Kapitel 6
Nach den Ereignissen des vergangenen Abends hatte sich Marleen eigentlich geschworen, ihren Sohn nie wieder ihrer Mutter zu überlassen, doch wie sollte sie Klara und Maik beim Heraustragen und Verladen helfen, wenn Paul ausgerechnet dann nicht schlafen, sondern beschäftigt werden wollte? Also rang sie sich am selben Abend noch dazu durch, über die Nacht im Stundenrhythmus kleine Mengen Milch abzupumpen. Für die Wohnungsräumung hatte sie genau achtundvierzig Stunden Zeit. Da konnte sie sich beim besten Willen nicht auch noch um Paul kümmern, so leid es ihr tat. Den dringend benötigten Schlaf musste sie halt irgendwann später nachholen.
„Dieses eine Mal noch“, murmelte sie und hauchte ihrem Sohn, der mit hochgestreckten Ärmchen auf dem Kopfende ihres Bettes schlief, einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.
Am frühen Morgen, als seine Schlafphase langsam dem Ende zuging, leerte sie sämtliche Kartons, Koffer und Taschen aus, die sie aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. Die würde sie beim Ausräumen dringend als Transportmittel für die kleineren Utensilien brauchen. Den restlichen Vormittag verbrachte sie damit, Paul zu versorgen und ihn mit Spielzeugen und Turnübungen bei Laune zu halten. Als ihr dabei der herzförmige Holzgreifring in die Finger fiel, musste sie an die Szene mit dem Gartenpfleger denken. Mit einem merkwürdigen Vibrieren in der Magengegend erinnerte sie sich an das warmherzige Lächeln, mit dem er Paulchen das Spielzeug aushändigt hatte. Schon seltsam, wie angetan ihr kleiner Sohn von diesem fremden Mann war!
Gegen eins klopfte ihre Mutter an die Tür.
„Kommst du zum Essen? Ich habe deinen Lieblingsnudelauflauf gemacht.“ Ihr Blick huschte über die unordentlich aufgetürmten Wäscheberge neben der Bettcouch.
„Ja, ich komme gleich runter.“ Seit ihrer Pubertät war sie kein Fan mehr von Nudelaufläufen, aber irgendwann hatte sie es aufgegeben, mit ihrer Mutter darüber zu diskutieren.
„Wo soll dieses Durcheinander nur hinführen?“
Marleen rollte mir den Augen.
„Ach, Mama! Lass das doch einfach meine Sorge sein.“
Wenig später ging sie nach unten, legte Paul unter seinen Spielzeugbogen auf dem Wohnzimmerteppich und setzte sich zu ihren Eltern an den Esstisch. Als sie nach dem ersten Bissen den erwartungsvollen Blick ihrer Mutter bemerkte, lobte sie kurz das Essen und aß dann schweigend zu Ende. 
„Ich werde Paul gleich noch einmal stillen. Sobald er satt ist, gehe ich eine Runde ums Haus, damit er einschläft. Dann stelle ich den Kinderwagen auf die Terrasse und mache mich auf den Weg zur Wohnung, wenn euch das recht ist. Da draußen müsste er eigentlich noch eine ganze Weile weiterschlafen.“
Franziska machte ein zuversichtliches Gesicht.
„Mach dir keine Gedanken, Kind. Er ist hier gut aufgehoben.“
Marleen presste die Lippen aufeinander, denn genau das bezweifelte sie seit dem gestrigen Nachmittag mehr denn je.
„Und Mama, bitte! Gib ihm nichts außer den beiden Fläschchen im Kühlschrank! Das reicht völlig.“
Franziska warf ihr einen eindringlichen Blick zu.
„Ja, doch.“
„Und wenn er sich absolut nicht beruhigen lässt, kannst du mich jederzeit anrufen.“
„Ja, ja, aber glaub mir, Papa und ich werden das Kind schon schaukeln.“ Die unbeabsichtigte Doppeldeutigkeit brachte sie zum Lachen. Doch gleich darauf machte die Heiterkeit auf ihrem Gesicht einer übellaunigen Besorgtheit Platz.
„Statt sich unnötig um Paulchens Wohlergehen zu sorgen, solltest du lieber überlegen, wohin mit deinen Möbeln.“
Marleens Vater, der bis dahin geschwiegen hatte, machte mit einem kräftigen Räuspern seine Stimme frei.
„Ach, jetzt mach doch nicht so ein Drama daraus, Franziska. Das kriegen wir schon irgendwie hin. Ein Teil kommt in den Keller, und den Rest bringen wir in der Garage hinten den Fahrrädern unter. Ich gehe mal davon aus, dass das nur für einen begrenzten Zeitraum sein soll?“ Er blickte Marleen fragend an.
„Ja, ja. Für ein paar Tage höchstens. Dann habe ich bestimmt etwas Passendes für Paul und mich gefunden. Das verspreche ich euch.“ Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, ihre Eltern gar nicht erst um den Gefallen bitten zu müssen. Aber unter den gegebenen Umständen war das ihre einzige Möglichkeit.
Als sie wenig später in der Straße, in der die Wohnung lag, nach einem Parkplatz suchte, schlug die Turmuhr der benachbarten Kirche gerade dreimal. Bis Maik und Klara mit dem VW-Bus kamen, hatte sie also noch genügend Zeit, die restlichen Sachen bruchsicher einzupacken und die wenigen Möbelstücke verladefertig herzurichten. Da es Marleen gewohnt war, zügig zu arbeiten, hatte sie schon nach einer Stunde das meiste geschafft. Taschen, Kartons und Koffer standen im Flur zum Abtransport parat, Paulchens Bett war in Teile zerlegt, die Schubladen der Wickelkommode lehnten hinter der Eingangstür, und der kleine Klapptisch und die beiden Stühle standen abholbereit in der Mitte des Wohnzimmers. Die Kücheneinrichtung gehörte ohnehin dem Vermieter. Die musste sie nur noch einmal überputzen, genauso wie das Bad und die Böden.
Mit einem Stoßseufzer ließ sich Marleen auf das verloren wirkende Sofa sinken. Nach einigen tiefen Atemzügen horchte sie in den Raum hinein. Schon seltsam, wie still es im Moment hier war. Keine Geräusche aus den Nachbarwohnungen, keine Musik, kein Handyklicken – nur ab und zu das leise Knacken eines Heizkörpers. Als sie hinüber zum Kinderzimmer sah, kam ihr Paul in den Sinn, und sofort startete das Gedankenkarussell in ihrem Kopf zu einer neuen Runde. Wie es ihm wohl gerade ging? An den feinen Stichen im Brustkorb merkte sie, wie sehr sie ihn vermisste. Wehmütig sah sie auf die Uhr am Handgelenk. Hoffentlich kamen Klara und Maik pünktlich. Gut, dass sie so tolle Freunde hatte! Im selben Augenblick musste sie an Sven denken und daran, dass sie ihn bis vor Kurzem noch genauso genannt hatte. Sven - ihr Freund, ihr Beschützer, ihr über alles geliebter Traummann und Vater ihres wundervollen Kindes. Während sie über den staubigen Laminatboden hinweg in die Ferne schaute, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Wie hatte sie sich in diesem Menschen nur so täuschen können? Im Grunde war er doch auch nur einer dieser freiheitsliebenden, hormongesteuerten Hallodris, die jede halbwegs gut aussehende Barbekanntschaft attraktiver fanden als die Frau, die daheim mit dem Stillkind auf dem Arm und Ringen unter den Augen auf ihn wartete.
Als es klingelte, schreckte sie aus der zermürbenden Gedankenmühle auf, die sie immer wieder heimsuchte, wenn sie gerade mal ein paar Minuten für sich hatte. Erleichtert eilte sie zur Tür und öffnete sie.
„Hallo ihr Lieben. Schön, dass ihr da seid.“
Nach Maiks kurzer und etwas hölzerner Umarmung drückte Klara sie umso herzlicher.
„Hallo, du geplagter Schatz.“ Sie löste sich aus ihren Armen und sah sich staunend um. „Dann zeig uns mal, wo das Klavier steht!“ Ihr Lachen hallte durch die fast leeren Räume. „Na, das sieht ja gar nicht so chaotisch aus wie ich befürchtet habe.“
Marleen zog die Mundwinkel in die Höhe.
„War ja auch kaum noch was übrig für ein ordentliches Chaos.“
Mitleidig schürzte Klara die Lippen.
„Entschuldige. Das war blöd formuliert von mir. Ich finde es natürlich auch mies von Sven, dass er fast alles mitgenommen hat.“
„Schon okay. War ja hauptsächlich sein Kram.“
Als sie nach einem kurzen Rundgang durch die Zimmer mit dem Abtransport beginnen wollten, knurrte Maik nach einem Blick aus dem Fenster: „Warum muss es denn ausgerechnet jetzt in Strömen regnen?“ Mit säuerlicher Miene zeigte er auf das Sofa. „Das muss zuerst runter. Hast du vielleicht was, womit wir die Polsterung abdecken können? Die saugt sich sonst ganz voll.“
„Ja, da muss irgendwo noch Malerfolie sein.“ Nach kurzem Suchen halfen alle mit, das Sofa in die Plastikhaut zu hüllen.
„Ihr nehmt am besten das hintere Ende, und ich geh rückwärts“, schlug Maik geschäftig vor.
Unter kräftigem Schnaufen und Stöhnen schleppten sie das sperrige Polsterteil Stufe für Stufe abwärts und hievten es auf die Ladefläche des Busses. Als sie gleichzeitig lautstark ausatmeten, mussten sie trotz der Anstrengung lachen.
„So, den dicksten Brocken haben wir.“ Maik wischte sich das Gemisch aus Schweiß und Regentropfen aus dem Gesicht. „Wie sagt mein Vater immer: Kommt man über den Hund, kommt man auch über den Schwanz. Also, Mädels, es geht weiter.“
Die restlichen Kleinmöbelteile, das Bügelbrett, drei Bücherkartons und die wuchtige Yucca-Palme, die Marleen wie ein Haustier hegte und pflegte, hatten sie in der nächsten halben Stunde verladen. Beim letzten Gang durch die Zimmer zupfte jeder an seinem T-Shirt herum, das nass am Körper klebte.
„Das war's dann wohl“, stellte Maik fest und warf einen verstohlenen Blick auf seine Handy-Uhr. „Mal ordentlich durchgesaugt, und die Wohnung ist übergabefertig.“ Damit wollte er dezent andeuten, dass er jetzt endlich seinen Feierabend verdient hatte.
Klara ging rasch zum Wohnzimmerfenster und schaute zu den parkenden Autos hinab.
„Und wie machen wir das mit dem Bus? Irgendwie müssen wir ja auch wieder zurückkommen.“
Marleen hatte schon eine Lösung parat.
„Am besten fahrt ihr mit dem VW-Bus hinter mir her, und ich bringe euch dann mit dem Kombi nach Hause. Den Bus bekommt ihr so schnell wie möglich wieder. Versprochen.“
„Gute Idee!“ Klara schniefte kurz und schob Maik dann mit liebevollem Druck vor sich her durch den Flur. Als sie die Wohnungstür öffnete, fuhr sie erschreckt zusammen, denn vor ihr auf dem Fußabtreter stand ein kleiner, fülliger Mann im grauen Arbeitskittel. Seine Hand war gerade am Klingelknopf angekommen.
„Upps! Wer sind Sie denn?“
Marleen eilte augenblicklich zum Wohnungseingang.
„Unser Vermieter“, flüsterte sie Klara im Vorbeigehen zu.
„Hallo, Herr Huber. Das trifft sich ja gut. Ich wollte sie sowieso gleich noch zu Ihnen und fragen, wann wir morgen die Abnahme machen können.“
„Guten Tag, die Herrschaften.“ Er neigte seinen Oberkörper leicht zur Seite und blickte an den vor ihm aufgereihten Personen vorbei zum hinteren Teil der Wohnung.
„Wenn Sie möchten, Frau Meister, können wir das auch sofort erledigen. Wie ich sehe, ist ja schon alles leergeräumt.“
„Gern. Das wäre mir sogar sehr recht. Dann spare ich einen Weg.“ Marleen blickte fragend zu ihren Freunden.
„Habt ihr noch so viel Zeit?“
Auf ihr stummes Nicken hin begann der Vermieter mit seinem Rundgang durch die leerstehenden Zimmer.
„Tja, das macht ja alles einen recht ordentlichen Eindruck“, konstatierte er, während er die Balkontür öffnete und sich ein Bild vom Außenbereich machte. Bei der Begutachtung der Küche und des Bades blieb Marleen im Flur stehen und verfolgte mit gespannter Miene, ob er noch etwas Schadhaftes entdeckte und was er dokumentierte. Gerade warf sie Klara und Maik einen bangen Blick zu, als der Mann lächelnd in den Flur zurückkehrte.
„Wie es aussieht, gibt es nichts zu beanstanden. Sie müssten dann hier einmal unterschreiben und eintragen, auf welches Konto die Kaution überwiesen werden soll.“ Er überreichte die Dokumentenmappe. Dabei bemerkte er kaum, welch riesiger Felsbrocken Marleen gerade vom Herzen fiel. Während sie die Einträge in den Rubriken überflog und die gewünschten Daten eintrug, seufzte Herr Huber.
„Tut mir ja wirklich leid, dass ich Sie bitten musste, die Wohnung frei zu machen, Frau Meister. Gerade jetzt, wo Sie Nachwuchs bekommen haben. Aber als ich Ihrem Lebensgefährten die Kündigung gegeben habe, meinte er, das sei überhaupt kein Problem. Er müsse sowieso für längere Zeit beruflich nach Spanien, und bei Ihnen gäbe es diesbezüglich auch keine Schwierigkeiten.“
Er schaute sie wohlmeinend an.
„Er meinte auch, Sie würden mit dem Kind sowieso lieber bei Ihren Eltern bleiben.“
Marleens Augen weiteten sich.
„Wie bitte? Wann hat er Ihnen das denn erzählt?“
„Na, Ende März, als ich ihm das Kündigungsschreiben gegeben habe.“
„Was? Das alles hat er da schon gewusst?“
Weil Klara sofort ahnte, was in Marleens Kopf vorging, legte sie tröstend den Arm um ihre Freundin.
„Dann war Svens Auszug gar keine Kurzschlusshandlung“, murmelte Marleen und starrte fassungslos zu Boden. „Dieser miese Schuft hat alles von langer Hand vorbereitet.“
Klara nickte mitfühlend. „Ja. Und seine Trennung von dir anscheinend auch.“
Herr Huber blickte irritiert von einem zum anderen.
„Hab ich da was falsch verstanden, Frau Meister?“
Obwohl sich Marleens Kehle immer enger zusammenzog, schenkte sie dem verwirrten Vermieter ein gequältes Lächeln.
„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung, Herr Huber. Das mit der Wohnungsräumung jedenfalls.“
Da er immer noch nicht wusste, was Marleen ihm damit sagen wollte, wechselte er rasch zurück in den Dienstmodus.
„Ja, ähm. Dann werde ich mal wieder. Die Pflicht ruft.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich wünsche Ihrer kleinen Familie alles Gute, Frau Meister. Und vergessen Sie gleich nicht, Ihre Waschmaschine mitzunehmen.“
Mit einem knappen Danke schüttelte Marleen ihm noch einmal die Hand.
„Die Schlüssel bringe ich Ihnen gleich hoch.“
„Es reicht, wenn Sie sie in meinen Briefkasten werfen.“
Mit einem Stoßseufzer wandte sie sich Klara und Maik zu. „Mist! An die Waschmaschine habe ich gar nicht gedacht. Hoffentlich kriegen wir die noch irgendwie unter.“
Keine fünf Minuten später hievten sie die tröpfelnde Maschine mit letzter Kraft in den Laderaum des Kombis. Als er sich absolut nicht verschließen ließ, wusste Maik Rat. Im Laufschritt holte er einen Spanngurt aus dem Werkzeugkasten und befestigte damit die Heckklappe am Abschlepphaken.
„Das wird halten.“ Leicht genervt blickte er die beiden erschöpften Frauen an. „Das war jetzt aber wirklich alles, oder?“
„Ja! Alles!“, stieß Marleen seufzend aus und hustete. Erst jetzt merkte sie, wie nass und durchgefroren sie war.
Nachdem sie den Schlüsselbund durch Herrn Hubers Briefkastenschlitz geschoben hatte, schaute sie kurz auf die Uhr und erschrak.
„Du meine Güte, es ist ja schon halb sieben!“, schoss es Marleen durch den Kopf. Spätestens in einer Stunde brauchten ihre Eltern das Auto, um zu dem angekündigten Konzertbesuch fahren zu können. Und vorher musste sie ihre Freunde noch nach Hause bringen.
In Windeseile startete sie den Kombi und überprüfte während der Fahrt immer wieder im Rückspiegel, ob Maik und Klara mit dem Bus nachkamen.
Wenig später rollte sie mit dem Kombi auf den Parkplatz vor der Garage ihrer Eltern und deutete Maik an, den Bus dort abzustellen, wo zwei Tage vorher der Firmenwagen des Gartenbaubetriebs gestanden hatte. Im strömenden Regen wechselten Klara und Maik zu ihr in den Wagen, sodass Marleen gleich wieder starten konnte, um sie durch den dichten Berufsverkehr heimzufahren. Nachdem sie die Fahrt über schweigsam und durchnässt auf der Rückbank gekauert hatten, nahmen sie sich beim Verabschieden noch einmal herzlich in die Arme.
„Danke, danke, danke! Was würde ich bloß ohne euch machen?“
Auf der Rückfahrt, die sich trotz ihres Eiltempos endlos hinzog, lief Marleen ein eisiger Schauer nach dem anderen über den Rücken, obwohl ihr Kopf vor Hitze glühte. Vor der Eingangstür ihres Elternhauses zitterten ihre Finger so stark vor Kälte und Überanstrengung, dass sie den Schlüssel nur mit Mühe ins Schloss stecken konnte. Beim Abstreifen der Schuhe musste sie eine ganze Weile heftig husten, und es dauerte etliche Sekunden, bis sie wieder genug Luft bekam.
„Jetzt bloß nicht krank werden!“, beschwor sie sich in Gedanken und rieb fröstelnd ihre Oberarme mit der Gänsehaut.
Einen tiefen Atemzug später kam Wolfgang im schwarzen Anzug die Treppe hinabgeschlendert.
„Na, da bist du ja endlich, Marleen. Mama war schon in Sorge, du hättest unseren Konzertabend vergessen.“
Marleen verzog schuldbewusst das Gesicht.
„Sorry, Papa, dass es so knapp geworden ist. Was macht Paulchen denn? Kamt ihr gut mit ihm zurecht?“
„Na ja, gut ist übertrieben“, räumte er mit einem Zwinkern ein. „Franziska hat ihm gerade noch was zu essen gegeben, und nun liegt er satt und zufrieden auf seiner Spieldecke im Wohnzimmer.“
Marleen stutzte und öffnete rasch die Tür. „Zu essen?“, murmelte sie auf dem Weg zu Paulchen vor sich hin. Als sie jedoch sah, wie ausgeglichen er dort lag und mit seinen Händchen spielte, spürte sie eine wohlig warme Welle der Freude in sich aufsteigen. Voller Glückseligkeit hob sie ihren Sohn vom Boden auf und kuschelte ihren Kopf so zärtlich an seinen Haaransatz, dass er voller Wonne quiekte.
„Oh, wie ich dich vermisst habe, mein Spätzchen“, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihr feuchtes T-Shirt anhob und seinen Mund behutsam zur Trinkquelle lenkte.
„Nanu? Hast du denn keinen Hunger?“, fragte sie erstaunt, als er mit aller Kraft versuchte, seinen Kopf abzuwenden.
In diesem Moment ging die Tür auf und ihre Mutter streckte ihren frisch frisierten Lockenkopf ins Zimmer.
„Na, das wurde aber auch Zeit, dass du kommst. Wie soll man sich denn mit einem schreienden Baby auf dem Arm zurechtmachen?“
„Ja, tut mir leid. Aber bis halb acht ist doch noch eine halbe Stunde Zeit.“
Marleen wunderte sich. Wenn Paulchen ausdauernd geschrien hätte, wäre sein Gesicht ganz scheckig und er würde jetzt mit Sicherheit vor Erschöpfung schlafen. Stattdessen wirkte er sehr ausgeschlafen, ja fast ein bisschen überdreht. Aus einer unguten Ahnung heraus schnupperte sie an seinen Lippen und stutzte. Der süßliche, an Banane erinnernde Geruch konnte unmöglich von den Muttermilchportionen stammen, die sie ihrer Mutter dagelassen hatte.
Da sie ohnehin dringend etwas trinken wollte, schulterte sie Paul und ging mit ihm in die Küche. Auf der Spüle entdeckte sie die beiden Babyflaschen, die Franziska dort zum Trocknen auf den Kopf gestellt hatte. Marleens Blick glitt zur Schranktür, hinter der sich die verschiedenen Mülleimer befanden. Seltsam! Außer dem üblichen Abfall fand sie darin nichts. Dabei hätte sie gewettet, dass sie dort auf Reste einer Breimahlzeit stoßen würde.
„Na ja, vielleicht übertreibst du es auch mit deinen Verdächtigungen“, murrte sie in sich hinein und öffnete die Kühlschranktür. Beim Griff zur Milchtüte stockte ihr Atem, als sie das kleine Gläschen daneben entdeckte. Sie schüttelte beim Lesen der Aufschrift fassungslos den Kopf. Baby-Abendbrei mit Banane - für einen guten Schlaf.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ Hatte sie ihre Mutter nicht inständig gebeten, Paul nur Muttermilch zu geben? Nichts anderes. Kein Wunder, dass er ihre Brustnahrung ablehnte. Marleen spürte, wie sich die Wut, die das Verhältnis zu ihrer Mutter ohnehin schon überschattete, zu einer immer umfangreicheren Giftgaswolke aufblähte.
Bei dem erneut einsetzenden Hustenanfall weiteten sich Paulchens Augen zu riesigen dunklen Knöpfen.
„Entschuldige, mein Liebling“, krächzte sie heiser und füllte Milch in das Glas auf der Anrichte. Mit gierigen Zügen leerte sie es und goss es erneut voll. Wie dumm und unverantwortlich von ihr! Bei der anstrengenden Möbelschlepperei hatte sie kaum etwas getrunken. Seit ihrer Rückkehr fühlte sie sich ohnehin schon schlapp und müde genug. Als sie eine Haarsträhne aus der Stirn nach oben strich, stellte sie fest, wie fiebrig sich ihr Gesicht anfühlte.
„Ganz klar, der Flüssigkeitsmangel fordert seinen Tribut“, war ihre einzige Erklärung für das beunruhigende Phänomen. Mit einem bisschen Ruhe würde sie das sicherlich schnell wieder im Griff haben.
Als ihre Mutter die Küche betrat, war ihr Drang, sie wegen der nicht vereinbarten Breimahlzeit zur Rede zu stellen, verflogen.
„Meine Güte, Marleen! Wie kannst du uns nur so lange warten lassen? Ich hab uns schon im Taxi zum Konzertsaal fahren sehen.“
„Ach, Mama!“ Selbst das Augenrollen war ihr mittlerweile zu anstrengend.
„Es war kurz vor sieben, als ich hier ankam. Zeit genug, bis ans andere Ende der Stadt zu fahren“, erwiderte sie kraftlos. Wo ihre Mutter Paul in diesem Fall gelassen hätte, wollte sie sich gar nicht vorstellen. Nach den Vorfällen der letzten beiden Tage traute sie ihr durchaus zu, dass sie ihn zur Nachbarin gebracht hätte. Zu der mit den grässlichen Pinschern, die wie Kuschelpüppchen verhätschelt wurden.
Ein erneuter Kälteschauer rieselte über ihren muskelverspannten Rücken. Alles hätte sie klaglos hingenommen, wenn die Schmerzen auf der Vorderseite nicht genauso schlimm gewesen wären. Von Minute zu Minute spannten ihre Brüste mehr. Marleen umfasste kurz die rechte Wölbung und stöhnte. Beton war Schaumstoff dagegen.
Ihre Mutter sah genervt zur Küchenuhr.
„Du machst dir selbst was zu essen, Kind, ja? Ich bin nämlich vor lauter Babysitten noch nicht dazu gekommen, mich zu schminken.“ Kaum hatte sie den Weg zur Diele angetreten, klingelte das Telefon.
Paul zuckte in Marleens Arm heftig zusammen, als Franziska laut zum Wohnzimmer hinüberrief: „Wolfgang, gehst du bitte dran? Ich muss schnell noch mal ins Bad.“
Marleens Vater, der die Wartezeit mit Zeitunglesen überbrückte, brummelte etwas Undeutliches. Gleich darauf erschien er mit dem Hörer am Ohr in der Küche.
„Wo ist Mama denn jetzt schon wieder hin?“ Er wirkte ungehalten.
Marleen zeigte zur Decke. „Sie wollte noch schnell Make-Up auflegen, glaube ich.“
Er ging zurück zur Diele und brüllte nicht weniger laut nach oben: „Franziska, kommst du mal? Dein Vater ist dran. Es ist wohl dringend.“
Marleen fühlte sich mittlerweile so gerädert, dass ihr die aktuelle Geräuschkulisse wie eine Folter vorkam. Hätte ihr Vater die Küchentür nicht wieder schließen und ihrer Mutter den Hörer nach oben bringen können? Stattdessen musste sie jetzt auch noch das nervige Klackern erdulden, das ihre Stöckelschuhe auf der Treppe erzeugten.
Von den letzten Stufen aus zischte Franziska ihrem Mann gedämpft zu: „Mein Gott, was für eine Hetzerei! Hättest du Vater nicht sagen können, dass er morgen noch mal anrufen soll? Ausgerechnet jetzt meldet er sich, wo wir sowieso schon knapp dran sind! Was will er denn überhaupt?“
Wolfgang, der das Mikrofon wohlweislich zugehalten hatte, überreichte ihr mit einem Schulterzucken den Hörer.
„Er sagte etwas von einem Unfall.“
Als Marleen das Wort Unfall hörte, beugte sie ihren Oberkörper in Richtung Tür, um besser verstehen zu können, was passiert war.
„Das kann doch jetzt nicht wahr sein, Vater!“, rief Franziska erbost ins Telefon. „Du rufst hier an, weil ein Baum in deinem Garten umgekippt ist? … Ja, ja, das habe ich schon verstanden. Er ist auf das Nachbargrundstück gefallen. Und jetzt ist der Zaun kaputt … Was? Der Nachbar will dich wegen so einer Lappalie anzeigen? Ja, aber … Kann man das nicht anders regeln?“
Eine Weile lang hörte sie ihrem Vater zu und warf nur hin und wieder ein verständnisloses Aber ein. Dabei wurde ihre Stimme immer lauter.
„Jetzt hör mir doch mal zu, Vater! Ja, Wolfgang ist Anwalt, und erfolgreich ist er auch. Aber doch nicht für solche Kinkerlitzchen! Um diese albernen Nachbarschaftsquerelen musst du dich schon selbst kümmern. Da ist man als Grundstückseigner eben in der Pflicht. Du hättest es dir ja nicht mit allen verscherzen müssen … Wie? Er soll dir nur einen juristischen Rat geben? Ja, ich weiß. Er ist dein Schwiegersohn. Aber deshalb ist er noch lange nicht verpflichtet, für dich die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Nichts für ungut, Vater. Ist ja nett, mal wieder was von dir zu hören, aber dein Anruf kommt gerade sehr ungelegen. Wir haben nämlich Konzertkarten für heute Abend. Ich melde mich in den nächsten Tagen mal, ja? Bis dann!“
Kaum hatte Marleen die ersten vorwurfsvollen Wortfetzen aufgeschnappt, ließ sie den Kopf sinken. Armer O'Henry!
„Er ist bestimmt fürchterlich einsam und deshalb so unfreundlich und abweisend“, murmelte sie vor sich hin. Ähnliches hatte sie schon bei älteren Patienten beobachtet, die ihren Ehepartner verloren hatten.
Von ihrem Großvater hatte sie in den vergangenen zehn Jahren wenig gehört, und das Wenige auch nur aus dem verhärmten Mund ihrer Mutter. Soweit sie es wusste, lebte er zirka eine Autostunde von ihrem Elternhaus in Köln entfernt, am Rand eines Kurortes. Das ältere Anwesen, das ihre Mutter stets als heruntergekommenen Kasten bezeichnete, diente ihren Großeltern nicht nur als Wohnstätte. Bis zum Krebstod ihrer Oma vor zwei Jahren hatte er in einem Seitenflügel des Hauses als Masseur und Bademeister gearbeitet. In diesem Moment beschämte es Marleen regelrecht, dass sie als Bewegungstherapeutin noch nie auf die Idee gekommen war, ihren Opa aufzusuchen und ihn nach seinen Berufserfahrungen zu befragen. Immerhin hatte er, genau wie sie, schmerzgeplagten, bewegungseingeschränkten Menschen geholfen, und das mehrere Jahrzehnte lang. Marleen erinnerte sich, dass in ihrer Familie nach der Beerdigung ihrer Oma nur noch selten über ihn gesprochen wurde. Als sie sich vor Kurzem einmal nach ihm erkundigte, hatte ihre Mutter nur verbittert gemeint, er ließe sich, was sein Äußeres betraf, immer mehr gehen. Außerdem würde er nur noch vor dem Fernseher sitzen und sich einen Dreck um den Zustand seines Hauses scheren. Als Marleen dann vorsichtig nachhakte, ob sie ihm denn schon mal Hilfe angeboten habe, hatte sie mit hochgezogenen Augenbrauen geschnaubt:
„Hilfe? Wenn du wüsstest, wie oft ich schon auf diesen Sturkopf eingeredet habe. Aber jedes Mal werde ich nur angeblafft, ich würde mir nur Sorge um mein Erbe machen. So ein Unsinn! Diese Bruchbude mit dem riesigen Acker drum herum will doch keiner geschenkt haben. Wenn du mich fragst, bricht der Kasten sowieso bald über ihm zusammen. Aber das soll mir dann auch egal sein. Selbst seine besten Freunde und Nachbarn bleiben mittlerweile fern. Die sind sein ständiges Meckern über Gott und die Welt auch längst leid.“
Marleen streckte ihren Körper wieder gerade. Als sie kurz darauf hörte, wie ihre Mutter den Telefonhörer auflegte, ohne seine Antwort abzuwarten, schüttelte sie traurig den Kopf. Was war nur geschehen, dass sie den alten, einsamen Mann so kaltherzig und respektlos abfertigte?
Einen Moment später erschien Franziska erneut in der Küche. Diesmal perfekt geschminkt.
„Wir fahren jetzt, Kind. Und lass nicht wieder das Licht im Treppenhaus brennen!“
Marleen rückte Paul auf dem Arm zurecht und richtete sich auf.
„Was hat O'Henry dir eigentlich getan, dass du ihn so behandelst?“
Franziska blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen und überlegte einen Moment. Als sie sich zu Marleen umdrehte, wies ihr Hals handflächengroße rötliche Flecken auf.
„Was meinst du denn mit so?“
„Na, so … so abweisend eben. Als ob du deinen Vater kein bisschen achtest.“
Franziskas Mund ging auf und zu. Dabei schüttelte sie energisch den Kopf.
„Das verstehst du nicht. Er ist ein Mensch, der, wie soll ich sagen, der immer nur an sich denkt und andere gern für sich arbeiten lässt. Ein sturer Egoist eben, und ein Tyrann ist er auch. Deine Großmutter hat er immer nur ausgenutzt. Bis zu ihrem bitteren Ende hat sie für ihn geschuftet. Tut mir leid, dass ich das so sagen muss, Kind. Er ist ein rechthaberischer, selbstgefälliger Außenseiter. Mit dem will ich nichts mehr zu tun haben.“
Marleen starrte fassungslos auf die Küchentischplatte. So ein krankhafter Irrsinn! Genau die Wesenszüge, die ihre Mutter an ihm so verwerflich fand, waren doch auch bei ihr deutlich ausgeprägt. Wie ignorant war sie eigentlich, dass sie das nicht merkte? Marleen empfand plötzlich einen solchen Zorn auf sie, dass sie fast das Sprichwort mit dem Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, herausgeschrien hätte. Doch sie zwang sich zu schweigen. Gleich, wenn ihre Eltern das Haus verließen, würde das Trauerspiel sowieso ein Ende haben. Dann kehrte endlich Frieden ein. Bei dem Husten, der sie nun überfiel, spürte sie erschreckt in sich hinein. Seit wann hatte sie diese schmerzhaften Stiche im Brustkorb? Während sie Paul schuckelte, der sich in seiner eingeengten Sitzposition immer unwohler fühlte, spukte ein seltsamer Gedanke durch ihren fiebrigen Kopf. Wie würde ihr Opa reagieren, wenn sie plötzlich vor seiner Tür stünde? Würde er wirklich so gefühllos handeln, und sie mit dem Baby auf dem Arm vom Hof jagen?
Ihr Vater steckte den Kopf zur Tür herein.
„Wir fahren jetzt, Marleen.“ Einen Moment lang verweilte er noch und lächelte versonnen. Fast so, als wollte er ihr noch etwas sagen. Doch als Franziska unwirsch nach ihm rief, verabschiedete er sich seufzend.
„Auf Wiedersehen, mein Schatz. Mach's dir gemütlich und ruh dich mal ordentlich aus! Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Du wirkst ziemlich mitgenommen.“
Marleen schenkte ihm ein dankbares Strahlen. Genau diese Worte hatten ihr jetzt gefehlt. Sie liefen wie warme Honigmilch über ihre aufgewühlte Seele.
„Keine Angst, Papa. Ich passe auf Paul und mich auf, egal was sein wird.“
Ihre Antwort hatte er allerdings nicht mehr mitbekommen.
Sie blieb noch eine Weile sitzen und lauschte in die Stille, die nun im Haus herrschte. Paul hielt nichts von diesem untätigen Herumsitzen. Er wand seinen kleinen Körper unwillig hin und her. Marleen linste auf die Uhr und erhob sich rasch.
„Ja, ja, du bekommst ja jetzt dein Abendessen.“
Wegen der Fülle ihrer Brüste dauerte es eine ganze Weile, bis er zügig trinken konnte. Mit jedem Schluck spürte Marleen mehr Erleichterung.
Nach einer Viertelstunde nuckelte Paul nur noch lustlos, während seine Augen langsam zufielen. Marleen wartete ab, bis er fest eingeschlafen war. Dann brachte sie ihn hoch in sein provisorisches Bett.
Als sie sich danach in der Küche ein Brot schmierte, kreisten ihre Gedanken um die Szene, die ihr kurz vorher durch den Kopf gegangen war. Ein Prickeln überzog dabei ihren Körper, und das rührte nicht von ihrem angeschlagenen Gesundheitszustand. Es hatte etwas mit Neugier und Abenteuerlust zu tun, gepaart mit dem unbändigen Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Und dann war da noch diese Sehnsucht, endlich die Wurzeln ihrer Familie kennenzulernen. Sie wollte, nein, sie musste herausfinden, was es mit dem merkwürdigen Wesen ihres Großvaters auf sich hatte. Irgendetwas passte da nicht zusammen. Ein Mensch, der sich beruflich jahrzehntelang um das Wohl kranker Menschen gekümmert hatte, konnte kein egoistischer Tyrann sein. Davon war sie fest überzeugt.
Mit dem Butterbrot in der Hand schlenderte sie zum Schreibtisch ihres Vaters, der sich an die wuchtige Bücherwand im hinteren Teil des Wohnzimmers anschloss. Marleen wusste zwar nicht, wie und wo sie an die Adresse ihres Opas herankommen sollte, aber wenn überhaupt, konnte sie nur hier fündig werden. Nach und nach nahm sie die Briefbögen hoch, die ihr Vater in der Mitte des Tisches abgelegt hatte, und sah sich die jeweilige Anschrift und den Betreff an. Sie hatten allesamt mit seiner juristischen Tätigkeit zu tun. Auf dem Papierberg daneben stapelten sich ein paar Rechnungen für Handwerksarbeiten am Haus. Intuitiv griff Marleen nach der, die ganz oben lag und deren Kopf ein grünes Logo mit Bäumen zierte. An die obere linke Ecke hatte ihr Vater eine handschriftliche Notiz geheftet. Marleen lächelte matt, als sie das Schreiben überflog. Es war die Kostenaufstellung des Gartenunternehmers für das Fällen des Baumes. Sofort sah Marleen wieder die Szene vor sich, wie sie vom Fenster ihres Zimmers aus dem Gartenarbeiter beim Fällen der riesigen Zypresse zugesehen hatte. Ein merkwürdiger Kerl war das. Ach ja, Bastian hieß er. Bei der Erinnerung an seinen wissenschaftlichen Vortrag über die Heilkraft eines banalen Gänseblümchens huschte ein verträumtes Lächeln über ihr müdes Gesicht, das sogleich von einem heftigen Hustenanfall abgelöst wurde.
Plötzlich stutzte Marleen und wischte sich hastig die Hustentränen aus den Augen. Was hatte ihr Vater bloß mit der Notiz auf der Rechnung des Gartenbauunternehmers gemeint? Langsam und betont wiederholte sie noch einmal, was dort stand:
„Anruf Schwiegervater wegen des umgefallenen Baumes.“
Darunter hatte er, wie er es bei allen wichtigen Schriftsätzen machte, das Datum und die Uhrzeit notiert.
Von einer inneren Unruhe getrieben zog Marleen ihr Handy aus der Tasche. Beim Blick auf die Zeitangabe stutzte sie. Tatsächlich. Ihr Vater hatte die Notiz geschrieben, als ihre Mutter noch in das Streitgespräch mit ihrem Großvater vertieft war. Vielleicht hatte er seinen Schwiegervater auch direkt zurückgerufen, als ihre Mutter noch einmal hochgegangen war, um ihre Handtasche zu holen.
Marleen nickte in sich hinein. Die Uhrzeit würde perfekt dazu passen, genau wie die Hilfsbereitschaft ihres Vaters. Plötzlich hellten sich ihre Gesichtszüge auf. Wenn er ihn angerufen hatte, musste er auch irgendwo seine Telefonnummer notiert haben. Rasch durchblätterte sie die kleineren Blöcke neben dem Ablagekasten. Dann strahlten ihre Augen. Sie hatte das Büchlein entdeckt, in dem ihr Vater sämtliche privaten Namen und Adressen sammelte. Marleen überlegte kurz, dann hatte sie den Mädchennamen ihrer Mutter wieder parat. Kaltenbach. Bingo! Mit zufriedener Miene überflog sie die handschriftlichen Zeilen:
Kaltenbach, Henry
Am Grafenberg 9, Bad Neuenahr
Tel.: 02641 583 377
Im Nu hatte sie die Adresse und die Telefonnummer auf ein Blatt aus dem Zettelkasten geschrieben. Als sie die Zeilen ein weiteres Mal überflog, spürte sie wieder dieses merkwürdige Kribbeln. Sollte sie sich wirklich auf den Weg dorthin machen? Mit ihren ständigen Hustenanfällen, einem Puls, der an die Schädeldecke hämmerte und einem viermonatigen Baby im Gepäck?
Marleen faltete den Zettel und schob ihn entschlossen in die Hosentasche.
„Wenn nicht jetzt, wann dann, Marleen?“, entschied sie und begann umgehend mit dem Zusammenpacken.
Eine Stunde später schnallte sie die Schale mit dem schlafenden Paul auf dem Beifahrersitz des Busses fest und überprüfte noch einmal, ob die Kofferraumklappe verschlossen war. Bevor sie hinter dem Lenkrad Platz nahm, warf sie noch einen kurzen Blick zum Haus ihrer Eltern.
„Das Treppenhauslicht habe ich diesmal nicht vergessen, Mama.“ Und an ihren Vater gerichtet sagte sie mit brüchiger Stimme: „Nicht böse sein, Papa. Das musste sein.“
Gleich darauf startete sie den Motor.
Das Navi in ihrem Handy meldete: „Sechshundert Meter der Straße folgen. Dann rechts abbiegen auf die A1 in Richtung Koblenz.“