Kapitel 2
In den vier Monaten seit seiner Geburt hatte Paulchen zwar zugenommen, aber sein Gewicht lag immer noch an der unteren Grenze der Normskala. Und nicht nur das bereitete Marleen Kopfzerbrechen. Auch seine Neigung, bei der kleinsten Störung loszuschreien, veranlasste sie, Paul schon vor dem nächsten Vorsorgetermin dem Kinderarzt vorzustellen.
Zum Glück war das Wartezimmer an diesem Vormittag nur zur Hälfte besetzt. Trotzdem dauerte es fast eine Stunde, bis sie aufgefordert wurde, das Baby im Wickelraum bis auf die Windel auszuziehen und in den gegenüberliegenden Untersuchungsraum zu kommen. 
Der Kinderarzt begrüßte Marleen und schäkerte ein wenig mit Paul, der ihn von Marleens Arm aus skeptisch beäugte. Während er den Babyrücken abhorchte und seine Temperatur maß, erläuterte Marleen ihm den Grund ihres Besuches.
„Ich weiß bald nicht mehr, was ich machen soll“, erklärte sie mit zerknirschter Miene. „In den letzten zwei Wochen wirkt Paul irgendwie anders als früher. So unruhig und empfindlich. Beim Stillen wirft er den Kopf hin und her. Er jammert viel, und beim kleinsten Geräusch brüllt er so, als ob ihn jemand quälen würde.“
„Hm!“, brummte der junge Mann im hellgrünen Polohemd, legte Paul auf die Liege und untersuchte ihn mit gekonnten Griffen.
„Also, nach meinem Ermessen ist Ihr Sohn kerngesund. Seine Schleimhäute sind reizlos, die Reflexe unauffällig. Sein Bauch ist weich, und Fieber hat er auch keins.“
Da Paul bereits das Gesicht verzog und immer ärgerlichere Töne von sich gab, nahm der Arzt ihn auf und reichte ihn Marleen, die ihn in das mitgebrachte Badehandtuch hüllte.
„Klar, er ist ein bisschen leicht für sein Alter, aber er hat sich gut entwickelt. Also, kein Grund zur Besorgnis.“ Er betrachtete Marleen, die erleichtert aufatmete und Paul sanft streichelte, mit nachdenklicher Miene. „Das habe ich doch richtig verstanden: Sie stillen ihn noch voll, nicht wahr?“
„Ja, genau. Ich würde es auch gern noch drei Monate durchhalten. Am liebsten noch länger.“ Dann fuhr sie zögernd fort: „Aber wenn er jetzt schon zu wenig wiegt und immer so unruhig ist, sollte ich dann nicht doch schon zufüttern oder ganz auf Ersatzmilch umsteigen?“ Sie warf dem Arzt einen hilflosen Blick zu.
„Nein, nein. Davon würde ich Ihnen abraten. Etwas Gesünderes als Muttermilch können Sie einem viermonatigen Kind nicht geben, Frau Meister. Mehr braucht es jetzt noch gar nicht. Außerdem wiegt Ihr Sohn nicht zu wenig. Er ist halt nur nicht, sagen wir mal, kompakt. Ein anderer Körpertyp halt.“ Während er überlegte, tippte er mit dem Zeigefinger auf sein Kinn.
„Sie sorgen doch dafür, dass er an die frische Luft kommt und ausreichend schläft?“
„Ja, natürlich.“
„Achten Sie auch darauf, dass er ein ruhiges Umfeld hat? Keine Musik, oder höchstens ganz leise, keinen Straßenlärm und nicht ständig Besuch?“
Auch das bestätigte ihm Marleen.
„Tja, manchmal ist das Kleinkind auch dann unruhig und schreit viel, wenn es in der Familie nicht immer so friedlich zugeht.“ Er blickte Marleen freundlich, aber eindringlich an. „Ein Baby spürt ziemlich genau, wenn seine direkten Bezugspersonen Probleme haben. Lautstarke Auseinandersetzungen, unkontrollierte Gefühlsäußerungen, all das vertragen die Kleinen gar nicht gut. Auffällig reagiert ein Kind besonders dann, wenn die Mutter, also die wichtigste Person in seinem Leben, in Schwierigkeiten steckt oder Angst hat.“
Marleen sah betreten zu Boden und biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. Nicht sie, sondern Sven hätte mit Paul hier sitzen müssen, ereiferte sie sich in Gedanken. Dem Arzt würde er vielleicht eher abnehmen, dass nicht sie an allem schuld war, sondern dass auch sein Verhalten der Auslöser für Pauls Überempfindlichkeit sein konnte.
„Wenn ich an diesen Affenzirkus im Wartezimmer denke, krieg ich die Krise. Verlangst du wirklich von mir, dass ich für fünf Minuten Arztgequatsche zwei Arbeitsstunden opfere, wo du jetzt Zeit ohne Ende hast?“, hatte er augenrollend gemeckert, als sie ihn vor längerer Zeit bat, sich wenigstens für einen der Vorsorgetermine frei zu nehmen.
Marleens Magen verkrampfte sich jetzt noch vor Zorn über Svens damalige Äußerung.
„Streit gibt es doch überall mal“, meinte sie mit belegter Stimme.
Der Arzt nickte mitfühlend.
„Ich versteh schon, was Sie meinen. Immer für das Kind parat sein, das nächtliche Stillen, und dann noch die Bedürfnisse der übrigen Familienmitglieder befriedigen, all das zehrt ganz schön an den Nerven.“
„Aber ich bin gern für meinen Sohn da und liebe ihn über alles.“ Ohne dass sie etwas dagegen machen konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Frau Meister.“ Er lächelte gütig. „Aber Sie müssen trotz allem auch für Ihre eigene Gesundheit sorgen, sowohl für die körperliche als auch für die seelische. Das ist immens wichtig. Ein Baby ist dann richtig glücklich, wenn es seiner Mutter gut geht. Das heißt, Sie sollten sich auch um Ihr eigenes Wohl kümmern.“
Weil nun die Tränen haltlos an ihren Wangen hinabliefen, reichte er ihr ein Papiertuch. Mit einem aufmunternden Zwinkern in ihre Richtung widmete er sich noch einmal dem Kind auf ihrem Arm.
„Ich sehe schon, deiner Mutter geht es zurzeit genauso bescheiden wie tausend anderen stillenden Müttern, kleiner Paul. Aber das wird schon wieder. Und dich sehe ich in zwei Wochen zur Vorsorgeuntersuchung wieder, okay?“
Paul krähte kurz und kräftig, als ob er ihm damit sein Einverständnis geben wollte.
Mit einem entschuldigenden Lächeln tupfte Marleen ihr Gesicht trocken und verabschiedete sich.
„Und danke, dass Sie mich dazwischengeschoben haben. Ich bin ja so froh, dass mit Paul alles in Ordnung ist.“
Zu Hause angekommen ließ sie sich sofort auf das Sofa sinken und legte Paul mit einem Stoßseufzer an die Brust. Wie immer, wenn sie gerade mitten im dichten Stadtverkehr festhing, hatte er vor Hunger herzzerreißend gebrüllt.
Während er gierig trank, dachte sie noch einmal über das Gespräch mit dem Kinderarzt nach und strich ihrem Sohn dabei zärtlich über den Kopf.
„Wenigstens die Sorge um dich bin ich los, mein Schatz“, murmelte sie gedankenverloren. „Jetzt muss ich nur noch zusehen, dass ich wieder fitter werde.“
Dass sie in den letzten Wochen ständig mit Kreislaufproblemen zu kämpfen hatte und immer mehr abnahm, hatte sie anfangs als vorübergehendes Phänomen abgetan. Doch nun bereitete ihr ihre physische Verfassung immer mehr Sorgen. Sie war doch erst einunddreißig und alles andere als unsportlich. Warum brauchte sie nur so lange, um zu ihrer normalen körperlichen Belastbarkeit zurückzufinden?
Vor zwei Jahren, als sie gerade mit ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin fertig geworden war, hatte sie mit ihrer Freundin die Zehn-Kilometer-Strecke im Wald mit links abgespult und dabei locker mit ihr geplaudert. Muskelkater und Seitenstiche waren Fremdwörter für Klara und sie gewesen. Aus dieser Zeit resultierte sicherlich auch ihr Optimismus, dass sie nach der Entbindung im Handumdrehen fit genug sein würde, um auf Jobsuche zu gehen. Außerdem würde sie ihr Baby problemlos zum Vorstellungsgespräch mitbringen können. So jedenfalls stand es in den betreffenden Sozial-Media-Foren.
„Was diese Mamis können, schaffen wir auch“, hatte sie Paulchen damals noch voller Zuversicht ins Ohr geflüstert.
Marleens Blick wanderte über den schlichten Stubenwagen hinweg in die Ferne. Wie lange würde es noch dauern, bis sie wieder normal funktionierte, bis sie wieder über die unerschöpfliche Energie verfügte, um die sie in ihrer Sportclique alle beneideten?
„Wenn ich wenigstens schon mal eine Andeutung davon spüren würde!“, seufzte sie in Gedanken. Noch ernüchternder war es für sie, dass sie sich kaum noch über etwas freuen konnte, außer über den kleinen, süßen Kerl in seinem Bettchen natürlich. Und Lust auf Sex hatte sie zuletzt vor einem halben Jahr verspürt. Seitdem sträubte sich fast alles in ihr, sobald sich Sven an sie schmiegte. Sie verzweifelte mittlerweile fast an diesem Zustand. Sie liebte Sven doch. Aber noch schlimmer schien es ihm damit zu gehen, denn er war schon so frustriert, dass er es neuerdings gar nicht mehr versuchte, sich ihr zu nähern. Dabei konnte sie gerade jetzt ein paar Streicheleinheiten gut gebrauchen.
Unwillkürlich musste Marleen an Svens linkischen Versuche denken, sie und das Baby in den ersten Wochen nach der Entbindung zu versorgen. Klar, er hatte gerade mit seiner Beschäftigung an dem neuen Bauprojekt begonnen und musste daher häufig Überstunden machen. Aber war es zu viel verlangt, dass ein Mann, der gerade Vater geworden ist, ein bisschen mitdachte? Einer stillenden Wöchnerin bringt man einfach keine Pizza Inferno mit doppelt Knoblauch mit, auch wenn das vorher ihre Lieblingssorte war. Und Dönertaschen extra scharf sind in diesem Fall auch völlig daneben!
In den ersten Tagen, als sie es vor Schmerzen und Erschöpfung gerade mal bis ins Bad und zum Schlafzimmer geschafft hatte, wäre es völlig in Ordnung gewesen, wenn er ihr Nudeln mit Fleischsoße oder einen einfachen Milchreis mit Obst zubereitet hätte! Aber selbst an das Besorgen von frischer Milch musste sie ihn ständig erinnern. Okay, dafür hatte sie sogar Verständnis. Sven litt an einer ausgeprägten Laktose-Unverträglichkeit. Angeblich reichte bei diesen Menschen schon der Gedanke an Milchprodukte, um Magenschmerzen zu bekommen. Zum Glück lag diese anstrengende Phase nun hinter ihnen. Aber besser ging es ihr seither trotzdem nicht.
Als sie an diesem Morgen wieder einmal versuchte, Paul an ein Fläschchen mit abgepumpter Milch zu gewöhnen und er sich mit aller Kraft und Getöse dagegen wehrte, sprang Sven ungeduldig vom Tisch auf.
„Mensch, Marleen! Ich verstehe es einfach nicht, warum du nicht, wie alle anderen Frauen in dieser Situation, deine Mutter um Hilfe bittest. Immerhin hat die schon mal ein Baby großgezogen und kennt vielleicht Tricks, wie man Kinder an die Flasche gewöhnt.“ Er wanderte in der Küche auf und ab. „Aber nein! Du musstest es dir ja unbedingt vor der Schwangerschaft mit ihr verscherzen! Gerade jetzt, wo Paul so ein Theater macht, könntest du von ihrer Erfahrung und Hilfe profitieren.“
„Paul kann nichts dafür. Und außerdem. Verscherzt hat es sich meine Mutter ja wohl mit mir, und das schon viel früher.“ Marleen sah flehend zu ihm hinauf. „Komm, Sven! Wir schaffen das doch auch ohne sie, wenn wir uns beide Mühe geben.“ Und etwas leiser setzte sie hinzu: „Du weißt doch, wie Mutter ist. In ihren Augen werde ich immer das unmündige Kind bleiben, das nichts richtig macht.“
„Aber Menschen können sich auch ändern, Schatz“, argumentierte er händeringend. „Gib ihr doch noch eine Chance. Du siehst doch, dass es so nicht weitergehen kann.“
Marleen wusste bestens, was er damit meinte. Mit Grauen erinnerte sie sich an die ersten Wochen, als Paulchen fast jede Nacht durchgeschrien hatte, weil er mit der Welt im Allgemeinen und dem Schlafen und Saugen im Speziellen nicht zurechtkam. Irgendwann hatte sie den kleinen Kerl dann in Tränen aufgelöst zu Sven gebracht, der nach drei Schreinächten mit seinem Bettzeug ins Wohnzimmer gezogen war.
„Und was soll ich jetzt mit ihm?“, hatte er schlaftrunken gefragt. „Ich kann ihn doch nicht stillen.“
„Dann trag ihn halt nur rum! Er wird schon nicht verhungern.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr der Schlafmangel schon so zugesetzt, dass ihr alles egal war.
Noch einmal versuchte sie, Paul den Plastiksauger in den Mund zu schieben. Als er den Kopf abermals wegdrehte, war sie es leid.
„Er will einfach nicht“, erklärte sie mit gequälter Stimme und stellte die Flasche auf den Tisch zurück. Nach einem resignierten Schulterzucken in Svens Richtung zog sie ihr T-Shirt hoch und legte Paul an die Brust. „Es geht nicht anders. Irgendwie muss er ja satt werden.“
Nach kurzem, ungeduldigen Hin- und Herwerfen des Kopfes trank Paul. Zwischendurch verzog er immer wieder seinen Mund, als sei auch diese Art der Nahrungsspende eine Zumutung.
Sven schüttelte schnaubend den Kopf. „Vielleicht musst du einfach ein bisschen konsequenter sein. Aber das bist du ja sowieso  …“ Den Rest schenkte er sich, denn das Handy vor ihm auf dem Tisch kündigte mit durchdringendem Signalton eine Kurznachricht an.
Marleen spürte sofort, wie Paul zusammenzuckte und gleich darauf loshustete, weil er sich verschluckt hatte. Keine zwei Sekunden später brüllte er aus Leibeskräften.
„Verdammt, Sven! Jetzt stell doch endlich dein Handy leiser!“, schimpfte sie. Wie lange bat sie ihn nun schon um diesen kleinen Gefallen?
Während er etwas eintippte, schüttelte er entschieden den Kopf. „Wie stellst du dir das vor? Soll ich meinem neuen Chef etwa sagen: Sorry, Boss, außerhalb der Baustelle mach ich mein Handy immer aus? Dann ist schließlich Feierabend?“
„Nein. Natürlich nicht“, murmelte Marleen und verfolgte resigniert, wie er im Flur seine Jacke anzog und sich im Türrahmen mit einem flüchtigen Gruß verabschiedete.
„Warte heute nicht mit dem Abendbrot auf mich. Wir sind mit einer Sache ziemlich im Termindruck. Das kann spät werden.“
„Das wird es in letzter Zeit ja ständig“, beklagte sich Marleen und schuckelte Paul, der sich langsam beruhigte.
Es brauchte noch einige zermürbende Anläufe, bis er endlich satt und so müde war, dass er in ihrem Arm einschlief. Vorsichtig legte sie ihn in den Kinderwagen, machte sich noch rasch ein Butterbrot, bevor sie zu einem ausgiebigen Spaziergang aufbrach.
Noch vor einem Jahr konnte sie dieser Freizeitbeschäftigung genauso wenig abgewinnen wie einem Museumsbesuch. Doch seitdem sich ihr Leben so eklatant geändert hatte, waren frische Luft und das saftige Frühlingsgrün Balsam für ihre Nerven. Und schlafen natürlich. Während sie durch den Park bummelte, ertappte sie sich bei der Frage, was sie gerade für eine Nacht ohne Störungen und Verpflichtungen hergeben würde.
„Jetzt fängst du schon an zu spinnen, Marleen!“, wies sie sich zurecht. „Du hast dich damals so sehr dafür eingesetzt, das Baby zu bekommen, also musst du das jetzt auch durchstehen!“ Als ihr Blick auf eine ältere Frau fiel, die mit ihrem Enkel zum Spielplatz zockelte, wandte sie sich rasch ab. „Wenn nötig auch allein. Familiäre Hilfe wird ohnehin überbewertet.“
Und was hieß schon Familie? Svens Eltern, die sich scheiden ließen, als er zwei war, hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Der Vater war mit seiner nächsten Frau, einer Peruanerin mit zwei Kindern, nach Süddeutschland gezogen. Am Leben seines Sohnes zeigte er seitdem wenig Interesse. Von seiner Mutter wusste sie nur, dass sie nach der Trennung zum Zen-Buddhismus konvertiert war und monatelang in einem Dorf am Rande des Himalayas lebte, um dort ihren Meditationen nachzugehen. Sven hatte sie vorher bei den Großeltern in Norwegen abgeliefert, wo er seine Kindergarten- und Schulzeit verbrachte.
Als Marleen ihn in diesem Zusammenhang nach Geschwistern fragte, hatte er nur spöttisch geantwortet: „Nee, habe ich nicht, jedenfalls nach dem der letzten Stand meines Wissens.“
Mittlerweile war es Nachmittag, und da die Sonne plötzlich von düsteren Wolken verdeckt wurde, machte sie sich mit Paul auf den Heimweg. Unterwegs kehrte sie noch schnell im Supermarkt ein, um Frisches für den Kühlschrank einzukaufen. In letzter Zeit häuften sich die Male, an denen sie vor mindestens zwei leergegessenen Fächern stand. Mit einem ermatteten Lächeln schob sie sich die Schuld in die Schuhe. Was sollte sie denn auch machen, wenn sie andauernd Hunger hatte? Und das seit Wochen! Ständig erwischte sie sich dabei, wie sie hier einen Käsewürfel, da ein Würstchen und dort ein Marmeladenbrot in den Mund stopfte. Das Erstaunliche war, dass sie zurzeit weniger wog als vor der Schwangerschaft. Doch spurlos würde diese maßlose Futterei natürlich nicht an ihr vorbeigehen. Das war Marleen schon klar. Aber wie sollte sie diesen unstillbaren Drang in den Griff bekommen? Sie schaffte es ja nicht einmal, Paulchens Hunger zu stillen.
„Essen Sie, soviel Sie wollen, aber Vernünftiges“, hatte die Frauenärztin ihr zum Glück geraten. „Mit dem Diäthalten sollten Sie frühestens nach dem Abstillen beginnen, wenn überhaupt.“ Ihre besorgte Miene trug nicht gerade dazu bei, dass sich Marleens Probleme zerstreuten. „Wenn ich Sie so anschaue, Frau Meister, sollten Sie lieber dafür sorgen, dass Sie mit dem Baby mehr Entlastung bekommen. Ihr körperlicher Zustand und Ihre Blutwerte sind zwar normal, aber so richtig gefallen Sie mir nicht. Gehen Sie es langsam an mit dem Sporttreiben. Ihr Körper ist noch nicht soweit. Und nehmen Sie sich Zeit für sich und Ihr Baby! Sie haben doch ausreichend Hilfe im Haushalt?“
Marleens Nicken war daraufhin sehr hektisch ausgefallen. „Ja, ja, das ist alles bestens geregelt.“
Klar. Auf Sport zu verzichten war nicht das Problem. Ihr innerer Schweinehund legte sich zurzeit ohnehin so stark ins Zeug, dass er problemlos als Therapie-Hund für Workaholics angenommen worden wäre. Doch was die Entlastung für ihren stressigen Babyalltag anging, da hatte die Ärztin sicherlich recht. Vielleicht sollte sie Sven doch stärker einspannen. Immerhin war er Paulchen Vater, auch wenn er mit der Schwangerschaft erst nicht einverstanden war. An der zunehmenden Enge in ihrer Kehle spürte sie deutlich, dass ihr seine schroffe, ablehnende Haltung jetzt noch zu schaffen machte. Davon abgesehen kümmerte er sich meistens sehr fürsorglich um seinen Sohn. Vorausgesetzt er kam von der Arbeit, bevor Paul vor Müdigkeit nur noch quengelte. Nur das tat Sven seit Kurzem immer seltener.
Zu Hause angekommen nutzte Marleen die Zeit bis Paul erwachte, um die Lebensmittel einzuräumen und eine Waschmaschine anzustellen. Mit einem Seufzer der Erschöpfung ließ sie sich auf das Sofa fallen und prüfte auf ihrem Handy nach, ob es neue Mitteilungen gab. Wie sie es schon vermutet hatte, wollte Klara wissen, ob es ihr mit Paulchen in dieser Nacht besser ergangen war.
Hi, Klärchen. Die Nacht war so lala. Fläschchen geht gar nicht, und an der Brust braucht er immer noch 15 Anläufe, bis er satt ist. Sven ist schon so genervt, dass er mich drängt, meine Mutter einzuspannen. Glaub mir, dieser Stress macht den stärksten Krieger fertig. Meld dich mal. Ich hab grad Zeit.
Keine zehn Sekunden später erklang leise das Antwortsignal. Das tut mir so leid, Süße. Ich wette, der kleine Wicht ist später bestimmt das pflegeleichteste Kleinkind und in der Schule der Superhero. Und Sven würde ich mal ordentlich Bescheid stoßen. Er weiß doch, wie schräg deine Ma drauf ist.
Marleen setzte einen traurigen Smiley an den Beginn ihrer Antwort: Hab ich schon versucht. Alles nicht so einfach. Zurzeit gäbe ich sonst was dafür, wenn wir schon drei Jahre weiter wären. Aber jetzt zu dir. Hast du dich mit Maik endlich wieder versöhnt?
Mit Maik war Klara schon seit der Schule zusammen. Verstehen konnte das im Freundeskreis kaum jemand. Hinter vorgehaltener Hand mutmaßten vor allem die weiblichen Singles, dass diese mittlerweile zehnjährige Beziehung sicherlich etwas mit Abhängigkeit und Bequemlichkeit zu tun hatte. Was einem dadurch auch alles entging! Oder man hielt die demonstrative, innige Zweisamkeit für eine schauspielerische Glanzleistung. Für gewöhnlich endeten solche Vorzeigebeziehungen doch beim ersten großen Krach. Dass bei Maik und Klara gewachsene Harmonie oder gar Liebe eine Rolle spielte, hielten sie für völlig abwegig. Nur Marleen, die mit Klara schon mehrere Jahre eng befreundet war, wusste, wie sehr sich die beiden aufeinander verlassen konnten und aneinander hingen. Sie hatten einfach verstanden, welche Zutaten für eine feste Beziehung nötig sind: Achtsamkeit, Toleranz und viel Humor. Natürlich rutschte auch ihnen mal eine faule Kartoffel in die Paarsuppe. Dann flogen Kraftausdrücke und Müslischüsseln durch die Küche, so wie in der vergangenen Woche. Doch das war eher die Ausnahme.
Nach einem hochgestreckten Daumen meinte Klara: Ja, wir haben uns gestern Abend noch ausgesprochen und so. Es folgten zwei rote Herzen. Aber so richtig glücklich bin ich nicht damit, dass sich Maik selbständig machen will. Er soll doch froh sein, dass er diesen guten Arbeitsplatz hat. So was gibt man doch nicht einfach auf.
Was sollte Marleen dazu sagen? So wie sie Maik kannte, hatte er sich diesen Schritt gründlich überlegt. Komm schon, Klärchen. Er würde das Risiko bestimmt nicht eingehen, wenn er sich nicht sicher wäre, dass er damit Erfolg hat. Vertrau ihm einfach!
Du hast recht. Ich sehe mal wieder zu schwarz. Ich verspreche, mich zu bessern.
Zehn Sekunden später ergänzte sie: Aber das solltest du auch. Drück Sven doch Paulchen und eine Portion aus der Milchpumpstation in den Arm, und mach dich auf den Weg zu uns! Vielleicht trink er bei ihm ja daraus. Was du dringend brauchst, sind Abwechslung, Weibertratsch und ein Fläschchen Prosecco.
Marleen seufzte lächelnd. Morgen vielleicht, aber dann nur mit Wasser. Außerdem kommt Sven heute später. Oh, ich muss Schluss machen, Paulchen wird wach. Bevor sie die Mail abschickte, hängte sie noch schnell einen resignierten Smiley an. Dann eilte sie zum Kinderzimmer, aus dem bereits energisches Schreien ertönte.
Als sie mit der Hand unter Paulchens Po fuhr, um ihn aus dem Bettchen zu heben, spürte sie etwas Tropfnasses. Der Ärmste war bis zum Bauchnabel durchgeweicht! Marleen seufzte tief. Auch die Matratze hatte etwas abbekommen.
Kaum war Paulchen von seinen nassen Wickeln befreit, strampelte er so vergnügt, dass Marleen laut lachen musste. Ihre Heiterkeit endete allerdings schlagartig, als sie die Schublade unter der Wickelauflage öffnete und ins Leere starrte. Mist! Wie konnte sie beim Einkaufen nur die Windeln vergessen?
Mit dem nackten Baby eilte sie zum Kinderwagen im Flur und durchsuchte einhändig die Wickeltasche. Zum Glück! Da war noch eine. Die legte sie Paul schnellstens um, denn er zeigte kein Verständnis für die schleppende Anzieherei. Er hatte Hunger!
Während des Stillens linste Marleen nervös auf die Uhr. Sie brauchte dringend ein neues Windelpaket. Doch jetzt, kurz vor acht, würde sie es nicht mehr schaffen, vor Ladenschluss im Supermarkt zu sein. Sie langte nach ihrem Handy und rief Svens Nummer auf. Als er sich nicht meldete, drückte sie auf Rot. Verdammt, warum ging er nicht ran? Rasch suchte sie die Nummer seines Vorarbeiters heraus. Die hatte Sven ihr kurz vor dem Entbindungstermin gegeben, weil sie sich sonst nicht sicher genug fühlte. Nach dem Anwählen dauerte es ebenfalls eine ganze Weile, bis eine raue Männerstimme fragte:
„Rohleder, was gibt's?“
„Ähm, Entschuldigung, hier ist Meister, Marleen Meister. Ich bin die Freundin von Sven Manteufel.“
„Ja, und?“
„Könnte ich Sven mal kurz sprechen? Es ist dringend, und sein Handy ist aus.“
Am anderen Ende ertönte ein kurzes Lachen. „Wissen Sie das denn nicht? Der Sven arbeitet nicht mehr hier. Das Projekt, an dem er beteiligt war, wurde gestoppt. Es gab wohl ziemliche Differenzen zwischen der Bauleitung und dem Auftraggeber. Vor drei Wochen hat er dann seinen Anwalt eingeschaltet und sofort den Geldhahn zugedreht. Bei uns wurden daraufhin sechs Leute entlassen. Tut mir echt leid, Frau …“
„Meister“, antwortete Marleen mit kraftloser Stimme. „Dann wissen Sie auch nicht, wo er jetzt sein könnte?“ Peinlich! Welchen Eindruck musste es auf diesen Mann machen, wenn sie nicht einmal wusste, dass ihrem Freund gekündigt wurde und wo er gerade war?
„Nö, woher auch?“
„Ja, dann danke, und verzeihen Sie bitte die Störung“, murmelte Marleen und drückte den Ausknopf.
Gekündigt! Schon vor drei Wochen! Marleen blickte fassungslos in die Ferne. Warum hatte Sven ihr das verheimlicht? Und vor allem, wohin ging er, wenn er morgens die Wohnung verließ?
Sie legte Paul, der offensichtlich satt war, über die Schulter und wanderte im Zimmer auf und ab. Mit jedem ihrer federnden Schritte wurde ihr klarer, dass da noch etwas anderes eine Rolle spielen musste. Natürlich war ihr schon länger aufgefallen, wie nervös und unzufrieden Sven in der letzten Zeit war. Doch das hatte sie der veränderten Lebenssituation zugesprochen. Sicherlich waren sie nicht das erste junge Paar, das durch ein Baby an seine Belastungsgrenzen geriet. Ein unangenehmer Schauer lief ihr über den Rücken, und diesmal war nicht Paulchens Bäuerchen schuld. Ihre Vermutung war so beängstigend, dass sie augenblicklich zu frösteln begann. Wenn Sven nicht zur Arbeit ging, wo war er dann? Gab es da vielleicht eine andere Frau? Quatsch! Wahrscheinlich hatte er längst eine neue Arbeitsstelle gefunden und den Wechsel für sich behalten, um sie nicht zu beunruhigen. Doch wohler war ihr mit dieser Erklärung nicht. Und auch das Windelproblem hatte sich damit nicht in Luft aufgelöst. Spätestens in einer Stunde, wenn Paulchen ins Bett musste, brauchte sie Nachschub.
Rasch griff sie zum Handy und drückte noch einmal auf Klaras Nummer.
Hilfe, Windelalarm! Ich kann Sven nicht erreichen und gleich sind die Geschäfte zu.
Keine drei Sekunden später fragte ihre Freundin nach der Größe.
4 bis 8 Kilo.
Alles klar, du geplagtes Muttertier. Bin schon unterwegs.
  1. Ganz lieben Dank! Ich packe Paulchen inzwischen in den Wagen und hole das Paket bei euch ab.
Okay, bis gleich.
Erschöpft vom zügigen Fußmarsch durch die Stadt stellte sie den Kinderwagen mit dem schlafenden Baby in Klaras Flur ab, nahm ihre Freundin zum Dank für die Windeln in den Arm und ließ sich dann mit einem tiefen Seufzer auf die lilafarbene Couchspielwiese fallen.
„Na, Erleichterung klingt aber anders“, scherzte Klara und goss Wasser in das Glas, das sie Marleen in die Hand gedrückt hatte. „Nun lach doch mal! Dein Sohn darf jetzt wieder ganz befreit verdauen.“
Marleen zwang sich zu lächeln. „Wenigstens das Problem ist vom Tisch.“
Klara legte ihren dunklen Lockenkopf schief. „Zum kompletten Glück fehlt dir jetzt noch … was?“ Verwundert musterte sie ihre Freundin, die betreten zu dem Glas in ihren Händen hinabschaute.
„Klarheit? Ehrlichkeit? Oder noch besser … Vertrauen?“, zählte Marleen auf, ohne Klara dabei anschauen.
„Du meinst jetzt aber nicht mich damit, oder?“
Marleen schüttelte den Kopf. „Nein, nein, entschuldige. Wenn ich einem Menschen blind vertraue, dann bist du es.“
„Also Sven.“ Klara schürzte nachdenklich die Lippen, als sie ihre Freundin mit betretener Miene nicken sah. „Und was hat er angestellt, dass du glaubst, ihm nicht mehr vertrauen zu können?“
Marleen vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. „Er verheimlicht mir seit Wochen, dass er seinen Job verloren hat.“ Sie blickte Klara mit tränenüberströmtem Gesicht an. „Aber was noch viel schlimmer ist, er geht morgens aus dem Haus und lügt mir vor, er müsse ständig Überstunden machen. Und ich sitze mit dem Kind da und denke, es ist alles in bester Ordnung.“
Klara war von der Neuigkeit so irritiert, dass sie ihr Weinglas in einem Zug leerte. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, stellte sie es im Zeitlupentempo auf den Tisch zurück.
„Oh, my god! Das ist ja schlimmer als die Szene, die er dir nach deiner Kündigung gemacht hat. Das ist ja wirklich ein starkes Stück!“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Sven war ja noch nie der brave Chorknabe, aber so was geht ja gar nicht.“
Marleen wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht trocken. „Was mache ich denn jetzt? Wenn ich ihn zur Rede stelle, wird er vielleicht alles beichten, aber was ist mit dem Vertrauen, das ich mal zu ihm hatte?“
„Das ist futsch, ganz klar“, brummte Klara und nickte mit zusammengepressten Lippen. In der Gesprächspause, die sich nun ergab, ging die Tür auf, und Maik kam mit einem fröhlichen Hallo hereinmarschiert.
„Pst!“, zischte Klara sofort und deutete ihrem Freund mit dem Finger auf dem Mund an, nicht so laut zu sein. „Mach bloß Paulchen nicht wach! Wir sind gerade sehr froh, dass er uns ein wenig Zeit zum Quatschen gönnt.“
Maik grinste. „Davon hält euch doch sonst auch nichts ab.“ Als er Marleens verheultes Gesicht wahrnahm, war es mit seiner Heiterkeit schlagartig vorbei. „Gibt es etwas, das ich wissen sollte, Mädels?“
„Sven hat seinen Job verloren“, offenbarte ihm Klara mit einem bedauernden Blick zu dem Häufchen Elend, das neben ihr saß.
Bevor Maik die Schreckensbotschaft komplett erfasst hatte, fügte Marleen mit brüchiger Stimme hinzu: „Und noch schlimmer ist, dass er es mir bis heute verschwiegen hat.“
Er hob die Augenbrauen. „Und ich habe mich schon gewundert, warum er neuerdings dauernd beim Cage-Fußball ist.“
Klara schüttelte verwundert den Kopf. „Und woher weißt du das? Du machst da doch gar nicht mit.“
„Das habe ich erfahren, als ich letztens ein paar Schulkumpel von Sven und mir getroffen habe.“ Die Furchen auf seiner hohen Stirn wurden plötzlich tiefer. „Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, als sie herumwitzelten, Sven würde es ja wohl verstehen, diese Auszeit zu nutzen. Ich nahm an, sie meinten die Zeit, wenn das Baby schläft.“ Als Marleen den Kopf senkte, um ihre Nase zu putzen, warf er Klara einen Blick zu, aus dem sie nicht schlau wurde. Erst als Maik Marleen fragte: „Habt ihr eigentlich schon mal über eure Zukunftspläne gesprochen?“, wusste sie, dass die Schulfreunde ihm noch mehr aufgetischt hatten.
Marleen musterte ihn verwundert. „Was für Zukunftspläne denn?“
„Weiß ich doch auch nicht.“ Maik zuckte verunsichert mit den Schultern. „Vielleicht, ob ihr für immer hier wohnen bleiben wollt und so.“
„Klar träumen wir davon, in eine größere Wohnung oder ein Haus zu ziehen, aber das können wir uns ja wohl abschminken“, murmelte sie und presste verzweifelt die Lippen zusammen. „Ausgerechnet jetzt muss ihm das passieren.“
„Möglich ist ja auch, dass er es verheimlicht hat, weil er dich in dieser stressigen Babyphase nicht zusätzlich beunruhigen will, oder er hat die Kündigung einfach selbst noch nicht verkraftet.“ Klara strich mitfühlend über Marleens Arm. „Außerdem weißt du doch, wie gern wir Frauen Dinge dramatisieren. Bestimmt hat er längst eine neue, viel bessere Stelle und will dich mit der ersten Lohnabrechnung überraschen.“ Als sie bei einem flüchtigen Blick zu Maik sah, wie er den Kopf schüttelte, wurde ihr schlagartig klar, dass sie mit ihrer wohlmeinenden Vermutung völlig falsch lag. Seiner unheilverkündenden Miene nach liefen Svens Pläne in eine ganz andere Richtung.