Kapitel 8
Durch das Küchenfenster verfolgte sie, wie ihr Großvater in Gummistiefeln zu dem Weg hinüberstapfte, über den auch der nette, alte Dorflehrer hinter dem Haus verschwunden war.
Paul, der sich bisher friedlich mit seinen Händchen beschäftigt hatte, bog nun ungeduldig seinen kleinen Oberkörper hin und her.
„Ja, ich weiß schon. Du hast auch Hunger.“ Rasch schob sie den Rest ihres leckeren Quarkbrotes in den Mund und lagerte Paul so, dass er bequem an seine Milchquelle kam. Gleich darauf musterte sie ihn überrascht. Es war das erste Mal seit Wochen, dass er trank, ohne den Kopf gleich wieder verärgert abzuwenden. Sie atmete voller Hoffnung durch. Vielleicht hatte er diese üble Angewohnheit ja endlich überwunden. Gerade jetzt, wo sie sich so krank fühlte, würde er ihr damit einen großen Dienst erweisen. Dankbar streichelte sie seine warme, weiche Wange.
Während sie das beglückende Gefühl des Stillens genoss, überlegte sie, wie sie am schnellsten die Möbel aus dem Bus bekam. Ohne fremde Hilfe würde es nicht gehen. Nur, wen konnte sie hier in dieser verlassenen Wald-und-Wiesen-Gegend um Hilfe bitten? Außer ihren Großvater und den freundlichen Rupert kannte sie niemanden, und den beiden Rentnern konnte sie die Schlepperei beim besten Willen nicht zumuten. Dazu waren jüngere und kräftigere Arme nötig.
Apropos! Hatte sie vorhin, als sie an dem winzigen Fenster im Treppenhaus vorbeikam, das zur Gartenseite ging, nicht mehrere Leute sprechen hören? Ja, natürlich. Ruperts tiefe, ruhige Stimme hatte sie sofort herausgehört. Die beiden anderen Männer kannte sie zwar nicht, aber vielleicht würden sie ihr beim Ausladen helfen. Voller Optimismus beschloss sie nachzufragen, sobald sie Paul ins Bett gebracht hatte.
Mit einem liebevollen Lächeln beobachtete sie, wie seine Augenlider schwerer wurden und er schlafend weiternuckelte. Wie still und erholsam es doch hier war, stellte sie fest, als sie ihren Blick durch die Küche schweifen ließ. Sobald sie ihre Sachen drüben in dem verlassenen Kurbad untergebracht hatte, würde sie sich ebenfalls hinlegen und ein bisschen Schlaf nachholen. Die unfreiwillige Übernachtung im Bus war alles andere als erholsam gewesen. Zum Glück musste sie nicht mehr so oft husten, aber das Brennen hinter dem Brustbein war immer noch da, sogar stärker als vorher. Na ja, es würde schon wieder werden. Hier, im Haus ihres Großvaters, bekam sie gewiss die nötige Ruhe, um rasch wieder fit zu werden.
Als sie Paul behutsam auf den anderen Arm umbettete, hörte sie an der Wand zum Flur ein merkwürdiges Schrappen. Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann in Jeans und modisch geschnittenem Hemd schritt vorsichtig rückwärts über die Küchenschwelle.
„Morgen, Henry! Es gibt was zu feiern. Wegen der Heizungssanierung im vorigen Jahr kriegst du achthundert Euro vom Finanzamt zurück.“
Während der Mann beim Wechsel in den Vorwärtsgang konzentriert auf den Aktenberg vor seinem Brustkorb schaute, rief er triumphierend: „Ist das gut, oder ist das gut?“
Marleen grinste. „Für mich wäre das verdammt gut.“
An wen erinnerte sie der gut aussehende Fremde mit der runden Nickelbrille und dem kurzen, dunklen Haar bloß? Ja, genau. Harry Potter. So etwa müsste der berühmte Zauberlehrling aussehen, wenn er die Dreißig überschritten hatte, war sich Marleen sicher. Allerdings fehlte dem Überraschungsgast die zackige Narbe auf der Stirn, aber das konnte sie gut verschmerzen. Beim Anblick seiner leicht nach vorn geneigten Kopfhaltung meldete sich sofort die Physiotherapeutin in ihr. Vor ihr stand ein typischer Nerd, der vermutlich Stunden vor seinem Computer verbrachte.
Als er Marleen und das Baby hinter dem Frühstückstisch entdeckte, erreichten seine sympathischen Augen fast die Größe seiner Brillengläser. Gleich darauf erhellte sich sein Gesicht, das anscheinend noch nicht viel Sonne mitbekommen hatte.
„Hallo! Na, so was! Henry hat gar nicht erwähnt, dass er Besuch erwartet. Aber für Überraschungen ist er ja immer gut.“
Wie selbstverständlich ging er an der Küchenzeile vorbei ins Nachbarzimmer und legte dort mit einem Stoßseufzer den Aktenberg ab.
Wieder zurück in der Küche, steuerte er direkt auf Marleen zu und reichte ihr die Hand.
„Ich bin David, Henrys Rettung für alles, was mit Computertechnik und Buchhaltung zu tun hat“, stellte er sich nun flüsternd vor.
Marleen, die den schlafenden Paul sanft schuckelte, erwiderte dankbar lächelnd seinen Händedruck. Es gab ja doch noch Männer, die mitdachten!
„Ich heiße Marleen, und das hier ist Paul, Henrys Urenkel.“ Sie sah stolz zu ihrem Sohn hinab.
„Aha, dann bist du also seine Enkelin“, folgerte er und räusperte sich verschämt, als er seine einfältige Schlussfolgerung bemerkte. „Ich meine, dann ist der schicke, alte VW-Bus da draußen bestimmt von dir?“
Bei dem Wort Bus musste Marleen sofort an die Kartons und Möbelstücke denken, die David beim Vorbeigehen bestimmt aufgefallen waren.
„Nee, den habe ich nur ausgeliehen, weil ich umziehen musste.“ Sie sah genau, wie es hinter Davids Stirn arbeitete. Um der Frage zuvorzukommen, die er bestimmt schon auf der Zunge hatte, erklärte sie weiter:
„Mein Großvater war so nett, Paul und mir aus einer kleinen Wohnungs-Notlage zu helfen.“ Sie musterte David prüfend. Jetzt würde sich zeigen, ob er so viel Anstand besaß, sie nicht weiter mit Fragen zu löchern.
„Ja, manchmal kann er richtig nett sein.“ Mit einem eleganten Schwung ließ er sich rittlings auf dem Stuhl neben ihr nieder, legte die Unterarme auf der Rückenlehne ab und betrachtete fasziniert das schlafende Kind auf ihrem Arm.
„So ein Baby ist ja ein richtiges kleines Cyber-Wunder. Die neuste Hardware, blitzschnelle Datenübertragung und Speicherplatz ohne Ende. Beneidenswert!“
Wie auf ein geheimes Zeichen hin schlug Paul die Augen auf, warf einen prüfenden Blick auf das fremde Gesicht neben ihm und gähnte gelangweilt.
„Nanu, du bist ja schon wieder wach, mein Schatz.“ Marleen gab ihm einen herzhaften Kuss auf die Stirn. „Schau mal, da ist jemand, der dein intellektuelles Potential perfekt erfasst hat.“
David lachte schallend und strahlte Marleen so begeistert an, dass sie mit einem verlegenen Lächeln eine Haarsträhne von der Stirn strich.
„Ich kann mir Henry gar nicht vorstellen, so als Uropi mit Schnuller und Fläschchen am Babybett.“
Marleen prustete erheitert.
„O'Henry als Babysitter? Nee, absolut nicht!“ Im selben Moment fiel ihr etwas ein.
„Apropos Babybett. Könntest du mir und Paulchen einen Gefallen tun?“
David streckte einsatzbereit den Oberkörper.
„Na klar. Worum geht's?“
„Da sind ein paar größere Möbelteile im Bus, die ich nicht allein abladen kann. Mein Großvater hat mir angeboten, sie eine Zeit lang in seinem ominösen Kurbad einzulagern.“ Sie wies zum anderen Flügel des Hauses.
David spitzte den Mund und nickte gönnerhaft.
„Das dürfte kein Problem sein. Ich kann Henry gleich fragen, ob er mir einen seiner emsigen Gartenzwerge ausleiht. Seit dem Baum-Gau wimmelt es hinter dem Haus nur so von allen möglichen Typen. Die einen berechnen die Größe des Baums, die anderen die Schäden an Pflanzen und Zäunen. Und dazwischen wuselt eine ganze Schar von Gartenarbeitern herum. Man könnte fast meinen, die richten seinen Park für die nächste Bundesgartenschau her.“
Park? Baum-Gau? Gartenzwerge? Allmählich wurde Marleen neugierig. Was sollte das ganze Tamtam um diesen umgekippten Baum? Da spielte bestimmt eine große Portion männliche Wichtigtuerei mit hinein. Frauen würden nie so viel Wind machen: Äste und Stamm in handliche Stücke gesägt, alles im Kofferraum verstaut und ab damit zum Gartenmüll. Fertig! Obwohl … Es gab ja auch Ausnahmen. Für die Zypresse im Garten ihrer Eltern hatte dieser nette Gänseblümchen-Experte beispielsweise keine zwei Stunden gebraucht, ganz ohne fremde Hilfe. Aber klar. Sobald etwas mehr männliche Muskulatur zum Einsatz kommt, wird die Behebung eines unscheinbaren Malheurs schnell mal als Katastropheneinsatz inszeniert!
David blühte in seiner Rolle als Problemlöser immer mehr auf.
„Wir können es ja so machen, dass du den Knirps ins Bett bringst, und ich besorge in der Zeit einen zweiten Mann für das Möbelschleppen. Zu dritt haben wir den Bus im Handumdrehen leer.“
Marleen sah ihn mit großen Augen an.
„Paul ist doch gerade erst aufgewacht. Den kann ich nicht einfach so weglegen wie ein Buch. Der würde sich in dem fremden Zimmer vor Angst die Lunge aus dem Hals brüllen.“
David nickte verwirrt.
„Ach so. Das wusste ich nicht. Macht ja auch nichts. Er kann ja genauso gut mitkommen.“
„Wird er auch müssen“, erwiderte Marleen mit einem amüsierten Seitenblick zu David und tippte Paul liebevoll auf die Stupsnase.
„Wir beide räumen jetzt mal schnell den Tisch ab und holen den Autoschlüssel runter.“
David kräuselte verunsichert die Stirn.
„Okay. Dann bis gleich am Bus.“
Als er die Küche verließ, tat er Marleen richtig leid. Nach seiner gedankenlosen Äußerung zum Umgang mit Paul schien sein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen zu haben.
Während Marleen mit der freien Hand die Lebensmittel und das Geschirr wegräumte, dachte sie über die Szene von eben nach.
„Verurteile ihn doch nicht gleich, Marleen. Er kennt sich halt nicht aus“, redete sie sich ins Gewissen. „Woher soll dieser Mann auch wissen, wie Babys ticken, wenn er noch keine eigenen Kinder hat?“
Selbst als sie mit der Küche fertig und schon mit dem Schlüssel auf dem Weg nach draußen war, ließ sie das Thema noch nicht los.
„Warum können Klara und Maik dann nur so gut mit Paul umgehen?“, fragte sie sich, als sie die Heckklappe des Busses öffnete. „Die sind seit jeher kinderlos.“
Weiter kam sie mit ihrer Grübelei nicht, denn David stand plötzlich hinter ihr und schäkerte mit Paul, der von ihrer Schulter aus die Umgebung beäugte.
„Es kommt gleich jemand zum Helfen.“
Marleen schenkte ihm ein warmherziges Lächeln.
„Super, du bist mein Held des Tages.“
Mit einem verlegenen Zug um den Mund zeigte er zum Haus.
„Sollen wir mal rüber ins Kurbad gehen und gucken, wo wir das Zeug am besten abstellen?“
Marleen fand den Vorschlag gut. Danach würde sie endlich auf ihr Zimmer gehen und sich zusammen mit Paulchen hinlegen können. Sie atmete ganz behutsam durch, denn bei dem letzten Hustenanfall wäre sie beinahe vor Schmerz in die Knie gegangen. Sie brauchte dringend Ruhe und Zeit, ihre Erkältung auszukurieren. Lange durfte es so nicht mehr weitergehen.
Doch egal, wie elend sie sich fühlte, jetzt war erst mal das Ausräumen des Busses dran. Und die alte Wirkungsstätte ihres Großvaters wollte sie auch unbedingt kennenlernen. Seitdem sie das verblichene Praxis-Schild neben der Haustür gesehen hatte, versuchte sie sich auszumalen, wie es in dem altehrwürdigen Kurbad zugegangen war. Dabei gingen ihr Bilder von muskelbepackten Masseuren mit wurstigen Fingern und Bademeistern in vergilbten Gummischürzen durch den Kopf, die ihrer bibbernden Kundschaft kalte Güsse und feuchtwarme Kräuterwickel verpassten. Seltsam, ihrem Empfinden nach passte Henry weder zu dem einen noch zu dem anderen Typ.
Mit Schwung setzte sie Paul auf ihre linke Hüfte und folgte David, der ihr galant die Türen aufhielt.
Nachdem er im Vorraum das Licht eingeschaltet hatte, stutzte Marleen, als sie mehrere Kartons mit Altpapier und die ortsüblichen Müllbehälter an der Wand neben der Tür erblickte. Hatte Henry denn keinen passenderen Abstellraum für die Abfallbehälter als sein Kurbad? Irritiert schaute sie zu David, der schon auf dem breiten Flur zu den hinteren Räumen ging.
Ihre Schuhe quietschten leise auf dem lindgrünen Linoleum, als sie zu ihm aufschloss. Schweigend betrachtete sie die Fotos von den gängigen Heilkräutern, die rechts und links an der Wand hingen.
„Salbei, Thymian, Sonnenhut, Baldrian“, las sie leise vor und versuchte herauszufinden, wonach es gerade roch. Natürlich war die Luft um sie herum staubig und abgestanden, doch ihre feine Nase entdeckte immer noch Spuren von Menthol und Zitronenmelisse. Diese Düfte liebte sie über alles. Als sie gedankenverloren über eine der cremeweißen Massagebänke strich, spürte sie tief im Inneren etwas Merkwürdiges. Sie konnte es nicht genau beschreiben, aber es hatte etwas mit Vertrautheit und dem tiefen Bedürfnis zu tun, anderen zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden zu verhelfen.
„Schade eigentlich. Das meiste sieht gar nicht so altmodisch und runtergewirtschaftet aus“, stellte sie bedauernd fest.
David nickte versonnen.
„Wenn seine Frau, ähm ich meine, deine Großmutter noch leben würde, hätte Henry bestimmt noch ein paar Jährchen weitergemacht. Selbst jetzt kommen immer noch Anfragen von ehemaligen Patienten, wann er denn endlich wieder anfangen würde.“
„Und? Wird er?“
„Keine Chance“, sagte David und deutete zu dem Raum am anderen Ende des Gangs.
Marleen stutzte, als sie das Licht wahrnahm, das von dort auf den Gang strahlte. Und sprudelte da nicht auch irgendwo Wasser?
„Seit dem Tod seiner Frau tritt Henry sein Lebenswerk regelrecht mit Füßen. Aber sieh es dir am besten selbst an!“
Während sie weitergingen, versuchte Marleen, den immer unruhiger werdenden Paul mit Kommentaren zu den Kneipp'schen Wasseranwendungen auf den Fotos aufzuheitern.
„Schau mal, mein Schatz! Die Frau plantscht in der Wanne genau wie du das immer machst.“ Im nächsten Moment lachte sie ihm aufmunternd zu. „Ist das nicht lustig! Die hat sogar die gleichen Mopsbeinchen wie du.“
Paul kuschelte sich zufrieden an ihre Brust. Endlich hatte er wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Tse!“, machte Marleen und zeigte auf das leicht verstaubte Tischchen neben den Stühlen.
„Hier liegen immer noch Apothekenzeitschriften von vor drei Jahren.“
David zog einen Mundwinkel hoch und schnaufte.
„Ja, Henry hat hier seit der Beerdigung nicht mehr viel verändert. Aus Trauer, aus Wehmut oder weil er einfach keinen Sinn mehr darin sah? Ich weiß es nicht, und ihn danach zu fragen, traue ich mich irgendwie nicht.“
„Kann ich verstehen“, murmelte Marleen und schuckelte Paul, der allmählich Hunger bekam und nicht mehr länger durch die Gegend getragen werden wollte.
Als sie den weitläufigen Raum mit dem grauen Steinboden betraten, der bis an die Decke pastellgelb gefliest war, wurden Marleens Augen immer größer.
Nebeneinander aufgereiht standen zwei Zinkwannen, in denen man ausgestreckt liegen konnte und zwei Sitzwannen. Zwischen ihnen waren weiße Vorhänge als Sichtschutz gespannt. An der einen Wand befanden sich zwei Zinkwasserbottiche mit langen Stöpseln für die medizinischen Armbäder, am Boden, mit Sitzbänken davor, die entsprechenden Pendants für die Fußbäder. Marleen musste schmunzeln, als sie die ausgelaugten, hölzernen Schwimmthermometer entdeckte, mit denen die Wassertemperatur in den Wannen gemessen wurde. In den heutigen Bäderabteilungen kamen diese Dinosaurier schon lange nicht mehr zum Einsatz. Die Keramikbecken waren genauso matt und klotzig wie die Sanitärausrüstung des Badezimmers in der ersten Etage. An der gegenüberliegenden Wand waren mehrere Thermostate installiert, an denen drei Meter lange, schwarze Schläuche hingen. Ein Steg aus schmalen, aneinandergelegten Holzrosten führte dorthin, ein anderer verlief parallel dazu bis zu einem Holzständer, der einer normal großen Person bis zum Bauch reichte.
Marleen nickte wissend. Diese Vorrichtungen hatte ihr Großvater für die verschiedenen Bein- und Ganzkörpergüsse gebraucht. Der Rest der Einrichtung kam ihr noch ziemlich gut erhalten vor. Zwar vom alten Stand, aber sauber. Nach einem frischen Farbanstrich und einer gründlichen Reinigung ließe sich das Kurbad bestimmt wieder in Betrieb nehmen.
Sie schnüffelte prüfend die Luft ein. Warum roch es hier immer noch nach Feuchtigkeit, wenn seit Jahren niemand mehr in diesen Räumen arbeitete?
David war inzwischen zu einer der Zinkwannen gegangen und stand nun kopfschüttelnd davor.
Marleen blickte verwundert zu ihm hinüber. Wozu diente die lange Neonleuchte über der Wanne? Brannte die nicht schon, als sie sich noch auf dem Gang mit den Massagekabinen befanden? Und was waren das für erbsengroße, rotbraune Perlen in der Dose auf dem Rolltisch daneben?
Beim Näherkommen sah sie, dass die Wanne mit sprudelndem Wasser gefüllt war und … dass sich darin etwas bewegte!
Als sie zur Wanne hinabschaute, stockte ihr Atem.
„Das glaube ich jetzt nicht! Mein Großvater züchtet in seinen guten Zinkwannen Goldfische?“
„Koi-Karpfen, um es genau zu sagen.“ David hob vielsagend die Augenbrauen. „Er züchtet sie zwar nicht, aber verrückt ist es trotzdem.“ Mit Schwung warf er eine Handvoll Perlen aus der Dose ins Wasser.
Beim Anblick der umherquirlenden rot-, weiß- und orangegemusterten Fische quietschte Paul sofort los und fuchtelte mit den Ärmchen. Er liebte Wasser in Badewannen. Als die armlangen Kolosse dann auch noch ihre Mäuler hinausstreckten und nach dem Futter schnappten, hätte er am liebsten mitgeplanscht.
Bisher hatte Marleen ihren Großvater für verbittert und auch ein bisschen eigensinnig gehalten. Aber nun zweifelte sie wirklich an seinem Verstand.
„Pfff! Koi-Karpfen! Wer hat ihn denn auf diese abgedrehte Idee gebracht?“, fragte sie David irritiert.
Er hob den Kopf und blickte ihr schuldbewusst in die Augen.
„Mein Vater.“
Mit allem hätte sie jetzt gerechnet, aber nicht mit dieser Antwort.
„Ja, aber was hat denn dein Vater damit zu tun?“
David setzte sich auf die Kante der Wanne und sah zu Marleen empor.
„Das hat alles mit dem Baum hinter dem Haus zu tun, der beim letzten Sturm umgekippt ist. Blöderweise ist er genau in unserem Fischteich gelandet. Am nächsten Morgen haben wir dann in einer Blitzaktion die Fische herausgeholt. Ein Teil schwimmt im Wassertretbecken vor dem Haus und der Rest befindet sich hier in der Wanne.“
Marleen hätte als junges Mädchen gern ein paar Goldfische gehabt, doch ihre Mutter hielt Haustiere für zeitaufwändige, pflegeintensive Krankheitsüberträger. Deshalb beschränkte sich ihr Wissen über Fische auf die Zubereitung der gängigen Speisefischarten. Von der Haltung dieser farbenprächtigen Exoten hatte sie keinen Schimmer.
„Ist das Fischbassin denn leck geschlagen, oder warum konntet ihr sie nicht dort lassen?“
„Nein, das nicht. Aber ein dicker Ast hat die Pumpe und den Filter zerschlagen. Und ohne diese technischen Hilfsmittel geht den Kois ganz schnell die Puste aus. Wenn wir sie nicht da rausgeholt hätten, wären sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden mit Sicherheit krepiert.“ Er seufzte bedauernd. „Ein paar haben die Nacht sowieso nicht überlebt. Wahrscheinlich hielten sie sich gerade dort auf, wo der Stamm ins Wasser gekracht ist.“
Marleen verstand nicht ganz, warum David so ein Drama um diese paar Fische machte.
„Viel schlimmer wäre es doch, wenn der Baum ein Hausdach durchschlagen hätte. Teichfische kann man schließlich jeder Zeit im Gartencenter nachkaufen.“
David prustete erheitert.
„Nachkaufen ist gut.“ Er zeigte zu den Fischen in der Wanne. „Weißt du, was so ein Exemplar da unten wert ist?“
Marleen schüttelte den Kopf.
„Für den orange-weißen da vorn würde ein fachkundiger Sammler über achthundert Euro hinblättern.“
Völlig verblüfft betrachtete sie den langsam herumschwimmenden Fisch.
„Wahnsinn. Für so einen poppigen Silvesterkarpfen kann man zwei Wochen Urlaub auf den Kanaren machen?“
„Stimmt. Aus dem Grund schwimmen die teuersten Goldstücke jetzt auch hier, in Henrys Zinkwanne.“ Er lachte erneut. „Mann, war das ein Akt, bis der sture Kerl eingesehen hat, dass er meinen Vater nach dem Sturm nicht einfach so hängen lassen kann. Am Anfang hat er sich mit Händen und Füßen gewehrt, die Fische bei sich unterzubringen. Dabei schuldet Henry ihm eigentlich mehr als einen Gefallen.“ Ein versonnenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Er und mein Vater sind schon seit Jahrzehnten Nachbarn. Aber glaub mal nur nicht, dass sie deshalb gewillt wären, sich rasch und unkompliziert zu helfen, wenn einer in Not ist. Da reagieren sie wie bockige Jugendliche, die jede kleine Gefälligkeit gegenrechnen.“
„Dann ist der nette Rupert also dein Vater?“
Jetzt war es David, der verblüfft den Mund offen stehen ließ.
„Woher kennst du denn meinen alten Herrn?“
Marleen musste an die morgendliche Begegnung am Bus denken, als sie Rupert für ihren Opa gehalten hatte. Ausgerechnet dieser aufgeschlossene, freundliche Mensch sollte einem Nachbarn in Not nicht uneigennützig helfen? Das konnte sie sich mit dem besten Willen nicht vorstellen.
David sprang plötzlich auf. „Ich glaube, wir sollten mal langsam vors Haus gehen, sonst denkt der Typ, den ich fürs Ausladen engagiert habe, wir hätten ihn versetzt.“
„Oh, ja. Dann nichts wie raus.“ Marleen war aus zweierlei Hinsicht froh über den raschen Aufbruch. Zum einen musste sie unbedingt nach draußen, weil ihr im dämmrigen Licht des Kurbades beinahe die Augen zugefallen wären. Zum anderen war Paul vor Hunger schon so ungehalten, dass er sich kaum noch beruhigen ließ.
Als David und sie ins Freie traten und auf den Bus zugingen, wurden sie vom grellen Licht der Mittagssonne geblendet. Es dauerte einige Sekunden, bis sich Marleens Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Mit schlechtem Gewissen schaute sie zu dem grün gekleideten Mann, der mit verschränkten Armen am Bus lehnte und die Wärme der Sonne genoss. Anscheinend stand er da schon länger.
„Nett von Ihnen, dass Sie auf uns gewartet haben“, rief sie ihm beim Näherkommen zu.
In dem Moment, als er sich zu ihnen drehte, wurden ihre Schritte schlagartig langsamer. War das nicht …? Na klar, das war dieser merkwürdige Gänseblümchen-Experte, der bei ihren Eltern die Zypresse gefällt hatte. Was wollte der denn hier? Im selben Augenblick erinnerte sie sich wieder an die Szene, als sie auf dem Schreibtisch ihres Vaters nach der Telefonnummer ihres Großvaters gesucht hatte und dabei auf die Notiz gestoßen war, die er an das Schreiben der Gartenbaufirma geheftet hatte. Ganz klar! Ihr Vater hatte Bastian hergeschickt, damit er Henry bei der Beseitigung des Sturmschadens half.
Auf den letzten Metern bis zum Bus wusste Marleen überhaupt nicht, was mit ihr los war. Ihr Herz pochte so unruhig, dass ihr fast schwindelig wurde, und heiß war ihr außerdem. Aber wen wunderte das? Im Moment litt sie ja nicht nur unter dem ständigen Hustenreiz und dem Brennen im Brustkorb. Auch der Umstand, dass sie in den letzten zwei Tagen höchstens fünf Stunden geschlafen hatte, trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Und Paul wurde auch immer schwerer. Mit den letzten Kraftreserven ruckte sie ihn Sohn auf dem Arm zurecht.
„Na, das nenne ich ja mal Zufall“, sprudelte es aus ihrem Mund, als sie die Verwunderung auf Bastians Gesicht sah.
„Ihr kennt euch?“ David musterte den Gartenarbeiter prüfend von der Seite her.
Bastian nickte beiläufig. Während er Paul am Bauch kitzelte, warf er Marleen einen kurzen intensiven Blick zu.
„Na, mein kleiner Freund. Was machst du denn hier?“
„Paul und ich machen hier bei meinem Großvater ein paar Tage Urlaub“, klärte Marleen ihn auf und zeigte hustend zum Haus hinüber. An Bastians skeptischen Gesichtsausdruck merkte sie sofort, dass er ihr das mit dem Urlaub nicht glaubte.
„Ah, verstehe. Hier ist es ja auch wirklich sehr schön.“
David passte das unnütze Herumstehen nicht. Und noch weniger gefiel ihm die Art, wie Marleen den Mann am Bus anschmachtete.
„Wir wollen dich eigentlich gar nicht so lange von der Arbeit abhalten. Du hast mit dem Baum bestimmt genug zu tun. Wie wär's, wenn wir mal mit dem Abladen anfangen?“
Bastian blickte kurz ins Innere des Busses, dann zwinkerte er Marleen spitzbübisch zu.
„Urlaub, ja?“
Um ihre geröteten Wangen bestmöglich zu verstecken, knuddelte Marleen ihren Sohn, der Bastian immer wieder die Arme entgegenstreckte.
Ohne ein Wort zu wechseln hoben die beiden Männer die Waschmaschine von der Ladefläche und schleppten sie ins Haus. Bei der nächsten wortkargen Tour war das Sofa dran. Danach trugen sie die restlichen Kartons, den zusammengeklappten Kinderwagen und die Yucca-Palme nach drinnen. Als sie wieder am Bus erschienen, verschloss Marleen gerade mit einem Seufzer der Erleichterung die Ladeklappe.
„Ihr seid wirklich klasse. Ganz lieben Dank für eure Hilfe.“
David bekundete sofort in einem ergiebigen Wortschwall, was für ein Klacks das gewesen sei und dass sie seine Hilfe jederzeit wieder in Anspruch nehmen könne. Sie müsse ihm nur Bescheid sagen. Er wohne ja sozusagen um die Ecke.
Bei dem Hustenanfall, der Marleen nun überfiel und unter dem sie sich vor Schmerzen krümmte, verdüsterte sich Bastians Miene schlagartig.
„Dagegen solltest du aber bald was unternehmen. Das klingt gar nicht gut.“
Als Dank für seine fürsorglichen Worte versuchte Marleen, ein Strahlen auf ihr Gesicht zu zaubern, aber mehr als ein abgekämpftes Lächeln brachte sie nicht zustande.
„Ach, das wird schon wieder. Ich wette, in der friedlichen, grünen Umgebung hier geht es mir schnell wieder gut.“
Als David merkte, dass Marleen keine Anstalten machte, das Gespräch mit Bastian zu beenden, klopfte er ihm partnerschaftlich auf die Schulter.
„Danke fürs Anpacken, Kumpel. Ich denke, die warten hinten im Garten schon auf dich. Mit dem Rest kommen Marleen und ich schon allein zurecht.“
Bastian zuckte kurz mir den Mundwinkeln und wandte sich Paulchen zu, den er sanft am Bein krabbelte. Beim kurzen Aufschauen in Marleens blasses, mitgenommenes Gesicht bildeten sich Falten auf seiner Stirn.
„Mach's gut, kleiner Paul, und gönn deiner Mutter mal ein bisschen Ruhe. Die braucht wirklich Urlaub.“
Bevor er sich auf den Rückweg in den Garten machte, warf er David einen durchdringenden Blick zu.
„Du bist doch von hier und kennst die Ärzte vor Ort. Vielleicht könntest du ja dafür sorgen, dass sie sich untersuchen lässt? Möglichst bald sogar.“
„Ach, nicht nötig. Das mit dem Husten ist halb so schlimm“, winkte Marleen verlegen ab.
Das bestärkte David in dem Eindruck, den er von der taffen, hübschen Frau neben ihm gewonnen hatte. Hatte dieser Grünzeugschnippler wirklich angenommen, sie würde sofort springen, wenn er „Hopp, ab zum Arzt!“ sagte?
Er hob leicht das Kinn.
„Ich glaube, Marleen kann das prima selbst entscheiden, ob und wann sie sich in ärztliche Behandlung begeben sollte.“
Bastian musterte ihn mit einem feindseligen Funkeln in den Augen und verschwand wortlos in Richtung Garten.
David zischte gut hörbar.
„Ein komischer Kauz ist das. Kommt sich wohl vor wie der Bergdoktor. Aber was kann man schon von einem erwarten, der Tag ein, Tag aus Blumen pflanzt und Unkraut rupft.“
Beim kurzen Blick zur Seite stellte er enttäuscht fest, dass Marleen ihm gar nicht zuhörte. Irgendwie schien sie mit den Gedanken ganz woanders zu sein.