Kapitel 4
Gegen Mitternacht hatte Franziska noch einmal den Kopf durch den Türspalt gesteckt und ihre Tochter wissen lassen, dass sie und Papa nun schlafen gehen würden. Ihr subtiler Hinweis, man erwarte ein leises Paulchen, war Marleen natürlich nicht entgangen.
Die erste Nacht in ihrem Elternhaus verlief kaum anders, als Marleen es seit der Entbindung gewöhnt war: Seit fünf Uhr war sie auf den Beinen, um ihren Sohn, der erwartungsvoll mit Armen und Beinen zappelte, zu beschäftigen. Bis dahin hatte sie ihn fast jede Stunde aus dem großen Wäschekorb genommen, der neben ihrem Bett auf dem Boden stand. Er war zwar mit Decken und Kissen gepolstert, doch gemütlich fand er ihn trotzdem nicht. Das tat er seiner Umgebung unmissverständlich kund.
Halb acht war es bereits, als sie mit dem frisch gewickelten und gut gelaunten Baby auf dem Arm und knurrendem Magen vor dem Fenster auf und ab ging und dabei den Garten betrachtete. An ihm hatte sich kaum etwas geändert, stellte Marleen seufzend fest. Genau wie bei ihren Eltern, an denen die moderne Welt spurlos vorbeizuziehen schien. Sie hatten ihr Leben in den vergangenen Jahrzehnten nach ihren Maßstäben eingerichtet, und sträubten sich seitdem gegen jegliche Art von Veränderung. Eigentlich hätte man diesen Zustand auch gleich Stillstand nennen können, philosophierte Marleen gedankenversunken.
Plötzlich stutzte sie und huschte rasch hinter den Vorhang. Was war das für ein fremder Mann da am Ende der Rasenfläche? Und vor allem, was hatte er mit der wuchtigen Motorsäge vor? Von ihrem Versteck aus verfolgte sie, wie der muskulöse Kerl in brauner Cargo-Hose und olivgrünem, enganliegendem T-Shirt mit einem energischen Zug den Motor in Gang setzte. Augenblicklich huschte ein Grinsen über ihr vom Schlafmangel gezeichnetes Gesicht.
„Der soll bloß aufpassen, dass ihm seine coole Lockenmähne nicht in die Säge kommt“, flüsterte sie Paul ins Ohr. Als sie im nächsten Moment sah, wie der Unbekannte das Gerät abschaltete, seine schulterlange, mittelblonde Haarpracht wie ein Löwe nach hinten schüttelte und mit einem Band im Nacken fixierte, murmelte sie verdutzt: „Da soll noch einer behaupten, es gäbe keine Telepathie!“
Im nächsten Moment heulte nicht nur die Säge auf. Auch Paul trug seinen Teil zur Beendigung der morgendlichen Stille bei. Er wollte Programm! In Windeseile schlüpfte Marleen in ihre Badelatschen und eilte die Treppe hinab zur Küche.
„Guten Morgen, Kind.“ Marleens Mutter, die gerade die Kaffeemaschine in Gang setzte, warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. „In der Aufregung gestern Abend habe ich ganz vergessen, dir zu sagen, dass ich jemanden bestellt habe, der den Lebensbaum neben dem Holzschuppen fällt. Papa habe ich das verboten. Der wäre letztens fast von der Leiter gefallen.“
Marleen nickte lächelnd. „Bekommt ihr denn keinen Ärger mit den Nachbarn, wenn so früh schon gesägt wird?“
„Früh nennst du das? Halb acht ist doch nicht früh!“, erwiderte ihre Mutter mit einem vorwurfsvollen Seitenblick. „Papa und ich stehen gewöhnlich um sechs auf. Dann schafft man wenigstens was. Aber in deinem Alter muss ja noch ausgeschlafen werden.“
„Wenn du wüsstest!“, beklagte sich Marleen in Gedanken. Dass sie seit fünf Uhr mit dem putzmunteren Paul beschäftigt war, behielt sie lieber für sich. Sie wusste nur zu gut, dass es sonst Tipps hageln würde, wie man Babys zum Durchschlafen erzieht. Auch mal schreien lassen wäre bestimmt ihr erster Ratschlag, gefolgt von der zuverlässigen Wirkung eines ordentlichen Abendbreis. Wenn das nicht half, musste der bewährte Baldriantee mit Honig ran, der in ihrer Familie schon seit Generationen verabreicht wurde, wenn jemand krank oder unleidlich war. Den Hinweis, dass Honig für Babys schädlich sei, weil Darmbakterien ihn zu Botox umwandeln, konnte sich Marleen sparen. Sie kannte ihre Mutter. Von ihr bekäme sie dann nur zu hören: „Ach, Unsinn, Kind! Das ist ein bewährtes Naturheilmittel. Meine Eltern haben das schon so gehalten.“ Die Tatsache, dass auch Tee und Wasser die Muttermilchmenge drosselte, wäre für ihre Mutter auch kein Hinderungsgrund. Egal, ob es den Schnuller, die erste feste Mahlzeit oder das Töpfchen betraf: alles, was das Aufziehen eines Kindes irgendwie erleichterte, sollten Mütter ihrer Überzeugung nach frühestmöglich nutzen. Neuere Erkenntnisse auf diesem Gebiet hielt sie generell für albern und weltfremd. 
„Wo ist Papa denn?“
„Den habe ich rausgeschickt, um diesem Hippie von der Gartenfirma ein bisschen auf die Finger zu schauen.“ Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie man so jemanden auf die Kundschaft loslassen kann. So verwildert wie der aussieht, hascht der bestimmt. Womöglich auch während der Arbeit.“
Marleen rollte mit den Augen. „Ach, Mama! Das Äußere eines Menschen sagt doch nichts über seine Arbeitsweise aus.“
Wie immer, wenn Franziska nicht weiter wusste, schüttelte sie den Kopf und widmete sich der Pfanne mit dem Rührei. Nachdem sie die dampfende Schale auf dem Frühstückstisch abgestellt hatte, neigte sie sich zu Paulchen hinab, der gemütlich angelehnt auf dem Schoß seiner Mutter saß. „Was macht denn unser kleines Männlein?“, fragte sie mit einem hellen Sing-Sang in der Stimme. „Hast du denn schön geschlafen?“ Während sie ihren Enkel mit zartem Fingerpiksen in den Bauch zum Lachen brachte, musterte Marleen ihr Gesicht. Offensichtlich hatte sie von seinen nächtlichen Schreieinlagen nichts mitbekommen.
„Ich wette, er ist gleich schon wieder müde.“ Und ich erst, setzte sie in Gedanken fort und gähnte möglichst unauffällig. „Nach dem Frühstück werde ich mit ihm eine Runde gehen. Draußen schläft er meist besser.“
„Und dir tut die frische Luft auch gut. Du siehst ja so blass aus, Kind. Ich wette, du ernährst dich nicht richtig.“
Marleen hatte nicht die geringste Lust, noch vor dem Frühstück über ihre Essgewohnheiten zu diskutieren. Doch am durchdringenden Blick ihrer Mutter merkte sie, dass sie auf ihre Stellungnahme wartete.
„Und was bedeutet in deinen Augen, sich richtig zu ernähren?“
„Na, ausgewogen eben, und nicht immer dieses Zeug vom Chinesen. Da ist doch so viel Gluten drin.“
„Glutamat meinst du sicherlich. Das Zeug ist übrigens auch in deinem guten, alten Maggi“, gab ihr Marleen zu bedenken.
Franziska musterte ihre Tochter ungläubig. „Wo hast du das denn nun wieder her? Außerdem nehme ich davon höchstens zwei, drei Spritzer.“ Um rasch aus der Klemme zu kommen, bat sie Marleen, in den Garten zu gehen und ihren Vater zum Frühstück zu rufen.
Marleen blickte zum Küchenfenster hinaus. „Sollten wir dem Mann da draußen nicht auch einen Kaffee anbieten? Oder wenigstens eine Flasche Wasser?“
Franziskas Augen weiteten sich empört. „Wir sind doch hier nicht bei der Wohlfahrt! Außerdem ist der doch gleich wieder weg.“ Nach einem kurzen inneren Kampf gab sie dann doch nach. „Na gut. Wenn du meinst.“ Mürrisch füllte sie Kaffee in einen Thermosbecher und reichte ihn Marleen. „Hier. Ist ja ein Weg, wenn du Papa holst.“
Mit Paul auf der linken Hüfte und dem Becher in der Rechten machte sich Marleen auf den Weg zu den beiden Männern, die am anderen Ende der Rasenfläche standen und sich mit dem Rücken zu ihr unterhielten. Beim Näherkommen fiel ihr die drahtige, gut proportionierte Statur des Arbeiters auf. Als ihr Blick auf ihren hagereren Vater fiel, musste sie schmunzeln. Er wirkte wie ein Jockey neben einem Ringer.
Einige Meter vor den Männern krähte Paul plötzlich so laut los, dass sich die beiden überrascht umdrehten.
„Guten Morgen.“ Marleen hielt dem Fremden den Becher hin. „Sie trinken doch Kaffee?“
„Oh, ja. Sehr gern.“ Er bedankte sich höflich, aber mit ernstem Blick. Als er aus seinen Handschuhen schlüpfte und den Deckel öffnete, ertappte sich Marleen dabei, wie sie gedankenverloren seinen Bewegungen folgte. Sie war vom gepflegten Aussehen seiner Hände so erstaunt, dass sie fast ihren Auftrag vergessen hätte.
„Ach, ja. Frühstück ist fertig, Papa.“
Während sich ihr Vater verabschiedete und zum Haus zurückging, pflückte der Gärtner ein langstieliges Gänseblümchen vom Rasen. Damit strich er sanft über Paulchens Stupsnase.
Erst wollte Marleen ihn auffordern, das zu lassen. Doch im nächsten Augenblick starrte sie mit offenem Mund ihren Sohn an. So kannte sie Paulchen gar nicht. Statt sich erbost abzuwenden, wurden die Lachgrübchen neben seinem Mund immer ausgeprägter. Im nächsten Moment war er so angetan von dem Fremden, der ihn liebevoll neckte, dass er ihn immer wieder voller Inbrunst anprustete. Marleen konnte es kaum fassen. Zum ersten Mal zeigte der kleine Kerl deutlich, dass ihm etwas gefiel und er mehr davon haben wollte.
„Wie machen Sie das?“, fragte sie verwundert.
Ein leichtes Lächeln huschte über sein kantiges Gesicht. „Kleine Kinder und Blumen gehören doch zusammen wie Sonne und Mond oder Himmel und Erde.“
Also doch ein Hippie! Woran hatte ihre Mutter das bloß erkannt? Sie warf ihm einen höhnischen Seitenblick zu.
„Hm! Von dieser floralen Kinderphilosophie habe ich bisher noch nichts gehört.“
Paul, der das Blümchen endlich mit den Fingern erwischt hatte, versuchte es umständlich in den Mund zu bekommen.
„Nein, nein, mein Lieber. Blumen kann man nicht essen.“ Als Marleen es ihm wegnahm, schrie er entrüstet los.
„Bellis perennis! Im vergangenen Jahr ist das wildwachsende Gänseblümchen sogar zur Pflanze des Jahres gewählt worden. Es ist übrigens völlig harmlos.“ Wie selbstverständlich steckte er sich die Blume in den Mund und zerkaute sie. „In einigen guten Restaurants dekoriert man sogar Desserts mit den Blüten.“
„Sagt der Vater von Kindern, die bisher sämtliche Blumensorten überlebt haben?“ Upps! Wie konnte sie nur annehmen, dass dieser sonderbare Gartenfex Kinder haben könnte? Um ihre etwas vorlaute Äußerung zu kompensieren, schob sie rasch hinterher: „Mir geht es hier mehr ums Prinzip, wissen Sie. Kleinkinder, die auf der Wiese herumkrabbeln und gezeigt bekommen, dass man Gänseblümchen essen kann, machen doch auch vor giftigen Pflanzen nicht halt.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Aber Ihr Nachwuchs hat die deutsche Pflanzenwelt bestimmt püriert ins Fläschchen bekommen und ist weitestgehend immunisiert.“ Warum regte sie sich über diesen Kerl bloß so auf?
Der Gärtner verzog amüsiert den Mund. „Bellis gehören wegen ihrer Saponine und ätherischen Öle seit Jahrhunderten zu den Heilpflanzen. Aber das wissen die wenigsten. Aus dem Sud kann man sogar einen guten Hustensaft für Kinder herstellen.“ Er schaute mitleidig zu Paul, der protestierend den Kopf in den Nacken warf. „Die Kleinen haben es in dieser Welt sowieso schon schwer genug bei dem Lärm und der Hektik um sie herum.“ Ohne sie noch einmal anzuschauen schlüpfte er in seine Handschuhe. „Sorry, ich muss weitermachen. Man bezahlt mich ja nicht für Smalltalk.“
„Stimmt“, meinte Marleen brummig und machte sich mit Paulchen, der ungeduldig mit den Beinen strampelte, auf den Rückweg. Ganz schön von sich eingenommen, dieser Garten-Apostel!
„Was hast du denn so lange gemacht? Dein Kaffee ist schon längst kalt, und Paulchen ist bestimmt ganz durchgefroren, so wie der herumquengelt.“ Im Vorbeigehen strich Marleens Mutter ihrem Enkel mitleidig über die Wange.
„Der hat nur Hunger“, erwiderte Marleen gereizt und legte Paulchen an, der wie üblich im Wechsel trank und brüllte.
Ihrer Mutter behagte sein seltsames Trinkgehabe gar nicht. Aber noch weniger gefiel ihr der Umstand, dass ihre Tochter nun bei ihnen saß, statt sich um den eigenen Haushalt zu kümmern. Kaum war sie mit ihrem Brötchen fertig, startete sie ihre Fragerunde.
„Bist du sicher, dass es die richtige Entscheidung war, Marleen? Ich meine, dass du einfach so abgehauen bist.“
Marleen schüttelte verärgert den Kopf. „Sven betrügt mich, Mama. Was ist falsch daran zu gehen?“
„Ich will mich ja nicht einmischen, aber vielleicht hättet ihr erst mal reden sollen. Immerhin hast du jetzt ein Kind, und da kannst du nicht immer nur deinen Kopf durchsetzen.“
Marleens Vater verzog schmerzgeplagt das Gesicht. „Lass es gut sein, Franziska. Das geht uns doch nichts an. Marleen wird schon wissen, was sie tut.“
„Doch. Das geht uns sehr wohl etwas an, Wolfgang. Wir sind schließlich ihre Eltern.“ Franziska hob beleidigt das Kinn und wandte sich wieder ihrer Tochter zu. „Als Mutter muss man eben auch mal die Zähne zusammenbeißen und ein bisschen aushalten können. Vieles regelt sich mit der Zeit von allein.“ Sie machte eine abwertende Handbewegung. „Schlimme Phasen hatten wir damals auch. Was wäre denn geworden, wenn ich immer gleich das Handtuch geworfen hätte?“
„Papa hat dich ja auch nicht betrogen, hoffe ich wenigstens“, konnte sich Marleen, die die Diskussion jetzt schon leid war, nicht verkneifen hinzuzufügen. Sie kannte das antiquierte Frauenbild ihrer Mutter zur Genüge. Als nächstes würde sie bestimmt einen subtilen Hinweis auf Svens geregeltes Einkommen erhalten, und dass man doch des Kindes wegen zusammenhalten müsse.
„Nicht wahr, Wolfgang? Wenn es bei uns mal Streit gab, wollten wir uns doch nicht gleich trennen.“ Franziska warf ihrem Mann einen herausfordernden Blick zu. „Nun sag doch auch mal was!“
Zu Marleens Verwunderung reagierte ihr Vater erst nach einer kurzen Pause. „Das waren halt andere Zeiten, Franziska. Ich war der einzige, der bei uns das Geld verdient hat“, erklärte er mit spröder Stimme und sah dabei zu seiner Kaffeetasse hinab. „In dieser Generation ist das eben anders. Da verdienen beide Elternteile ihr Geld. Das kann man nicht mit damals vergleichen.“
Marleen räusperte sich kräftig und schaute verzweifelt zu Paul hinab. „Kann man irgendwie schon, denn Sven und ich sind arbeitslos. Ich habe schon zwei Monate vor der Geburt gekündigt, und er ist seinen Job auch los.“
Die beiden Älteren sahen sich erschreckt an. „Ja, aber das geht doch nicht!“, stammelte ihre Mutter, die den Durchblick endgültig verloren hatte. „Und dann lässt du ihn auch noch im Stich?“
Diese Frage brachte das Fass zum Überlaufen. Marleen erhob sich und brüllte über den Tisch: „Ich bin gegangen, weil er mich betrügt!“ Heiße Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. „Und wenn du es noch genauer wissen willst, Mama: Nicht ich habe ihn im Stich gelassen, sondern er uns. Versuch es doch bitte zu verstehen!“ Im darauffolgenden Satz hob sie jedes Wort fast heiser hervor. „Sven liebt eine andere Frau.“ Bevor ihre Stimme ganz versagte, rannte sie mit dem Baby auf dem Arm die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Während Marleen ihrem Sohn mit zusammengepressten Lippen eine frische Windel anlegte, bebte ihr Oberkörper vom unterdrückten Schluchzen. Lange konnte sie die Vorhaltungen ihrer Mutter nicht mehr aushalten. Sie musste schnellstens fort von hier. Je eher desto besser. Aber wohin?
Nachdem sie sich das Gesicht kalt abgespült hatte, packte sie Paul in den Kinderwagen und verließ leise das Haus zu einem Spaziergang. Paul knötterte noch eine Weile vor sich hin, doch schon an der nächsten Straßenecke fielen ihm die Augen zu. Marleen bog in eine Seitenstraße ab, die an älteren Siedlungshäusern vorbei zu einer weitläufigen Ebene mit Weiden und Äckern führte. Als ihr auf dem angrenzenden Feldweg der Wind durch die Haare wehte, beruhigte sie sich langsam. An der nächsten Weggabelung stellte sie den Kinderwagen neben einer sonnenbeschienenen Holzbank ab, legte sich lang ausgestreckt nieder und faltete die Hände hinter dem Kopf.
Mit geschlossenen Augen seufzte sie tief. Wie erholsam es hier war! Bei der Ruhe und dem lauen Wind würde Paul sicherlich eine ganze Weile schlafen. Es kam ihr so vor, als habe sie diesen Moment schon lange herbeigesehnt. Endlich hatte sie Zeit für sich. Zeit, um über alles in Ruhe nachzudenken. Sie blinzelte kurz in die Sonne und schloss erneut die Augen. Keine zwei Minuten später schlief sie ebenfalls.
Ein sanftes Rucken an der Schulter ließ sie erschreckt die Augen öffnen.
„Papa, du?“ Wie vom Schlag getroffen schoss sie in die Höhe und eilte zum Kinderwagen, den ihr Vater sanft schaukelte. Zum Glück! Paulchen schlummerte noch genauso fest wie vor ihrem ungewollten Einnicken.
„Nach dem Gespräch vorhin am Frühstückstisch hab ich mir Sorgen um dich gemacht, und da bin ich mal ein bisschen die Gegend abgelaufen.“
Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie neben ihrem Vater Platz. Warum konnte ihre Mutter nicht genauso einfühlsam sein wie er?
„Ich hab nicht viel geschlafen heute Nacht“, entschuldigte sie sich kleinlaut.
„Kann ich mir denken, bei deinen Problemen.“
Marleen bemerkte beim kurzen Blick zur Seite, wie besorgt und niedergeschlagen er wirkte. Noch vor einem Jahr, als er in seiner Kanzlei bis in die Abendstunden für das Recht seiner Mandanten gekämpft hatte, war er ihr robust und unternehmungslustig vorgekommen. Doch seit dem Hörsturz, der ihn abrupt aus dem Arbeitsleben ausscheiden ließ, befand er sich in einem Abwärtsstrudel. In den ersten Monaten seines Ruhestands hatte er sich noch damit gebrüstet, nun endlich den Garten pflegeleichter gestalten zu wollen. Doch in der Zeit darauf fand er immer weniger Betätigungsfelder, die ihn vor allem intellektuell forderten. Jeder, der ihn gut kannte, hatte seitdem den Eindruck, er würde sein restliches Leben nur noch resigniert absitzen.
Marleen streichelte liebevoll seine Hand. „Das bekomme ich schon hin, Papa. Ich bin ja keine siebzehn mehr, und Paulchen wird auch immer pflegeleichter.“ Genau genommen war das Gegenteil der Fall. Sie wusste nicht einmal ansatzweise, wie und wovon sie in Zukunft leben sollte. Auch die Schreianfälle ihres Sohnes hatten in den letzten Tagen eher zu- als abgenommen. Doch damit wollte sie ihren Vater nicht belasten. Es reichte schon, dass sie von dem Stress Magendrücken bekam.
„Wie stellst du dir denn nun dein weiteres Leben vor?“
Marleen zuckte leicht mit den Schultern. Auch wenn es der Wahrheit entsprach, kam es ihr in diesem Moment sehr unhöflich vor, ihrem Vater mitzuteilen, dass sie es unter der erdrückenden Obhut ihrer Mutter kaum aushielt und dass sie ihr Kinderzimmer wieder räumen wollte, sobald sich eine finanzielle Lösung andeutete.
Er lächelte sie von der Seite her gequält an. „Ich weiß ja, dass es mit Mama nicht einfach ist. Aber du kannst sicher sein, dass sie es nur gut mit dir und dem Baby meint.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte Marleen murrend. „Wenn sie mich nur nicht immer wie einen unmündigen Teenager behandeln würde.“ Sie hatte in diesem Moment große Lust, ihrem Vater all die Punkte aufzuzählen, die sie am Verhalten ihrer Mutter störten. Am meisten machte ihr die Respektlosigkeit zu schaffen, mit der sie ihr unterstellte, sie könne nicht verantwortungsvoll für ihr Kind sorgen. Außerdem nahm sie ihr die Sturheit übel, mit der sie an ihrem veralteten Wissen über Babypflege und Kindererziehung festhielt. Nicht zuletzt war ihr auch die herzlose Art zuwider, mit der ihre Mutter sämtlichen Menschen in ihrem Umfeld vor den Kopf stieß. All das drängte mit Macht aus ihr heraus. Trotzdem zwang sie sich, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen.
„Ja, damit werden wir wohl beide leben müssen“, seufzte ihr Vater lächelnd. „Zu Mamas Entlastung muss ich anführen, dass sie es mit ihren Eltern auch nicht leicht gehabt hat. Du kanntest deine Großmutter ja kaum, aber so wie Franziska es mir erzählt hat, war Oma Lissy eine zarte, krankheitsanfällige Person.“
„Deshalb ist sie auch so früh gestorben?“
Er schnaubte verächtlich. „Nein, das hat noch einen anderen Grund. Es heißt, Opa Henry habe sie viel zu spät ins Krankenhaus gebracht. Weiß der Himmel warum. Der Krebs war zu dem Zeitpunkt schon so weit fortgeschritten, dass ihr die Ärzte nicht mehr helfen konnten. Mama glaubt ja, er habe Oma Lissys Zustand nicht ernst genug genommen und immer nur seinen Kopf durchgesetzt. Deshalb sei er auch schuld daran, dass sie so früh gestorben ist.“
„Und du? Glaubst du das auch?“
Ihr Vater presste die Lippen zusammen. „Nein, eher nicht. Ich bin überzeugt davon, dass Henry seine Frau geliebt hat, auch wenn sein Umgang mit ihr nach außen hin wenig einfühlsam wirkte.“
Die Geschichte klang zwar beklemmend, aber irgendetwas daran stimmte Marleen skeptisch, und das hatte nichts mit der angespannten Beziehung zu ihrer Mutter zu tun. Sie blickte nachdenklich zu ihren Füßen, die sie gemütlich von sich gestreckt hatte. Das Ganze ergab doch keinen Sinn. Sie hatte O'Henry, wie sie ihren Opa von klein an nannte, zwar nur als Kind ein paar Mal gesehen. Doch er war ihr als gutmütig, wenn auch eigenwillig in Erinnerung geblieben. Warum sollte dieser Mann seiner todkranken Frau, die ihm seine einzige Tochter geboren und den größten Teil ihres Lebens an seiner Seite verbracht hatte, die nötige ärztliche Hilfe verweigern? Sicherlich war es so, dass ihre Mutter von dem traurigen Vorfall derart mitgenommen war, dass sie nicht klar denken konnte. Bestimmt hatte sie ihren Vater deshalb für ihren frühen Tod verantwortlich gemacht. Aber musste man den Kontakt zu ihm dann gleich vollständig abbrechen? Selbst als Marleen Jahre später die Telefonnummer ihres Großvaters wissen wollte, hatte ihre Mutter ihr strikt verboten, ihn anzurufen.
Sie seufzte tief. Der arme, alte Mann! Wenn da mal nicht noch etwas anderes eine Rolle spielte.
Marleens Vater, der gedankenversunken den Kinderwagen schuckelte, schreckte plötzlich auf.
„Komm, wir müssen zurück. Gleich um drei kommt der Bastian und holt den Baum ab.“
„Du meinst den Kerl, der gestern die alte Zypresse gefällt hat?“ Sofort hatte Marleen wieder Paulchens begeistertes Gesicht vor Augen, als der Mann mit der Blume seine Stubsnase kitzelte. „Ein bisschen seltsam ist der ja schon, oder kennst du einen Gartenarbeiter, der wie ein Botanik-Professor redet?“
Marleens Vater erhob sich und löste die Bremse des Kinderwagens. „So? Hat er das?“
„Ja, ja.“ Während sie neben dem Wagen herging, musste sie aufpassen, dass sie nicht über die Grasbüschel am Wegesrand stolperte. „Der kennt nicht nur sämtliche lateinischen Pflanzennamen, der weiß sogar, welche Heilwirkung die banalsten Unkräuter haben. Und ein kleiner Anthroposoph scheint auch in ihm zu stecken.“
Ihr Vater stimmte ihr mit einem gutmütigen Zwinkern zu. Doch die Kummerfalten, die sich gleich danach auf seiner Stirn bildeten, zeigten ihr deutlich, dass ihn mit dem Gänseblümchenexperten mehr verband als der Auftrag, den Lebensbaum zu entsorgen.
„Wieso sprichst du diesen Mann eigentlich mit Vornamen an?“
„Ach, das ist eine längere, ziemlich unerfreuliche Geschichte.“ Er lenkte den Kinderwagen auf die kleine Seitenstraße, die zu der Häusergruppe führte, in der Marleen aufgewachsen war. „Bastian Winterstein war einer meiner letzten Mandanten. Seine Gerichtsverhandlung war im vergangenen Februar, also kurz vor meinem Ausscheiden aus der Kanzlei.“ Sein Mund bekam einen bitteren Zug. „Obwohl ich immer noch von seiner Unschuld überzeugt bin, konnte ich ihm mit meinem Plädoyer nicht helfen. Er wurde zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt und hat daraufhin seine Arbeitsstelle verloren.“ Mit sorgenvoller Miene blickte er zu seiner Tochter. „Aber das muss unter uns bleiben, Marleen. Ich verlasse mich auf dich.“
Dieses Versprechen gab sie ihrem Vater nur zu gern. „Und weshalb ist er verurteilt worden?“
Ihr Vater schnaufte genervt. „Das darf ich dir nicht sagen. Du weißt doch, dass ich der Schweigepflicht unterliege.“ Im nächsten Moment schaute er so bekümmert drein, dass Marleen genau spürte, wie nahe ihm dieser Fall ging. „In meiner Laufbahn gab es immer mal Prozesse, die ich nicht zugunsten meines Mandanten beenden konnte. Entweder reichte das Beweismaterial nicht aus oder es fehlten die nötigen Zeugen. Aber Bastians Fall trifft mich ganz besonders. Er hat sich nämlich absolut nichts zuschulden kommen lassen. Dafür würde ich jetzt noch meine Hand ins Feuer legen. Leider konnte ich das dem Richter nicht plausibel machen.“ Ziemlich niedergeschlagen fuhr er fort: „Ich bin im Prinzip dafür verantwortlich, dass er jetzt für einen Hungerlohn bei diesem Gartenbaubetrieb arbeiten muss. Ein Frevel, bei seiner beruflichen Qualifikation!“
Marleen hätte ja zu gern gewusst, was es mit den hoch gepriesenen beruflichen Fähigkeiten dieses Mannes auf sich hatte, aber sie blieb still. Auf keinen Fall wollte sie ihren Vater, der als Anwalt stets sein Bestes gegeben hatte, noch mehr in Bedrängnis bringen.
Als sie sich dem Haus ihrer Eltern näherten, sahen sie schon den Pick-Up mit der Aufschrift des Gartenbauunternehmers vor dem Gartentor stehen.
„Pünktlich wie immer“, murmelte Marleens Vater und beschleunigte seinen Gang. Der Gärtner hatte bereits die Klappe der Ladefläche heruntergelassen und die ersten größeren Äste hinaufgeworfen.
„Hallo, Bastian. Kommst du klar, oder brauchst du Hilfe?“
Mit einer wegwerfenden Handbewegung deutete ihm der Gärtner an, dass er gut allein zurechtkäme. „Kein Problem. In einer halben Stunde bin ich mit dem Grünzeug weg.“
„Prima. Ich schau mal, ob noch Kaffee da ist“, verkündete ihr Vater und ging auf das Haus zu.
Weil die Sonne gerade so herrlich ihren Rücken wärmte, blieb Marleen noch einen Moment mit dem Kinderwagen auf dem Gartenweg stehen und verfolgte bewundernd, mit welcher Leichtigkeit er die wuchtigen Baumscheiben anhob und auf die Ladefläche schleuderte.
Bei einem besonders heftigen Rums schlug Paul die Augen auf und blickte seine Mutter angsterfüllt an. Als es erneut polterte, schrie er so kräftig los, dass Marleen ihn rasch aus dem Wagen nahm und an sich drückte. „Ist ja nichts passiert, mein Schatz. Alles gut“, sagte sie mit beruhigender Stimme und streichelte sanft über seinen grün gemusterten Strampelanzug.
Als Bastian merkte, dass er der Auslöser für das Geschrei war, ließ er den nächsten Holzklotz so leise auf den Laster sinken, dass es nur ein wenig knackte, als er über das dahinterliegende Astwerk rollte. Dann streifte er seine Handschuhe ab und kam mit großen Schritten auf sie zu. Er sah den weinenden Paul nur an, und schon ging das Schluchzen in ein herzerweichendes Luftschnappen über.
„Na, kleiner Laubfrosch!“ Er griff nach dem Händchen, mit dem Paul ziellos in die Luft griff und rieb es sanft. Dann zog er einen kleinen, hölzernen Greifling aus seiner Hosentasche und hielt ihn so, dass er ihn leicht fassen konnte. Kaum hatte er eine Kante davon im Mund, begann er, das Spielzeug konzentriert mit Spucke zu befeuchten.
„Er kann ruhig darauf herumbeißen. Es ist aus pestizidfreiem, geöltem Erlenholz, das nicht fasert.“
Marleen war so überrascht, dass sie kaum wusste, was sie sagen sollte.
„Haben Sie das etwa gebastelt?“
Er lachte schallend. „Sie meinen, weil ich Bastian heiße? Nein, nein, es ist von einem Freund. Er ist Schreiner und hat sich mit diesem naturbelassenen Spielzeug selbstständig gemacht. Einfach bewundernswert, was der alles anbietet! Leider läuft sein Geschäft nicht so gut.“
„Kann ich mir denken. Gutes Holzspielzeug ist viel teurer als der olle Plastikkram. Das Blöde ist nur, dass sich das nicht jeder leisten kann.“ Als Marleen seinen eindringlichen Blick bemerkte, schaute sie rasch zu Paulchen hinab, der höchst zufrieden auf seiner Errungenschaft kaute. „Na, dann bedanke ich mich ganz herzlich im Namen meines Sohnes. Viel zum Spielen hat er mit seinen vier Monaten ja noch nicht.“ Während sie die Kinderwagenbremse löste, warf sie Bastian ein versonnenes Lächeln zu.
„Ich wette, der Ring ist sein Favorit für die nächste Zeit.“
Bastian räusperte sich schmunzelnd und schlüpfte in die Gartenhandschuhe.
„Entschuldigung, aber der Ring soll eigentlich ein Herz sein.“