Handtasche Ausschau zu halten. Als sie sich ziemlich hoffnungslos bückte, um unter dem Bett nachzusehen, entdeckte sie die zerknautschte braune Ledertasche unter dem Kopfende. Mit Rücksicht auf ihren schon ordentlich gewölbten Babybauch ließ sie sich auf die Knie nieder und holte die Tasche hoch.
„Wenn es Ihnen recht ist, Frau Süderbeck, dann schaue ich mal rasch nach, ob das Portmonee darin ist. Wissen Sie, die Zeit ist schon knapp. Wir müssen doch auch noch unsere Atemübungen machen.“
„Oh, ja, natürlich. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar, Frau ...“
„Meister“, ergänzte Marleen lächelnd.
„Ach, ja. Entschuldigen Sie vielmals.“ Unter lautem Ächzen versuchte die alte Frau, ihren starren Oberkörper um die eigene Achse zu drehen. Sie wollte doch zu gern wissen, ob Marleen, die gerade die Tasche öffnete und vorsichtig darin wühlte, fündig wurde.
„Ist es da?“, rief sie vor Anstrengung so laut, dass ihre Helferin nicht mitbekam, wie es an der Tür klopfte. Schon im nächsten Augenblick starrte Marleen, mit der Hand immer noch in Frau Süderbecks Tasche wühlend, in Noras Gesicht.
„Hey, Marleen. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass dein nächster Patient noch mal zum Röntgen muss. Sören meint, du sollst den Termin einfach hinten dranhängen.“
Marleen zog ihre Hand vor Schreck so hektisch zurück, dass die Tasche erneut zu Boden fiel.
„Okay, kann ich machen.“ Als ihr nach dem Aufheben der misstrauische Ausdruck im Gesicht ihrer Kollegin auffiel, wollte sie rasch den vermeintlichen Tatbestand richtigstellen. Doch es war bereits zu spät. Nora, deren Kinnlade in Sekundenschnelle abgesackt war, verschwand ohne weiteren Kommentar hinaus auf den Gang.
„Verdammt!“, entfuhr es Marleen voller Inbrunst.
„Sagen Sie nur, das Portmonee ist doch nicht da“, schloss Frau Süderbeck aus dem impulsiven Kommentar. „Ich hätte schwören können, …“
Marleen ging rasch mit der Tasche um das Bett herum und reichte sie der Patientin. „Schauen Sie am besten selbst“, sagte sie mit spröder Stimme. Warum war Nora bloß so schnell verschwunden? Wenn das mal kein Nachspiel hatte!
Die alte Frau schüttelte ratlos den Kopf. „Tja, so was! Dann ist es wohl doch so, dass es meine Bettnachbarin versehentlich eingesteckt hat.“
Marleen stöhnte leise, als sie erneut auf die Uhr sah. Gerade acht Minuten blieben ihr nun noch für ihre eigentliche Aufgabe. Doch an Atemübungen war bei der alten Frau nicht mehr zu denken. Die Unauffindbarkeit des Portmonees regte sie so sehr auf, dass sie sich von ihrer Therapeutin kaum noch beruhigen ließ.
„Ich muss jetzt leider weiter, Frau Süderbeck. Wegen der Übungen schaue ich gleich noch mal rein. Bestimmt haben Sie Ihr Portmonee bis dahin wieder.“ An der Tür sah sie sich noch einmal um. „Am besten, Sie sagen den Pflegern Bescheid. Die haben bestimmt eine Idee, wo es sein könnte.“
„Mein Portmonee?“ Frau Süderbeck blickte sich ratlos um. „Das war doch vorhin noch in meinem Nachtschränkchen.“
Seufzend schloss Marleen die Tür. Altersdemenz war wirklich kein schöner Zustand, für alle Beteiligten.
Kaum hatte sie die schwere Eingangstür zur Therapieabteilung im Keller aufgedrückt, kam ihr Nora aus einer der Massagekabinen entgegen.
„Du sollst mal zum Chef kommen“, teilte sie Marleen mit einem verschlagenen Blitzen in den stark geschminkten Augen mit.
Marleen nickte ergeben. Ihr war klar, dass die Szene mit der Hand in Frau Süderbecks Tasche den direkten Weg in sein Büro gefunden hatte. In diesem Moment ärgerte sie sich jedoch mehr über Noras Wortwahl als über ihren unkollegialen Mitteilungsdrang. Konnte sie nicht einfach Sören sagen, anstatt ihn immer Chef zu nennen? Der Umgang mit ihrem Vorgesetzten war doch von Beginn an freundschaftlich. Dieses formelle Getue passte gar nicht hierher.
Obwohl sie ihre Patienten ungern warten ließ, eilte sie, soweit es ihr Babybauch noch zuließ, zu Sörens Büro und trat nach einem deutlichen Klopfen ein.
„Ach, ja. Gut, dass du gleich gekommen bist, Marleen. Es gibt da etwas, das ich dringend mit dir besprechen muss.“ Der athletisch gebaute Mittvierziger im blauen Klinik-Sportdress saß vor seinem heillos überfüllten Schreibtisch und tippte mit dem Zeigefinger auf die gespitzten Lippen, ohne sie dabei anzusehen.
Marleen lachte entschuldigend. „Bestimmt geht’s um die Handtasche meiner Patientin auf der Inneren.“
Sören blickte sie mit leicht geschlitzten Augen an und brummte unverständlich. „Das auch.“
Während er eine längere Denkpause einlegte, wechselte sie mit dem Gewicht von einem aufs andere Bein. Konnte er ihr nicht wenigstens einen Platz anbieten?
„Ehrlich gesagt geht es um … dein Verhalten insgesamt, Marleen.“ Er sah sie wieder nicht an.
„Und was heißt das jetzt?“ Marleen schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich will es mal so sagen: In letzter Zeit haben sich bei dir Verhaltensweisen gehäuft, die mich zwingen, Konsequenzen zu ziehen, im Interesse der Mitarbeiter und der Patienten.“
Sein eisiger Blick durchbohrte Marleens Augenpartie wie ein messerscharfes Wurfgeschoss. Mit offenem Mund schüttelte sie erneut den Kopf.
„Was für Verhaltensweisen? Ich weiß ehrlich nicht, was du meinst, Sören. Ich bin stets pünktlich, ich behandele meine Patienten freundlich und verantwortungsvoll, und meinen Arbeitsplatz hinterlasse ich eigentlich auch immer aufgeräumt. Okay, meistens jedenfalls.“
Sören drehte sich nun zu ihr, streckte seinen Rumpf zu seiner vollen, stattlichen Größe und atmete mit sorgenvoller Miene durch.
„Es geht darum, dass wir dich jetzt zum wiederholten Mal beim versuchten Diebstahl erwischt haben.“
Diese Aussage traf sie mit solcher Wucht, dass sie sich auch ohne seine Aufforderung auf den nächsten Stuhl sinken ließ.
„Wie bitte? Das kann doch nicht wahr sein! Ich vergreife mich doch nicht an fremdem Eigentum!“ Sie hob hilfesuchend die Arme. „Wenn du auf die Sache mit der Handtasche anspielst, das kann ich dir ganz einfach erklären. Die Patientin hat nämlich ihr Portmonee vermisst und mich gebeten, darin nachzusehen.“
Sören erhob sich und kehrte ihr kurz den Rücken zu. Nach dem abrupten Umdrehen wirkte sein Gesicht merkwürdig angespannt.
„Und die Sache mit der Geldkassette vor einem Monat? Mag ja sein, dass du das schon abgehakt hast, aber ich kann eins und eins zusammenzählen.“ Er warf ihr einen kurzen unsicheren Blick zu.
„Aber, Sören!“ Marleens Bauch zog sich mittlerweile so stark zusammen, dass sie sogar mit dem Luftholen Schwierigkeiten hatte. Beim Ausatmen spürte sie kalten Schweiß auf ihrer Unterlippe. Jetzt bloß keine vorzeitigen Wehen! „Du weißt doch ganz genau, warum ich die Geldkassette in meinen Spint eingeschlossen habe. Das habe ich dir doch gleich am nächsten Morgen erklärt. Nora war an dem Tag eher nach Hause gegangen und hatte vergessen, die Rezepte und Bareinnahmen wegzuschließen. Ich wollte doch nur sicherstellen, dass die Kassette nicht in falsche Hände gerät. Außer mir war an dem Nachmittag ja keiner mehr da. Du warst zur Fortbildung und Katrin hatte Urlaub.“
Sören lehnte sich gebieterisch zurück. „Ja, ja. Das ist deine Version. Aber nach dem, was heute vorgefallen ist, glaube ich nicht mehr, dass du die Kassette aus reinem Verantwortungsbewusstsein in deinen Spint eingeschlossen hast.“ Er neigte seinen muskelbepackten Oberkörper zu ihr vor und stützte sich auf den Knien ab. „Ich glaube eher, dass du nur auf Gelegenheiten wartest, hier in der Klinik möglichst unbehelligt an Geld zu kommen. Der heutige Vorfall war ja wohl mehr als eindeutig.“
Was sollte das denn jetzt? Marleens Kehle wurde immer enger. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du glaubst wirklich, ich will mich hier bereichern? An einer alten Patientin?“, krächzte sie schon fast heiser. „Das stimmt doch alles nicht.“
In Sörens Augen blitzte etwas Durchtriebenes auf. „Du behauptest also, dass wir uns das alles nur zusammendichten und mich Nora vorhin angelogen hat?“ Er zog seine Mundwinkel abwärts und schüttelte erbost den Kopf. „Nee, nee, Marleen. So geht das ja gar nicht! Auch noch eine Kollegin der Lüge bezichtigen. Der Tatbestand des versuchten Diebstahls ist ja wohl eindeutig. Wenn du Nora jetzt auch noch als Lügnerin darstellst, solltest du ganz vorsichtig sein. Das kann nämlich ganz schnell auf eine Verleumdungsklage hinauslaufen.“
Aha, daher wehte also der Wind! Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Damals schon, als sie Sören, der gerade von der Fortbildung zurückgekommen war, die sichergestellte Kassette ausgehändigt hatte, war Nora wie ein Derwisch auf sie losgegangen. Anstatt sich bei ihr zu bedanken, hatte sie sogar noch gefaucht: „Du kommst dir wohl jetzt wie die große Heldin vor, aber für das Sicherstellen der Bareinnahmen bist du überhaupt nicht zuständig. Außerdem kommen Außenstehende gar nicht an die Kassette heran, da hinter dem Anmeldetresen.“
Den Einwand, dass jeder den Geldkasten mit einem einfachen Griff über die Ablage an sich nehmen konnte, schenkte sich Marleen. Ihr ging es sowieso schon seit dem frühen Morgen nicht besonders gut. Zum Glück befreite Sören sie kurz darauf wegen ihrer krampfartigen Bauchschmerzen von den weiteren Behandlungen. Als sie sich dann erleichtert in den Umkleideraum begab, wurde sie unbeabsichtigt Zeugin eines Gesprächs zwischen Sören und Nora, das ihr die Augen öffnete.
„War das denn nötig, Schatz, dass du unsere werdende Mami gleich nach Hause schickst, nur weil der Bauch mal wieder ein bisschen zwickt? Jetzt muss ich wieder ihre restlichen Patienten übernehmen.“ Obwohl Nora auf Sörens Entscheidungen im Arbeitsumfeld selten etwas kommen ließ, machte sie nun ihrem Unmut immer mehr Luft. „Aber daran werden sich Katrin und ich ja sowieso gewöhnen müssen, wenn ich an Marleens ständige Schwangerschafts-Wehwehchen denke. Sollst mal sehen, von den zwei Wochen, die sie noch zu arbeiten hat, lässt sie sich bestimmt die Hälfte krankschreiben. In meinen Augen übertreibt die ganz schön.“
„Woher willst du das denn wissen? Du hast doch noch nie ein Kind bekommen“, hielt Sören nicht gerade einfühlsam dagegen.
Nora konterte pikiert: „An mir liegt das ja wohl nicht, dass ich nicht schwanger bin. Und wenn, dann würde ich mich jedenfalls besser im Griff haben als Marleen und nicht ständig so tun, als würde sich die Welt nur noch um den Babybauch drehen.“
Das stimmt doch gar nicht, schimpfte Marleen voller Wut in sich hinein. Dann hörte sie noch, wie Sören bissig erwiderte: „Ach, ja? Dann bin ich also mal wieder schuld. Aber vielleicht erinnerst du dich mal an unser letztes Gespräch über dieses Thema. Da meintest du nämlich, du willst die Pille erst absetzen, wenn wir zusammengezogen sind. Und was ist jetzt? Wir wohnen seit drei Monaten zusammen.“
„Ich habe sie doch längst abgesetzt.“
Marleen vernahm plötzlich, wie Nora herzergreifend losschluchzte.
„Aber wenn du mich so unter Druck setzt, kann es ja auch nicht klappen.“
Als das Schluchzen noch stärker wurde, verließ Marleen die stickige Umkleidekabine und schlich durch die Eingangstür ins Treppenhaus. Als sie durch die Pforte nach draußen trat, merkte sie erst, wie sehr ihr Körper vor Anspannung zitterte. Sie setzte sich rasch auf die Wartebank neben dem Eingang und atmete so lange bewusst durch, bis das Spannungsgefühl langsam verschwand. So dachte Nora also über sie und ihre Schwangerschaft! Sie war nicht nur sauer über die Mehrarbeit, die durch die Schwangerschaftsvertretung auf sie zukam, sie war richtiggehend neidisch auf das Baby in ihrem Bauch. Eigentlich hätte sie ihr leidtun müssen. Doch das einzige Gefühl, das Marleen gerade spürte, war Angst. Angst vor Noras Unberechenbarkeit, Angst vor Sörens Entscheidung und Angst, dass der zu erwartende Stress der letzten beiden Wochen ihrem Kind schadete. Von da an hämmerte nur noch ein Wunsch durch ihren Kopf: Sie wollte so schnell wie möglich raus aus dieser Irrenanstalt. Und zwar für immer!
Bereits am nächsten Tag händigte Marleen ihrem Chef die fristlose Kündigung aus.
„Muss man du mich dann nicht erst abmahnen?“, hatte sie ihn tief getroffen gefragt.
Sören hatte nur höhnisch gelacht und mit eiskalter Stimme erwidert: „Du glaubst doch wohl nicht, dass sich auch nur ein Arbeitsrichter für dich stark macht, bei der Liste an Vergehen.“
Keine drei Minuten später holte sie ihre Sachen aus dem Spint und verabschiedete sich mit ausdrucksloser Miene von Sören und Katrin. Da ihre junge Kollegin nicht wusste, was sich zugetragen hatte, überschüttete sie Marleen mit Umarmungen, Streicheleinheiten für den Bauch und Glückwünschen. Nora hatte es vorgezogen, den Vormittag über bettlägerige Patienten auf der Station zu behandeln.    
Wie schnell die Zeit seitdem vergangen war, stellte Marleen seufzend fest und fuhr sanft mit dem Finger über die Wange ihres kleinen Sohnes, der mittlerweile erwacht war und in ihrem Arm lag. Sie mochte es so sehr, wenn Paulchen mit seinen winzigen Händchen versuchte, nach ihren Lippen zu greifen oder voller Eifer auf ihre Wangen patschte. Die dunklen Ränder unter ihren Augen verschwanden davon zwar nicht, aber ihr Lächeln spiegelte die Glückseligkeit wider, die man nur auf den Gesichtern junger Mütter findet. Und mittlerweile war sie auch fest davon überzeugt, dass sie mit ihrer Kündigung genau richtig gehandelt hatte.
Sie nahm ihren Kopf ein wenig zurück. „Hey, nicht so wild, kleiner Catcher!“, wies sie das agile Bündel in ihrer Armbeuge mit zärtlichem Flüstern zurecht. Während Paulchen begeistert krächzte, sog sie das süße Duftgemisch aus Milch, Babycreme und überbordendem Lebenswillen ein, das sein kleiner Körper wie ein Geschenk an sie verströmte. Behutsam bettete sie ihn in den Stubenwagen und begann ihn sanft zu schaukeln.
In Momenten wie diesem konnte Marleen ein paar Minuten lang die zermürbende Anspannung der letzten Wochen ausblenden und frische Energie tanken. Die hatte sie auch dringend nötig, denn ihre aktuelle familiäre Situation war alles andere als rosig. Genau genommen hatte sie sich das Leben und ihre Beziehung zu Sven nach Pauls Geburt völlig anders vorgestellt. Sonniger, harmonischer, ein erhebliches Stück unkomplizierter.
Doch genau das Gegenteil war eingetreten. Ihr schlanker, durchtrainierter Körper, den sie bisher ohne Einschränkung belasten konnte, zeigte plötzlich eine vollkommen ungewohnte Seite. Dauernd fröstelte sie, obwohl es für Anfang Juni schon sommerlich warm war, und etwas anderes als sich zerschlagen und lustlos zu fühlen, kannte sie seit Wochen nicht mehr. Natürlich, schuld war die Hormonumstellung. Nur, wann würde das endlich besser werden? Zurzeit konnte sich Marleen jedenfalls nicht vorstellen, dass sich ihr Zustand jemals normalisierte. Wie sehr wünschte sie sich, dass es wieder so werden würde wie vorher, als sie früh um acht mit frischer Energie im Reha-Zentrum eintraf und die ersten Gymnastikübungen mit ihren Patienten machte. An den Tagen, an denen Sven länger arbeiten musste, war sie nach Dienstschluss sogar noch zum Fitnesstraining gegangen.
Schon komisch! In diesem Augenblick kam es ihr so vor, als läge ihre Zeit in der Reha-Klinik schon lange zurück. Seltsamerweise rührte es sie kaum, dass ihre Tätigkeit dort für immer vorbei war. Gekündigt hätte sie früher oder später sowieso. Gegen zweideutige Anspielungen und Sticheleien hatte sie sich schon in der Schule nicht gut wehren können. Und jetzt, mit ihrem vom Schlafmangel geschwächten Nervenkostüm, wäre sie erst recht nicht mehr gegen das Mobbing ihrer Kollegen angekommen. Wenn Sven ihr wenigstens in der Beziehung den Rücken stärken würde! Doch stattdessen hielt er ihr mit saurer Miene vor, unter den gegebenen Umständen sei es ihr ja wohl unmöglich, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
„Das kannst du ruhig meine Sorge sein lassen. Sobald wir einen Kitaplatz haben, mache ich mich auf die Suche.“
Doch dann sollte alles anders kommen.