Kapitel 5
„Gib mir doch mal das arme Kind!“ Franziska streckte ihre Arme nach Paulchen aus, der seine Oma mit dem Holzspielzeug im Mund musterte.
Dankbar reichte Marleen ihr das Baby. Da sie schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen war, fühlte sich das Loch in ihrem Magen mittlerweile wie eine leerstehende Lagerhalle an. Gierig biss sie von dem Marmeladenbrötchen ab, das sie sich eilig geschmiert hatte. Während sie kaute, versuchte sie sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal eine Mahlzeit richtig ausführlich und in Ruhe genossen hatte. Weit vor Paulchens Geburt musste das gewesen sein. Ja, richtig. Als Sven sie zum Italiener eingeladen hatte, um seine neue Arbeitsstelle zu feiern. Beim Gedanken an diesen Abend verdüsterte sich sofort ihr Gesicht. Hatte er ihr da nicht auch freudestrahlend mitgeteilt, auf seiner zukünftigen Baustelle gäbe es so viel zu tun, dass er über einen längeren Zeitraum kaum vor sieben Uhr Feierabend machen könnte? Als sie in diesem Zusammenhang angemerkt hatte, dass zu Hause ja bald noch jemand auf ihn warten würde und sie sich in ihre Mutterrolle erst hineinfinden müsse, war es mit der Harmonie vorbei gewesen. Von der einen auf die andere Minute hatte sich zwischen ihnen eine Mauer aus Verständnislosigkeit und Widerstand aufgebaut, die nur noch eisige, vorwurfsvolle Worte hindurchließ.
„Hast du was, Kind? Du bist so schweigsam.“ Franziska hob mit der babyfreien Hand ihre Kaffeetasse zum Mund und nahm einen Schluck. Als sie dem strafenden Blick ihres Mannes begegnete, ergänzte sie beleidigt in seine Richtung: „Das werde ich unsere Tochter doch noch fragen dürfen.“
Marleen lächelte gequält. „Nein, nein. Alles gut, Mama.“ Sie schluckte schwer an ihrem Bissen, denn gut war momentan eigentlich kaum etwas. Am allerwenigsten ihre Beziehung zu Sven. Doch über dieses Thema zu reden war jetzt das Letzte, was sie wollte, und schon gar nicht mit ihren Eltern. „Ich bin halt nur ein bisschen müde.“
Missmutig schüttelte Franziska den Kopf. „An Schlaf konnte ich diese Nacht auch nicht denken. Die ganze Zeit habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie das mit dir weitergehen soll.“ Sie schuckelte Paul, der das Gesicht verzog und seinen Körper unruhig hin- und herbog. „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wie man sich in deiner Situation so … undiplomatisch verhalten kann. Okay, okay. Sven war dir gegenüber unfair, aber kann es nicht auch sein, dass du ihn in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt hast? Er ist halt auch nur ein Mann.“
„Was soll das denn jetzt heißen, Mama?“
Auch Marleens Vater stöhnte verärgert. „Also bitte, Franziska! Willst du jetzt deiner Tochter die Schuld an dem ganzen Dilemma geben?“
Bevor die Diskussion noch mehr eskalierte, fuhr Marleen genervt dazwischen. „Stopp mal, bitte! Ihr macht euch Gedanken um Dinge, die längst Schnee von gestern sind.“
Franziskas Gesichtszüge hellten sich umgehend auf. „Dann hast du dich also wieder mit Sven vertragen?“
„Nein. Das nicht, aber …“
„… du hast es vor“, vervollständigte ihre Mutter den Satz und nickte einvernehmlich. „Das ist vernünftig, Kind. Als Mutter muss man klug sein und die Zukunft im Blick haben, für sich und das Kind.“ Sie stippte mit einem neckischen Gicksen in Pauls kugeligen Milchbauch. „Dann wirst du dich also mit Sven aussprechen?“
Marleens atmete kaum hörbar aus. Die Energiereserve, die sie notdürftig zusammengeklaubt hatte, entwich durch ihre aufeinandergepressten Zähne wie die Luft aus einem porösen Reifen. Um ihrer Mutter Kontra zu geben, hätte sie in diesem Moment ein Tausendfaches an Kraft gebraucht. Sie schob den Joghurt, auf den sie gerade noch großen Appetit gehabt hatte, zur Mitte des Frühstückstisches zurück.
„Okay, ich werde mich mit Sven treffen.“ Das war noch nicht einmal gelogen, denn sobald Paul geschlafen und getrunken hatte, wollte sie zur Wohnung fahren, um ein paar Sachen zu holen. Schon möglich, dass sie ihn dort antraf. Bei dieser Vorstellung lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wie sehr es ihr vor der nächsten Begegnung mit ihm graute, konnte sie gar nicht beschreiben.
„Könnte ich nachher vielleicht kurz euer Auto haben? Paul braucht dringend frische Windeln, und nach dem Einkaufen wollte ich noch schnell zur Wohnung fahren und ein paar Anziehsachen für Paul holen.“
Ihr Vater nickte mit einem milden Lächeln. „Ja, ja, fahr nur! Wir brauchen den Wagen erst heute Abend wieder. Ich suche gleich mal nach dem Kindersitz, den uns die junge Nachbarsfamilie kurz vor ihrem Umzug im Januar überlassen hat. Ich weiß nicht, mit was die ihren Sprössling gefüttert haben.“ Er spreizte seine Arme leicht vom Körper ab und füllte seine Wangen mit Luft. „So ein richtiger kleiner Buddha war das. Als Halbjähriger brauchte er schon die übernächste Sitzgröße.“ Nach kurzem Überlegen hellten sich seine Gesichtszüge auf. „Jetzt weiß ich auch wieder, wo ich ihn verstaut habe. Er müsste in einer Schutzfolie im oberen Fach des Garagenregals liegen.“ Sofort machte er sich auf den Weg nach draußen.
Während Marleen den inzwischen anhaltend quengelnden Paul ausgehändigt bekam und an die Brust legte, begann ihre Mutter, den Tisch abzuräumen. Dabei äugte sie mit skeptischer Miene zu ihrer Tochter.
„Wäre es nicht besser, Paul einfach hierzulassen, wenn du dich gleich mit Sven triffst? Dieses ständige Hin und Her ist doch nichts für ein Kind in dem Alter. Es wird dadurch nur unnötig aufgedreht und schläft schlecht. So ein kleiner Kopf muss doch noch gar nicht alles mitbekommen. Vor allem nicht, wenn sich die Eltern mal ganz entspannt unterhalten wollen.“ Beseelt von ihrem eigenen Vorschlag ließ sie sich erneut am Tisch nieder. „Du hast bestimmt schon mal abgepumpt. Lass mir doch einfach ein Fläschchen Muttermilch hier. Für alle Fälle, falls sich Paulchen nicht mehr anders beruhigen lässt.“
Marleen versuchte, nicht allzu deutlich durchscheinen zu lassen, wie schwer es ihr immer noch fiel, Paul eine Zeit lang wegzugeben. Außerdem hasste sie die Prozedur des Abpumpens so sehr, dass sie sich bisher nur für Notfälle dazu durchringen konnte.
„Hm. Ich weiß nicht, ob das schon so gut ist.“
Zwei Gründe jagten ihr in diesem Moment durch den Kopf. Zum einen hatte sie ihren kleinen Sohn bisher nie länger als eine halbe Stunde in andere Hände gegeben, und dann höchstens in die ihrer besten Freundin. Das hatte nicht unbedingt damit zu tun, dass sie ihren Stillrhythmus einhalten wollte. Paul kam schon eine ganze Weile ohne zu trinken aus, vorausgesetzt, man beschäftigte sich intensiv mit ihm. Es lag eher an ihr selbst. Sie schaffte es einfach noch nicht, ihr Baby für längere Zeit wegzugeben. Ob sie es wollte oder nicht, sobald sie Paulchen nicht roch, hörte oder sah, erfasste sie eine panikartige Unruhe. Es fühlte sich an, als würde sie ihn im Stich lassen, ihn möglicherweise nie wiedersehen. Dieses Gefühl blieb nicht einmal aus, wenn Sven sich um ihn kümmerte.
Der andere Grund war das uneinsichtige Verhalten ihrer Mutter. Obwohl sie gerade erst die Sechzig überschritten hatte, war sie ein eingefleischter Verfechter der alten Linie und konservativ bis in die Gummilitzen ihrer Unterwäsche. Nicht einmal die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den letzten zwanzig Jahren über gesunde Ernährung und Kindererziehung ließ sie gelten. Es veranlasste sie höchstens, ihr Lieblingsargument anzubringen, dem sie stets ein spöttisches Lachen voranschickte.
„Bleib mir weg mit der modernen Wissenschaft! Ich sag da nur: Spinat! Jahrelang galt er als der Eisenspender schlechthin, und am Ende war alles Humbug, weil man festgestellt hat, dass sich diese akademischen Schlaumeier verrechnet hatten.“
Marleen bedachte ihre Mutter mit einem müden Lächeln.
„Ach, Mama! Lass mir einfach noch ein bisschen Zeit! Ich glaube, Paulchen ist noch nicht soweit.“ Jetzt fing sie auch schon mit diesem sentimentalen Mutter-Kind-Gefasel an, das sie bei anderen gleichaltrigen Müttern so störte. Warum redete sie nur ständig um den heißen Brei herum, anstatt deutlich zu formulieren, was ihr für den Umgang mit Paulchen wichtig war? Warum bat sie ihre Mutter nicht einfach, die von ihr aufgestellten Regeln einzuhalten? Erziehung ist schließlich Sache der Eltern!
Marleens Zögern gefiel Franziska gar nicht.
„Mal ganz ehrlich, Kind. Wie willst du denn auf Sven einwirken, wenn Paulchen ständig auf deinem Arm quengelt und trinken will? So eine wichtige Aussprache kann man doch nicht zwischen Brust und Windelwechsel führen. Dafür braucht man Ruhe und die passende Atmosphäre.“ Sie zwinkerte ihrer Tochter zu. „Du weißt schon, mal was Besonderes auf den Tisch, ein romantisches Gläschen Wein dazu und vor allem raus aus diesen Alltagsklamotten.“ Ihr Blick glitt über das schlichte T-Shirt, das vermutlich von Sven stammte, hinab zu den ausgebeulten Jeans, die am Körper ihrer Tochter wie ein zweigeteilter Einkaufsbeutel saß. „Sollst mal sehen, das wirkt bei Männern Wunder.“
Franziska war merklich zufrieden mit ihrer Ausführung. Über die Jahre hatte sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich Männer leicht manipulieren ließen. Warum sollte ihrer Tochter das nicht auch gelingen? Man musste halt nur das Strickmuster erfassen, das dem männlichen Handeln zugrunde liegt. Da es überwiegend aus Luftmaschen bestand, war es doch ziemlich simpel, sie in die gewünschte Richtung zu lenken! Und was Kinder anging, hatte Franziska auch ihre feste Meinung. Die Kleinen mussten nicht ständig die Hauptrolle spielen und überall dabei sein. Schon gar nicht, wenn es darum ging, den elterlichen Kahn wieder ins rechte Fahrwasser zu bringen.
„Was soll denn schon passieren, Kind? Du stillst ihn ordentlich, bevor du fährst, und um den Rest kümmern Papa und ich uns schon. Ist ja nicht so, als hätten wir noch nie ein Baby aufgezogen.“
Marleens Unsicherheit war damit noch lange nicht verflogen.
„Na gut. Dann gehe ich hoch und pumpe etwas für den Notfall ab.“ Mit einem unguten Gefühl stieg sie mit Paulchen auf dem Arm die Treppe zu ihrem ehemaligen Kinderzimmer empor.
Dort machte sie es sich auf dem Sessel am Fenster bequem und legte Paul zum Stillen zurecht. Als er endlich die Augen schloss und trank, griff sie zum Handy und überlegte konzentriert, was sie schreiben sollte.
Hi, Sven. Bis du gleich zu Hause? Ich muss etwas mit dir bereden.
Keine zwei Minute später erkannte sie am Aufleuchten des Displays, dass eine Nachricht eingetroffen war.
Okay, komm vorbei, wenn du das unbedingt brauchst. Aber eigentlich ist doch alles gesagt.
Hatte sie wirklich erwartet, er würde wehmütig zu Hause sitzen und auf sie warten? Sie seufzte tief. Vermisste er seinen Sohn denn überhaupt nicht?
Eine knappe Stunde später erschien sie mit dem frisch gewickelten und schläfrig wirkenden Paul in der Küche und überreichte ihrer Mutter das halbvolle Milchfläschchen. Bedauernd betrachtete sie den Inhalt.
„Mehr ging nicht. Paulchen hat sich aber ordentlich satt getrunken. Eigentlich müsste er jetzt mindestens zwei Stunden schlafen. Ich lege ihn in den Kinderwagen. Da gibt er bestimmt gleich Ruhe.“
Franziska griff mit einem souveränen Lächeln zum Schiebegriff und begann, ihren schläfrigen Enkel zu schuckeln. „Lass mich mal machen! Wenn er sich nicht beruhigt, machen wir mit ihm eine Runde ums Haus.“
Um sich den Abschied nicht noch schwerer zu machen, schenkte Marleen ihrem Sohn ein letztes wehmütiges Lächeln und verschwand nach einem kurzen Gruß an ihre Mutter nach draußen.
Ihr Vater hatte das Auto bereits auf den Vorplatz gefahren und den Kindersitz montiert.
„Hier sind die Papiere.“ Er reichte Marleen das kleine Mäppchen. „Und was ist mit dem Kind?“
„Sorry, Papa, aber ich werde Paul gar nicht mitnehmen. Da ich höchstens eine Stunde unterwegs bin, hat Mama vorgeschlagen, ihn bei euch zu lassen.“
„Ja, ja. Das ist schon gut so.“
Marleen merkte an den Falten auf seiner Stirn, dass ihn etwas beschäftigte.
„Du fährst doch nicht nur einkaufen, sondern auch zu eurer Wohnung, nicht wahr?“
„Ja, ich will nach der Post sehen und noch ein paar Kindersachen mitnehmen.“
„Falls du Sven dort antriffst, solltest du ihn tunlichst auf das Thema Unterhalt ansprechen.“ Sein Blick wurde etwas milder. „Ich kann mir vorstellen, dass dir das zurzeit nicht leicht fällt, Marleen, aber als leiblicher Vater ist er nun mal verpflichtet, dir den entsprechenden Einkommensanteil abzutreten. Dieses Geld steht dir und Paul zu.“
Marleen sah zu Boden und schluckte. „Hm. Klar. Du hast ja recht, Papa. Ich werde ihn darauf ansprechen“, ergänzte sie leise.
Merklich zufriedener öffnete er ihr die Fahrertür. „Falls er sich wider Erwarten querstellt, solltest du ruhig mal durchblicken lassen, dass sich dein Vater bestens mit dem Unterhaltsrecht auskennt.“
Marleen, die bereits den Motor gestartet hatte, nickte ihm durch das geöffnete Seitenfenster zu.
„Danke, Papa, ich schaffe das schon. Sei mir nicht böse, aber ich muss los. Samstags ist in den Geschäften so viel los. Wenn ich pünktlich zurück sein will, muss ich mich beeilen. Außerdem hat mir Sven geschrieben, dass er gerade zu Hause ist. Wäre doch blöd, wenn ich ihn verpasse.“
Als sie wenig später vor dem verschachtelten Mehrfamilienhaus parkte, sah sie sich verwundert um. Hatte Sven seinen Wagen in einer Seitenstraße geparkt? Eigentlich komisch, denn in ihrer Reihe gab es mindestens noch vier freie Plätze.
Ihr Magen verkrampfte sich mit jeder Stufe, die zur Wohnung hinaufführte, mehr. Beim Öffnen der Wohnungstür horchte sie angestrengt nach vertrauten Geräuschen. Dass sie gerade nichts hörte, war nicht ungewöhnlich, denn Sven sah sich samstagvormittags oft mit Kopfhörern Sportübertragungen aus den USA an. Oder er schlief noch, weil der Kneipenabend mit seinen Fußballfreunden mal wieder bis in die Morgenstunden gegangen war.
Schon als Marleen den Flur entlang zum Wohnzimmer ging, kam ihr etwas komisch vor. Normalerweise flogen zig Paar Arbeits- und Sportschuhe unter der Garderobe herum. Wenigstens seine heißgeliebten Sneakers hätte sie dort erwartet. Doch der Flur wirkte regelrecht leergefegt. Marleen musste schmunzeln. Hatte Sven etwa aus schlechtem Gewissen heraus aufgeräumt?
Voller freudiger Erwartungen riss sie die Wohnzimmertür auf und erstarrte. Was sollte das denn jetzt? Wo war das eine der beiden Doppelsofas geblieben? Und das Board mit den Musikboxen und dem Fernseher?
„Sven? Bist du da?“, rief sie halb erstickt zur offenen Tür der Küche hinüber. Als sie keine Antwort erhielt, eilte sie mit einer düsteren Vorahnung zum Schlafzimmer. Im Türrahmen angekommen sackte ihr Unterkiefer abwärts. Bis auf einen riesigen Wäscheberg und ihre alte Weidenkorbtruhe unter dem Fenster gähnte ihr Leere entgegen. Kein Kleiderschrank, kein Bett, kein Riesenposter mehr mit dem Surfer auf der Monsterwelle! Marleens Absätze hämmerten hölzern auf dem hellen Laminatboden, als sie auf den Wäscheberg zuging. Wenigstens hatte er ihre Kleidungsstücke einigermaßen ordentlich aufeinandergelegt, stellte sie mit einem brennenden Kloß in der Kehle fest.
Auf dem Weg zum Kinderzimmer liefen ihr die ersten Tränen an den Wangen hinab. Der Anblick des grünen Gitterbetts und der Wickelkommode, die wie ausgesetzte Geschwister an der Wand mit der Tiertapete standen, gab ihr den Rest. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte haltlos mit bebendem Oberkörper. Sven hatte also hinter ihrem Rücken das Weite gesucht. Von Sekunde zu Sekunde rückte ihr die Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses stärker ins Bewusstsein. Nach einer Weile hob sie den Kopf, ging langsam zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die vordere Kante des Sofas, das er ihr überlassen hatte. Marleen atmete tief durch. Dabei fiel ihr Blick auf den Bogen Papier, der nebenan auf dem dunklen Rattan-Tischchen lag. Sie erkannte am Kopf des Schreibens, dass er vom Wohnungsvermieter kam. Beim Lesen zitterten ihre Hände.
Sehr geehrte Frau Meister, sehr geehrter Herr Manteufel,
leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Wohneinheit 23 im zweiten Obergeschoss meiner Wohnanlage wegen Eigenbedarfs zum Ersten des kommenden Quartals von Ihnen geräumt werden muss. Über das Erstatten der von Ihnen gezahlten Kaution in Höhe von 736 Euro entscheidet der Zustand bei Endbesichtigung.
Mit freundlichen Grüßen
Paul Huber
Wohnungseigner
Marleen schüttelte fassungslos den Kopf. Sven war einfach so ausgezogen, ohne ihr ein Sterbenswörtchen zu sagen! Damit war ihr gemeinsamer Lebenspakt also beendet. Oder sollte sie lieber gekündigt sagen? In ihrem Kopf flogen plötzlich die Kündigungen wie Trümmerteile nach einem Bombenangriff umher. Je mehr sie sich zur Besinnung zwang, desto lauter polterten sie gegen ihre Schädeldecke. Mit aller Kraft versuchte sie sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Konnte man einen Mieter denn einfach so vor die Tür setzen, vor allem, wenn gerade ein Baby angekommen war? Sobald sie wieder bei ihren Eltern war, würde sie ihren Vater danach fragen. Er wusste unter Garantie, welche Paragraphen dafürsprachen, dass der Vermieter unrechtmäßig gehandelt hatte. Also wirklich! Wie konnte dieser Mensch so herzlos sein und einer jungen Familie das Dach über dem Kopf wegziehen? Bei jedem erneuten Überfliegen der Zeilen regte sich Marleen mehr auf. Sie schreckte erst aus ihrem künstlich aufgebauschten Wutgespinst auf, als ihr das Datum unter dem Schriftsatz ins Auge sprang. Der Brief stammte vom Ende des ersten Jahresquartals. Schlagartig sackte ihr Unterkiefer abwärts. Sven hatte ihn also schon vor drei Monaten erhalten. Aber warum hatte er die Sache so lange vor ihr verheimlicht? Sie nickte versonnen in sich hinein. Sicherlich, weil er sie vor der Aufregung schützen und heimlich nach einer neuen Bleibe suchen wollte. Die Entbindung lag da ja erst zwei Wochen zurück. Genau. Deshalb war er auch nach Feierabend so oft unterwegs gewesen. Marleen lächelte verträumt. Irgendwie war das doch auch lieb von ihm. Einige Augenblicke verharrten ihre Gedanken bei dieser Möglichkeit. Dann schüttelte sie entsetzt über ihre dümmliche Ignoranz den Kopf.
„Spinnst du eigentlich, Marleen? Das ist doch alles gequirlter Mist! Wie oft willst du dir die Beziehung zu diesem Mann noch schönreden?“ Mit rot geweinten Augen blickte sie in die Ferne. Sven hatte kein Interesse mehr an ihr und auch nicht an seinem niedlichen, kleinen Sohn. Das hätte sie schon kapieren müssen, als sie hinter den verheimlichten Arbeitsplatzverlust und sein Verhältnis zu dieser Janni gekommen war. Aber selbst da war sie noch zu blauäugig gewesen, um der Realität ins Auge zu sehen. Jetzt war ihr auch klar, warum er darauf beharrte, dass sie zu ihren Eltern ziehen sollte.
Doch damit war jetzt endgültig Schluss! Sie streckte abrupt ihren Rücken und wischte mit den Handrücken die Tränen von den Wangen. Die Zeit war reif, den Kopf endlich aus dem Kinderspielsand zu ziehen und nach vorn zu schauen.
Nachdem sie einen Blick auf die Uhrzeit ihres Handys geworfen hatte, eilte sie von Zimmer zu Zimmer und schrieb auf einen Zettel, welche Möbelstücke ihr Sven überlassen hatte, was sie davon überhaupt behalten wollte und was auf den Sperrmüll kam. Plötzlich hielt sie inne und zog noch einmal das Schreiben des Vermieters aus der Tasche. Wann und wie musste die Wohnung eigentlich übergeben werden? Okay, besenrein. Das würde kein Problem sein. Als sie jedoch das Datum erblickte, sackte sie stöhnend zusammen. Bis Freitag, den 30. Juni! Also blieben ihr gerade mal drei Tage zum Ausräumen.
Sie nahm erneut ihr Handy zur Hand und rief Klaras Adresse auf.
Hi, Klärchen. Kann ich kurz vorbeikommen? Es ist dringend. Ein entsetzt schauender Smiley beendete die Nachricht.
Auf die Antwort brauchte sie nicht lange zu warten.
Klar. Gib mir eine Viertelstunde. Stehe grad an der Kasse im Supermarkt . Was ist denn bloß passiert?
Marleen sendete ihr als Antwort eine Bombe, einen Blitz und den traurigsten Smiley, den sie im Sortiment finden konnte. Dann machte sie sich daran, die Sachen aus der Kinderzimmerkommode in eine große Einkaufstüte vom Möbelhaus zu stopfen. Die Kleidungsstücke aus dem Schlafzimmerschrank musste sie mit aller Kraft in den Koffer pressen, den sie zwischen dem unnützen Kram im Kellerverschlag gefunden hatte. Bei ihrem Gang ins Kellergeschoss hatte Marleen auch gleich einen Blick in den Wäscheraum geworfen. Mit einem schadenfrohen Aufatmen registrierte sie, dass Sven bei seinem Auszug die Waschmaschine übersehen hatte, die sie noch kurz vor Paulchens Geburt angeschafft hatten.
Wenig später schleppte Marleen den Koffer, die Kindersachentüte und zwei große Kartons mit Bad- und Küchenutensilien zum Auto und machte sich auf den Weg zu Klara.
Von ihr wurde sie schon im Treppenhaus mit weit aufgerissenen Augen empfangen.
„Wo hast du denn Paulchen gelassen? Doch hoffentlich nicht bei Sven!“
Marleen winkte ab.
„Nein, nein, keine Sorge. Meine Mutter kümmert sich um ihn.“
Klaras Augenbrauen sausten erneut in die Höhe.
„Was? Du hast mir doch letztens noch wutentbrannt erklärt, dass sie die Allerletzte wäre, der du dein Kind anvertrauen würdest. Sagtest du nicht, sie sei die Cruella De Vil deiner Kindheit gewesen?“
Marleen ließ sich seufzend auf das Sofa im Wohnzimmer sinken.
„Ja, ja. Aber das ist ehrlich gesagt zurzeit mein kleinstes Problem.“
„Oh, nee! Sag jetzt nicht, dass dein Vater wieder einen Herzanfall hatte?“, mutmaßte Klara.
„Nein, nein, dem fehlt nichts.“ Marleen schaute hinab zu ihren Füßen und atmete gut vernehmbar durch.
„Aber Sven hat sich aus dem Staub gemacht.“
Klaras Mund ging auf und zu, aber heraus kam nichts. Stattdessen schüttelte sie fassungslos den Kopf.
„Wie jetzt? Er ist untergetaucht? Hat er etwas ausgefressen?“
Marleen zog die Mundwinkel hoch und schnaufte hämisch.
„Das kann man wohl sagen. Er weiß seit drei Monaten, dass wir wegen Eigenbedarfs des Vermieters aus unserer Wohnung raus müssen, und hat mir gegenüber kein Sterbenswörtchen verloren.“ Nach einer Pause, in der Klara in der Weite des Zimmers nach einer Erklärung suchte, fügte sie hinzu: „Nachdem ich zu meinen Eltern gezogen bin, hat er einfach sein ganzes Zeug und die Hälfte der Möbel aus der Wohnung geholt und ist verschwunden. Wohin, weiß ich nicht. Kein Wort. Keine Nachricht. Nichts. Ich hab null Ahnung, wie er sich das in Zukunft vorstellt. Vor allem in Bezug auf seinen Sohn. Der ist doch völlig durchgeknallt, oder?“
Klara war so perplex, dass sie nur noch stotternd sprechen konnte.
„Das ist … das ist wirklich krank.“ Nach einigen Sekunden, in denen sie beide schweigend nachdachten, begann sie leicht hysterisch zu lachen. „Er hat sein … sein ganzes Zeug mitgenommen? Heißt das, eure Wohnung ist jetzt leer? Alles weg? Die ganzen Möbel und so?“
Als Marleen wortlos nickte, stieß sie einen langgezogenen Pfeifton aus.
„Dann hast du nichts mehr? Nicht einmal … ein Bett?“
„Na ja, das klingt jetzt dramatischer als es ist. Ein paar Teile der Einrichtung gehören ja sowieso mir, und dann habe ich auch noch ein paar Möbel bei meinen Eltern.“ Sie setzte sich auf und sah Klara ernst an. „Deshalb bin ich auch hergekommen. Soviel ich weiß, habt ihr doch noch euren alten VW-Bus. Vielleicht könntet ihr mir den zum Ausräumen der Wohnung leihen. Sie muss in zwei Tagen leer sein. Am Freitag ist der Übergabetermin.“ Sie blickte Klara so flehend an, dass ihre Freundin sofort zu ihr heranrutschte und lächelnd ihre Hände nahm.
„Natürlich kannst du den haben, und wir werden dir selbstverständlich helfen. Das ist doch klar. Du kannst auch gern in unser Gästezimmer ziehen, wenn es dir bei deinen Eltern zu viel wird.“ Als Klara merkte, dass sich Marleens Augen mit Tränen der Rührung füllten, streichelte sie mit gespitztem Mund ihre Wange. „Och, Süße. Wie du siehst, bist du nicht allein! Zusammen haben wir bisher doch alles Mögliche geschafft, oder?“
Weil ihre Stimme gerade versagte, drückte Marleen dankbar die Hände ihrer Freundin.
„Können wir uns dann am Donnerstag so gegen fünf an der Wohnung treffen? Paul lasse ich dann noch mal bei meiner Mutter.“ Dem verbitterten Zug um den Mund konnte man deutlich entnehmen, wie sehr sie diese Lösung verabscheute. „Eigentlich sollte ihr heutiger Babysitter-Einsatz eine Ausnahme sein.“ Mit matter Stimme erklärte sie weiter: „Ich stille doch noch komplett, und durch das Abpumpen kommt mein Körper völlig aus dem Takt. Außerdem reagiert Paulchen auf Mahlzeiten aus der Flasche ziemlich verstört. Als ob er Angst hätte, nie wieder bei mir trinken zu dürfen.“
Klara musterte sie verständnislos.
„Aber warum? Deine Mutter kann ja noch so viele Macken haben, aber sie weiß doch, wie man mit Babys umgeht.“
Marleen schnaubte resigniert.
„Es mag ja schlimm klingen, aber bei ihr bin ich mir gar nicht so sicher.“ Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, der sie erschreckt auf die Uhr schauen ließ.
„Mein Gott! So spät schon! Ich muss los. Wenn Paul Hunger hat und keine Milch mehr im Fläschchen ist, brüllt er bis zur Bewusstlosigkeit. Mach's gut, und grüß Maik bitte von mir. Wir sehen uns am Donnerstag um fünf.“ Sie nahm ihre Freundin, die sich ebenfalls erhoben hatte, in die Arme und verabschiedete sich rasch. Zehn Minuten später parkte sie den Wagen ihres Vaters auf dem Abstellplatz vor der Garage und eilte zum Haus ihrer Eltern. Beim Aufschließen der Eingangstür hörte sie sich verwundert um. Als sie in der Diele die Schuhe auszog, drang kein Geräusch zu ihr durch, aus dem sie hätte schließen können, dass ihr kleiner Sohn in höchster Not war. Mit dem beruhigenden Gedanken, dass ihre Eltern vermutlich gerade einen Spaziergang mit dem schlafenden Baby machten, öffnete sie die Wohnzimmertür. Das Erste, was ihr ins Auge sprang, war der Kinderwagen neben dem Sessel, in dem ihr Vater saß und die Zeitung las. Seine linke Hand umfasste dabei den Schiebegriff, über den er das schlafende Kind im Wagen schuckelte.
„Hallo, Papa“, flüsterte sie ihm mit erleichterter Miene zu.
Marleens Vater lächelte über den Rand seiner Brille. „Hallo, Marleen. Hast du alles erledigen können?“
Gerade, als Marleen antworten wollte, erschien Franziska mit umgebundener Schürze in der Tür zur Küche. Auf leisen Sohlen gesellte sie sich zu ihnen und lugte über den Rand des Wagenkorbes. „Endlich ist deine Mama wieder da!“, flüsterte sie ihrem Enkel zu.
„Tut mir leid, Mama, dass es so spät geworden ist.“ Marleen betrachtete erstaunt das schlafende Kind.
„Ihr scheint ja gut mit ihm fertig geworden zu sein. Ich hatte schon Sorge, er würde sich seit einer Stunde die Seele aus dem Leib schreien.“
Ihre Mutter machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Ach, das brauchst du doch nicht. Ein Säugling ist ja schließlich keine Wissenschaft. Da wechselt man halt die Windel oder geht ein bisschen an die frische Luft, und schon ist alles wieder im Lot“, erklärte sie, als ob es nichts Leichteres auf der Welt gäbe, als die Nöte eines Babys zu beheben.
Marleen blieb dennoch skeptisch. Schließlich kannte sie nicht nur die Eigenarten ihres Sohns, sondern auch die ihrer Mutter.
„Und vorher hat er ohne Theater seine Flasche leer getrunken?“
„Ja, ja, das ging schon“, meinte Franziska ein wenig zögernd. „Und irgendwann ist er dann eingeschlafen, nicht wahr, Wolfgang?“ Sie warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu.
Marleens Vater schaute über seine Brille und nickte mit einem undeutlichen Brummen.
„Na, dann bin ich ja froh“, erwiderte Marleen und ließ sich erleichtert auf der Couch nieder. Erst jetzt merkte sie, wie ausgehungert sie war.
„Ich mache mir in der Küche rasch etwas zu essen.“
„Ja, tu das. Da ist noch Eintopf auf dem Herd. Davon kannst du dir gern etwas nehmen. Der müsste sogar noch warm sein.“
Während Marleen in der Küche einen Teller mit Suppe füllte, wanderte ihr Blick zur Ablage neben dem Kühlschrank. War das nicht Pauls Flasche? Sofort griff sie danach und betrachtete einen Moment lang die klare Flüssigkeit darin. Mit unguter Vorahnung nahm sie einen Schluck und spuckte ihn umgehend ins Spülbecken.
„Also doch. Fencheltee mit Honig! Als ob ich es nicht geahnt hätte.“ Mit einem energischen Ruck öffnete sie den Verschluss und goss den Teerest in den Ausguss. Die ernüchternde Entdeckung hatte ihren Appetit schlagartig verschwinden lassen. Trotzdem setzte sie sich an den Küchentisch und löffelte die Suppe in sich hinein. Zum Teufel damit, aber wegen des Stillens musste sie halt etwas essen. Mit jedem Löffel wuchs der Zorn auf ihre Mutter. Hatte sie ihr nicht am Vorabend noch ausdrücklich gesagt, wie wichtig es ihr sei, Paul bis zum Ende seines ersten Lebenshalbjahres nur mit Muttermilch zu ernähren? Ausschließlich mit Muttermilch! Lang und breit hatte sie ihr erklärt, dass ein Brustkind in dieser Zeit nichts anderes braucht. Keinen Saft, keinen Brei, nicht einmal Wasser … und erst recht keinen Fencheltee, der auch noch mit Honig gesüßt war! Hatte sie ihr nicht gestern erst erklärt, wie schädlich Honig für Kleinkinder ist?
Und jetzt das! Wütend und enttäuscht starrte sie auf die leere Flasche auf der Spülablage. Dann erreichten sie die ersten Zweifel. Was machte sie eigentlich so sicher, dass Paul wirklich davon getrunken hatte? Vielleicht mochte er das klebrige Zeug ja gar nicht. Oder es sollte nur als Notlösung dienen, falls er nicht mehr aufhören würde zu schreien. Hätte sie das an ihrer Mutters Stelle nicht genauso gemacht? Sie stöhnte leise über das ständig wechselnde Für und Wider in ihrem Kopf.
Die Tür ging auf und Franziskas Antlitz erschien im Türrahmen.
„Ist was mit dir, oder warum isst du hier in der Küche?“
Marleen seufzte schwer und schüttelte ohne aufzuschauen den Kopf. Kaum hatte sie den Teller geleert, hörte sie auch schon Paulchens durchdringendes Quengeln.
„Sei mir nicht böse, wenn ich ihn jetzt mit auf mein Zimmer nehme. Ihr braucht ja auch mal Ruhe, und nach dem Stillen wollte ich ihn sowieso baden.“ Dass sie es war, die in diesem Moment Ruhe und Abstand brauchte, behielt sie lieber für sich.
Franziska wirkte ein wenig beleidigt. „Wenn du meinst, Kind.“
Marleen ging ins Wohnzimmer und hob Paul, dessen Gesicht sich beim Anblick seiner Mutter sofort entspannte, aus dem Wagen und wandte sich ihrem Vater zu.
„Papa, meinst du, ich könnte morgen Nachmittag noch einmal euren Wagen benutzen? Ich muss nämlich unsere Wohnung ausräumen, und dafür ist der Kombi genau richtig.“
Ihr Vater ließ die Hände mit der Zeitung abrupt auf die Beine sinken.
„Die Wohnung ausräumen? Du hast gar nichts davon erwähnt, dass ihr wegzieht.“
„Wir ziehen auch nicht weg, Papa. Der Vermieter hat uns gekündigt, weil er die Wohnung für sich braucht. Das Blöde ist nur, dass ich erst vor drei Stunden erfahren habe, dass wir die Kündigung schon Ende März erhalten haben. Und … dass wir in zwei Tagen ausgezogen sein müssen.“ Sie schnaufte mit hochgezogenen Mundwinkeln. „Sven hielt es anscheinend nicht für nötig, mich vorher davon in Kenntnis zu setzen.“
Die Falten auf der Stirn ihres Vaters wurden immer tiefer.
„Na, der muss ja ganz schön neben der Spur sein, wenn er dir so etwas verschweigt. Wollte er dich damit nur ärgern, oder hatte er einen plausiblen Grund?“
„Wenn ich das wüsste“, erwiderte Marleen kleinlaut und schuckelte Paul.
Nach einer kurzen Pause kam er noch einmal auf die Bitte seiner Tochter zurück.
„Nochmal zum Auto: Natürlich kannst du es nehmen. Aber denk bitte daran, dass Mama und ich morgen Abend zum Konzert wollen. Später als halb acht sollte es also nicht werden.“
„Keine Sorge, Papa. Ich bin pünktlich zurück.“
In diesem Moment betrat ihre Mutter das Zimmer.
„Stell dir vor, Sven und Marleen wurde die Wohnung gekündigt“, unterrichtete Wolfgang sie sofort.
Franziskas Unterkiefer sackte abwärts.
„Nein!“
Marleen sah ihr deutlich an, wie viel Mühe es ihr machte, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Aber ich dachte, du bist für ein paar Tage zu uns gekommen, weil ihr euch gestritten habt.“
Auf seine typisch knappe, juristisch geprägte Weise erklärte Wolfgang ihr den wahren Grund. Als er zu der Sache mit der verheimlichten Wohnungskündigung kam, war Franziska mit ihrem Latein am Ende.
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sven das Schreiben vom Vermieter einfach nur verbummelt hat. Vielleicht, weil er beruflich so viel um die Ohren hat. Warum sollte er sonst vergessen, Marleen Bescheid zu sagen?“ Mit einem vorwurfsvollen Blick drehte sie sich zu ihrer Tochter. „Du bist doch jetzt seit vier Monaten zu Hause. Guckst du denn da nicht regelmäßig nach der Post?“
Marleen starrte fassungslos zu ihr hinüber. Natürlich! Wie konnte es auch anders sein! Sven war in ihren Augen immer der Gute und sie diejenige, die alles kaputtmachte. Ihre Mutter würde ihn sogar noch in Schutz nehmen, wenn er ihren Enkel zur Adoption freigäbe.
„Schon, aber manchmal bringt Sven auch die Post mit, wenn er im Keller war oder so.“
Maßlos enttäuscht drückte sie ihr Gesicht an Pauls Nacken und atmete tief ein. Der Duft des warmen Babykörpers half ihr, die Zornestränen zurückzuhalten, die in ihren Augen brannten. Konnte oder wollte ihre Mutter nicht anders, als ihr immer wieder wehzutun?
Mit einem Gefühl der Verachtung eilte sie mit Paul aus dem Zimmer. Mit jedem Schritt hinauf zu ihrem Zimmer wurde ein Gedanke in ihrem Kopf deutlicher: Wenn sie ihre Wünsche ans Leben, ihre Ideale und Glücksvorstellungen retten wollte, musste sie weg von diesem Ort. Weg aus der spießigen, kleinbürgerlichen Enge und vor allem weg aus der zerstörerischen Umklammerung ihrer Mutter. Wenn sie nur eine Idee hätte, wo sie mit Paul für eine Weile unterkommen könnte …