Kapitel 9
Auf dem Weg zurück ins Haus war Pauls Geduld endgültig erschöpft. Mit bebenden Lippen weinte er so herzzerreißend, dass sich Marleen umgehend von David verabschiedete und zu ihrem Zimmer hinaufeilte.
Mit einem Stoßseufzer ließ sie sich in den Sessel nieder und bereitete sich für das Stillen vor. Als Paul ohne zu protestieren trank, sank sie ermattet an die Rückenlehne. Was für ein Tag! So erschlagen wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt. Nur mit größter Mühe schaffte sie es, so lange wach zu bleiben, bis er satt war. Kurz nachdem ihrem Sohn die Augen zugefallen waren, lagen sie beide im Bett und schliefen. Endlich.
Als sie zwei Stunden später aufwachte, weil Paul an ihrer Seite gut gelaunt brabbelte und strampelte, lag sie noch genauso da wie sie eingeschlafen war. Ohne ihn wäre sie sicherlich nicht vor dem nächsten Vormittag wach geworden. In diesen Genuss würde sie wohl frühestens in dreizehn Jahren wieder kommen, wenn er im Stimmbruch war und am Wochenende erst mittags zum Frühstück erschien.
Gähnend legte sie Paul auf dem Tischchen im Badezimmer ab, um ihn zu wickeln.
„Heute Abend machen wir was Tolles. Dann geht's ab in die Wanne“, versprach sie dem kleinen Energiebündel.
„Vorher müssen wir deinen Uropa noch fragen, ob er ein paar Handtücher für uns hat.“ Ihre eigenen waren mittlerweile reif für die Wäsche.
Zurück im Zimmer ließ sie sich mit Paul auf dem Teppich nieder, rutschte auf Knien vor den aufgeklappten Koffer neben dem Nachttisch und überprüfte ihren restlichen Wäschevorrat.
„Mist, das reicht ja höchstens noch für zwei Tage!“, fluchte sie leise. Spätestens morgen musste sie ihren Großvater um die Benutzung seiner Waschmaschine bitten.
„Aber jetzt gehen wir beide erst mal raus in den Garten und schauen uns den Baum an, über den hier so viel Theater gemacht wird“, verkündigte sie mit leicht spöttischem Unterton und trabte mit ihm die Treppe hinab.
Bevor sie das Haus verließ, bog sie in den Flur zur Küche ab, um nachzuschauen, ob Henry vielleicht dort war. Den Weg hätte sie sich sparen können, stellte sie beim Betreten des Zimmers fest. Nur seine schmuddelige graue Strickjacke mit der aufgeribbelten Naht am Kragenbund hing über dem vordersten Stuhl. Marleen kräuselte die Stirn, als ihr die vielen Krümel und Flecken unter dem Tisch ins Auge fielen. Seltsam, den schmutzigen Boden hatte sie am Morgen gar nicht bemerkt.
Sie durchquerte die Küche und klopfte an die Tür zu dem Zimmer, in das David morgens die Aktenordner gebracht hatte. Zaghaft trat sie ein und sah sich um.
Das Wohnzimmer ihres Großvaters war riesig und, genau wie das Bad im ersten Stock, im Stil der Fünfziger Jahre eingerichtet. Im ersten Moment kam sich Marleen vor wie auf dem Schauplatz eines Miss-Marple-Krimis. Der dunkle Eichenschrank mit den unzähligen Bücherreihen, die wuchtige Sesselgarnitur auf dem Perser, der verschnörkelte Sekretär, die Kronleuchter, alles war gediegen, doch beim genauen Hinsehen stumpf und verstaubt. Sie rümpfte die Nase, denn die Luft roch nach abgestandenem Zigarettenqualm.
„Wann hier wohl das letzte Mal gelüftet und Staub gewischt wurde“, murmelte sie leise vor sich hin, als ihr die milchigen Fensterscheiben und die handtellergroßen Staubfladen unter dem Sekretär auffielen.
„Verdammt! Jetzt nörgele ich schon genauso rum wie Mama. O'Henry muss sich hier wohlfühlen und niemand sonst“, wies sie sich zurecht. Gemütlichkeit war manchen Menschen eben nicht so wichtig, oder sie verstanden etwas anderes darunter. Außerdem diente das Wohnzimmer früher eher zum Repräsentieren. Das familiäre Beisammensitzen fand eher in der Küche statt.
Marleen bettete den schläfrigen Paul in den Kinderwagen, den ihre beiden netten Helfer vor ein paar Stunden in die Diele getragen hatten, und ließ ihn vorsichtig vom Eingangspodest auf den Kiesplatz vor dem Haus hinunter. Verdammt! Was war nur los mit ihr, dass sie schon bei der kleinsten Anstrengung in Atemnot geriet? Während sie mit geschlossenen Augen die wärmende Sonne genoss, atmete sie bewusst ein und aus. Ihre Kurzatmigkeit und das merkwürdige Brennen in der Lunge deuteten auf eine ernste Erkältung hin. Doch war dann nicht auch die Körpertemperatur höher?
„Fieber hab ich keins. Also kann es nicht so schlimm sein“, beruhigte sie sich selbst.
Während sie den Wagen auf den schmalen Weg zuschob, der hinter das Haus führte, fragte sie sich, ob ihre Mutter vielleicht doch recht damit hatte, dass ihr Vater alles um sich herum vernachlässigen würde. Erst wollte sie es nicht wahrhaben, doch jetzt musste sie ihr wohl oder übel zustimmen. Etwas mehr Frische und Sauberkeit würden dem Haus und auch ihrem Großvater guttun. Aber womöglich tat sie ihm auch unrecht. Vielleicht hielt ihn nur der Sturmschaden im Garten davon ab, seinen alltäglichen Pflegearbeiten nachzukommen.
Ihre Schritte knirschten, als sie mit nachdenklicher Miene an der Querseite des Hauses entlangging. Und was, wenn nicht? Wo sollte es enden, wenn seine Nachlässigkeit nichts mit dem umgekippten Baum zu tun hatte? Wenn es keine vorübergehende Phase war? Hatte sie in der Klinik nicht oft genug von Fällen gehört, wo alte Menschen nach dem Tod ihres Ehepartners in die Verwahrlosung abrutschten? Von Haushalten, in denen man vor Müll den Boden nicht mehr sah? Und von Bewohnern, die seit Wochen keine Seife benutzt hatten und kein einziges sauberes Wäschestück mehr besaßen?
Ach was! Vielleicht reagierte sie auch nur deshalb so kleinlich, was Sauberkeit betraf, weil sie gerade für die Gesundheit eines Säuglings verantwortlich war. Während sie auf die hintere Hausecke zusteuerte, sah sie bedrückt zu Paul. Wie froh und dankbar war sie heute Morgen noch gewesen, als ihr Großvater ihr Unterschlupf gewährte. Schon allein deshalb stand es ihr nicht zu, sich zu beklagen. Für die nötige Babyhygiene würde sie schließlich auch selbst sorgen können.
Etwas beruhigter schob sie den Kinderwagen aus dem Schatten des Hauses hinaus auf die Rasenfläche, die sich direkt an den Weg anschloss. Jetzt wollte sie erst einmal nachsehen, was es mit diesem sonderbaren Baum auf sich hatte.
Mit der Hand über den Augen als Schutz vor der Nachmittagssonne betrachtete sie das weitläufige Areal und stutzte.
Vor ihr lag ein Park, der mindestens so groß war wie ein halber Fußballplatz und dessen linke Hälfte aus einer üppig blühenden Grasfläche bestand. Die Trennlinie zur rechten Hälfte bildete ein schnurgerader Kiesweg, der mit Wegerichrosetten, Löwenzahn und Gänseblümchentupfen übersät war. Die Grenze zum westlichen Nachbargrundstück bestand aus einem kurvenförmig angelegten Wall aus blühenden Holunderbüschen, Ligustersträuchern, Ginstern und Jasminen. Vor der malerischen Blütenkulisse luden zwei Teakholzbänke zum Verweilen ein.
Dorthin hätte sich Marleen jetzt gern mit Paul gesetzt und den Duft der Sträucher genossen, wäre da nicht … diese gigantische Trauerweide gewesen, die wie ein angeschossenes Kriegsschiff auf der Seite lag und mit ihrer ausladenden Krone das gesamte restliche Gelände und Teile des Nachbargrundstücks überdeckte.
„Wow! Hier sieht es ja aus wie nach einem Hurrikan!“, brachte sie bestürzt hervor und kniff die Augen leicht zusammen, um genauer sehen zu können. Plötzlich schüttelte sie überrascht den Kopf. War der grauhaarige Mann, der mit erhobenen Armen durch das Blätterlabyrinth ruderte, nicht ihr Großvater? Mit weit geöffneten Augen verfolgte sie, wie er mit der Axt eine Schneise zum Stamm schlug. Drei Meter vor ihm ragte Ruperts Oberkörper aus dem Grün heraus. Leicht auf und nieder wippend bearbeitete er mit einer Handsäge einen armdicken Ast. Am Rand der Krone, wo die langen, peitschenartigen Weidenruten kniehoch den Boden bedeckten, zerrte David einen mannshohen Blätterbusch hinter sich her auf die Grasfläche. Dort warteten bereits mehrere Stapel abgesägter Äste und Zweige auf den Abtransport.
Nun fiel Marleens Blick auf einen kräftigen Mann in grüner Schutzkleidung und Helm. Er stand im Blätterdickicht direkt neben dem Stamm und trennte mit einer wuchtigen Kettensäge einen Ast nach dem anderen ab. Obwohl das laute Aufkreischen in ihren Ohren schmerzte, musste sie schmunzeln. Natürlich, diesen geschickt und kraftvoll hantierenden Kerl kannte sie. Oder hatten Gartenarbeiter immer blonde Pferdeschwänze?
Im selben Augenblick verstummte die Motorsäge und Henry, der sich mühsam aus dem Blätterchaos befreit hatte, stapfte krummbuckelig auf sie zu.
„Na, junge Frau? Endlich ausgeschlafen?“
„Ja, einigermaßen. Danke“, antwortete Marleen kleinlaut. Bei seiner rüden Art zu fragen hätte sie sich das danke eigentlich sparen können. Aber egal. So war ihr Großvater halt.
„Dann kannst du ja jetzt auch mal ein bisschen mit anpacken.“
„Wie bitte? Bei dem Baum?“, erwiderte Marleen ungläubig.
„Ach, was! In der Küche. Da liegt eine Tüte mit frischen Brötchen, und im Kühlschrank ist genug Zeug zum Belegen. Es wäre schön, wenn du die für uns zurechtmachen könntest. Ach ja, und eine Kanne Kaffee wäre gut. Die Männer brauchen dringend eine Verschnaufpause.“
Marleen wollte erst erwidern, dass das mit dem Baby schwierig werden könnte. Nach einem kurzen Blick zu den hart schuftenden Nothelfern kam ihr das albern vor.
„Kein Problem. Ich krieg das hin.“
Mit einem zuversichtlichen Lächeln wendete sie den Kinderwagen und eilte ins Haus zurück. In der Küche stellte sie den schlafenden Paul am Fenster ab und wartete einen Augenblick, bis sie wieder genug Puste hatte. Trotz des üblen Brennens im Brustkorb fing sie sofort an, die Brötchen aufzuschneiden. Allzu lange würde Pauls Schlafphase nicht mehr dauern.
Nach einer Viertelstunde war der ganze Küchentisch mit appetitlich aussehenden Schinken- und Käsebrötchenhälften belegt. Auch der Kaffee war fertig durchgelaufen. Sie überlegte kurz, wie sie alles in einem Rutsch nach draußen bringen konnte und entschied sich für die Lieferung per Kinderwagen. Wenn sie alles geschickt verteilte, würde Paul gar nicht merken, dass er gerade unter knusprigen Brötchenhälften schlummerte.
Minuten später erschien sie mit dem voll beladenen Wagen hinter dem Haus. Als Henry sie erblickte, gab er den anderen mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihre Arbeit unterbrechen sollten.
Marleen stellte mehrere Tassen, Wasserflaschen, die Kaffeekanne und die Brötchenplatten auf den Gartentisch an der Hauswand und entfernte die Folie von den Brötchen. Unterdessen kletterten die Männer aus dem grünen Ungetüm, legten ihr Werkzeug ab und kamen schnaufend und mit verschwitzten Gesichtern auf sie zu.
David pfiff begeistert, als sein Blick auf den leckeren Imbiss fiel. Bevor er zugriff, streifte er noch einige Blätter von seinen sehnigen Armen.
„Ach, super! Genau das Richtige jetzt!“
Auf dem Weg zum Kaffeetisch diskutierte Henry wie immer engagiert mit Rupert. Nachdem er einen prüfenden Blick zu den Brötchen geworfen hatte, nickte er Marleen zu und rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Rupert nahm ein paar Schlucke Wasser, tupfte sein Gesicht mit einem Taschentuch trocken und bedankte sich dann formvollendet für die Tasse Kaffee, die Marleen ihm lächelnd reichte.
„Na, haben Sie sich schon ein bisschen eingelebt?“ Über seine Augenpartie huschte ein Hauch von Skepsis. Fast so, als bezweifelte er, dass es überhaupt jemandem gelingen würde, es länger mit seinem Nachbarn auszuhalten.
„Ja, schon.“ Sie prüfte mit einem Seitenblick zu Henry, ob er etwas mitbekam. „Mein Großvater hat Paul und mir das schönste Zimmer im ersten Stock überlassen. Da fällt es nicht schwer, sich willkommen zu fühlen.“
Jetzt war auch Bastian am Tisch eingetroffen. Vorher hatte er seine Schutzkleidung abgelegt. Wie heiß es ihm darunter gewesen sein musste, sah Marleen deutlich an dem breiten schweißnassen Streifen auf dem Rückenteil seines T-Shirts.
Ihre Hand vibrierte seltsam, als sie ihm eine Tasse Kaffee reichte.
„Schade um den alten Baumriesen. Der hat bestimmt schon ein paar hundert Jahre auf dem Buckel.“
Während Bastian einen Schluck Kaffee nahm, betrachtete Marleen sein kantiges Profil. Es wirkte sehr männlich und durch die tiefen, abwärtsziehenden Kerben neben den Nasenflügeln ein wenig verhärmt. Doch gleichzeitig gaben die blonden Bartstoppeln und das lange, gewellte Haar seinem Gesicht etwas Jungenhaftes. 
„Ich vermute, Ihr Großvater leidet mehr unter dem Verlust seines bemerkenswerten Kräuter- und Gemüsegartens. Darin muss er ganz schön viel Zeit verbracht haben, sonst wären die Pflanzen nicht so herrlich gewachsen. Man kann ja nicht viel erkennen, aber darunter müssen unzählige, außergewöhnliche Heilkräuter wachsen“, er schnaufte bedauernd, „wenn der Baum nicht alles platt gemacht hat. Solche üppigen Exemplare sieht man höchstens noch auf der Insel Reichenau im Bodensee und in einigen Klostergärten. Um den Baum ist es natürlich auch sehr schade“, setzte er mit einem bedeutungsvollen Nicken hinzu.
Marleen konnte sich das gar nicht vorstellen. Ausgerechnet um seinen Garten sollte sich ihr Großvater gekümmert haben, wo ihm alles andere so herzlich egal war?
„Na ja, ab einem gewissen Alter schafft man es wahrscheinlich nicht mehr, alles mit Saft und Kraft zu versorgen“, meinte sie mit einem versonnenen Blick zu dem Baumkoloss.
Bastian musterte sie leicht verwirrt von der Seite her.
„Nee, nee, so alt war die Trauerweide noch gar nicht. Höchstens sechzig Jahre. Salix alba tristis wird zwischen achtzig und hundert Jahre alt. Ich habe die Ringe am abgesägten Stamm gezählt. Eigentlich hätte sie bei dem Sturm gar nicht kippen dürfen, aber da gab es wohl ein paar Faktoren, die das Ganze begünstigt haben.“
Marleen kicherte kaum wahrnehmbar, als sie merkte, dass Bastian den Baum meinte, während sie von ihrem Großvater sprach.
„War die Weide denn krank oder irgendwie beschädigt?“
Er schüttelte den Kopf und linste dabei zu Henry und Rupert, die wie müde Krieger auf den Gartenstühlen neben dem Tisch saßen und von ihren Brötchen abbissen.
„Eher verdurstet, würde ich sagen. Die Grube für den Teich auf dem Nachbargrundstück hat den Wurzeln bestimmt geschadet. Diese Baumart wächst nicht ohne Grund bevorzugt an Uferrändern.“
Marleen merkte ihm deutlich an, dass er in Hörweite der beiden Senioren nicht ausführlicher werden wollte. Also nickte sie nur verständnisvoll. Obwohl ... So richtig wusste sie nicht, was er mit verdursten meinte. Diese Riesen kamen mit ihren metertiefen Wurzeln doch viel leichter an Wasser als kleinere Bäume.
„Tja, die Lebensbedingungen ändern sich halt manchmal“, folgerte sie mit einem melancholischen Ton in der Stimme. Nach dem ungewollten Hinweis auf ihre aktuelle Lebenssituation wechselte die blasse Farbe ihrer Wangen schlagartig in tiefes Rot. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, ging sie zu dem Schattenplatz, in den sie den Kinderwagen gerollt hatte und vergewisserte sich, dass Paul noch schlief.
Plötzlich zuckte sie leicht, als Bastian erneut neben ihr stand und ebenfalls zu dem schlafenden Baby hinabschaute.
„Die Umgebung hier scheint dem kleinen Kerl richtig gut zu tun. Er wirkt viel ausgeglichener als letztens im Garten Ihrer Eltern.“
„Da hatten wir auch gerade ziemlich viel Stress“, erklärte Marleen und warf ihm einen kurzen, bekümmerten Blick zu.
Als er mitfühlend nickte, spürte sie wieder Schmetterlinge in ihrer Bauchdecke. Mit ihrer Erkrankung konnte es nichts zu tun haben. Im Vergleich zu dem üblen Brennen beim Husten fühlte sich das hier wie die wohlige Wärme eines Kaminfeuers an.
David gesellte sich mit der Kaffeetasse in der Hand zu ihnen und leerte sie in einem Zug.
„Wenn wir das Zeug bis zum Abend weghaben wollen, sollten wir weitermachen.“
Marleen blickte schmunzelnd zu Paul. Ihr war sofort klar, weshalb er so drängelte.
Bastian deutete verdeckt auf die beiden erschöpften Senioren.
„Sollten wir den älteren Semestern nicht noch etwas Pause gönnen?“
„Klar, erhol dich ruhig noch ein bisschen.“ David nickte mit gespitzten Lippen. „Ich geh schon mal wieder ans Werk. Hab schließlich noch anderes zu tun als hier rumzuschnippeln.“
Um eine Zuspitzung der Situation zu verhindern, begann Marleen mit dem Zusammenräumen.
Kaum hatte sie in der Küche alles in Ordnung gebracht, betrat ihr Großvater auf löchrigen Socken den Raum.
„Waren gut, deine Brötchen“, meinte er mit einem flüchtigen Lächeln und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
Beflügelt von den lobenden Worten streckte sich Marleen und sah ihm ins Gesicht.
„Wie fändest du es, wenn ich dir als Gegenleistung für das Wohnen im Haushalt helfe und ab und zu was koche? Wenn Paul schläft, könnte ich alles mal gründlich durchwischen und auf Vordermann bringen.“
Mit tiefen Falten auf der Stirn lehnte sich Henry an den Küchenschrank und nahm einen Schluck aus der Flasche.
„Erstens ist das nicht nötig, und zweitens will ich das nicht. Immer wollen mir alle helfen. Ich bin zwar schon über siebzig, aber noch lange kein debiler Tattergreis.“
„Entschuldige. Das habe ich damit auch nicht sagen wollen.“
Marleen presste die Lippen zusammen. Dabei fiel ihr Blick auf die Krümel unter dem Tisch.
„Ich will dir nur ein bisschen zur Hand gehen.“ Sie deutete auf den Boden. „Guck doch mal da unten! Und die Fenster haben es auch dringend nötig. Außerdem könnte ich dir die Naht an deiner Jacke zunähen.“ Ein heftiger Hustenanfall erschütterte ihren Brustkorb, als sie auf seine Füße zeigte. „Und überhaupt mal ein paar Sachen flicken.“
Sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr.
„Danke, aber wenn ich sehe, wie blass und mitgenommen du aussiehst, schaffst du es ja nicht mal, für dich zu sorgen. Und dann noch das Kind …“
Er schüttelte energisch den Kopf.
„Nee, nee. Ich will nicht, dass hier lauter Fremde in meinem Haus herumwirtschaften. Ich bin die letzten beiden Jahre gut allein zurechtgekommen, und so wird es auch bleiben.“
Ohne ihn anzuschauen murmelte Marleen: „Aber ich bin doch keine Fremde, sondern deine Enkelin.“
„Sieh lieber zu, dass du fit wirst und dein Leben in den Griff bekommst, Mädchen.“
Auf dem Weg zur Tür blickte er kurz zum Boden unter dem Tisch und machte zwei, drei hastige Wischbewegungen mit der Hand. „Wenn du unbedingt willst, kannst du ja hier mal fegen.“
Marleens Gesicht hellte sich ein wenig auf. Anscheinend war er doch zur Vernunft gekommen.
„Klar, wird gemacht. Ach, noch etwas. Hättest du vielleicht zwei frische Handtücher für uns? Ich würde Paul nachher gern baden, und meine sind leider schon aufgebraucht. Und könnte ich morgen vielleicht mal deine Waschmaschine benutzen?“
„Meine Waschmaschine?“ Er musterte sie irritiert. „Die ist kaputt. Sobald der Baum weg ist, kümmere ich mich darum.“
Danach zog er die Tür hinter sich zu.
Marleen stöhnte leise und nahm Paul, der inzwischen aufgewacht war, aus dem Wagen.
„Na, mein Schatz. Du hast ja lange geschlafen.“ Ohne den geringsten Protest ließ er sich an die Brust legen.
Nach seiner Mahlzeit zog sie ihm eine frische Windel an und legte ihn so in den Wagen, dass er sie gut sehen konnte.
„Du spielst jetzt mal ein bisschen ohne mich. Ich habe nämlich zu tun.“ Mit einem aufmunternden Lächeln klemmte sie seine Spielzeugkette am Verdeck fest.
Sofort langte er nach oben und versuchte die Rasseln und Ringe zu greifen und in den Mund zu ziehen.
Sie sah kurz zur Küchenuhr und öffnete auf der Suche nach Eimer und Lappen eine Schranktür nach der anderen. Im Hochschrank am Ende der Küchenzeile wurde sie fündig. Neben den üblichen Putzutensilien standen dort alle Sorten von Besen, ein Staubsauger und Eimer in verschiedenen Größen.
„Na, dann los! Du wolltest es ja so, Marleen“, trieb sie sich an, denn eigentlich fühlte sie sich viel zu schlapp zum Putzen.
Während sie sämtliche Flecken und Krümel von den Oberflächen wischte, spürte sie, wie schwer ihr Herz arbeitete. Ihr Puls wummerte bis zu den Schläfen, auf denen sich schon die ersten Schweißtropfen bildeten. Dass sie immer wieder husten musste, schob sie auf den Putzspray, mit dem sie die Spüle bearbeitete. Beim nassen Wischen des Bodens wurde ihr sogar leicht schwindelig.
„Kein Wunder, wenn du nie ans Trinken denkst“, schimpfte sie und leerte hintereinander zwei Gläser mit Leitungswasser. Nachdem der Boden getrocknet war, nahm sie die Stühle vom Tisch und räumte die Putzsachen weg.
„Und jetzt gehen wir beide in den Keller“, teilte sie ihrem Sohn mit, der ihr freudig entgegenquiekte.
„Vielleicht krieg ich die Waschmaschine ja wieder ans Laufen. Würde mich nicht wundern, wenn einfach nur das Sieb verstopft ist.“
Mit Paul auf der Hüfte stieg sie die Treppe hinab. Nachdem sie die schwergängige Feuertür hinter sich gelassen hatte, ging sie von Raum zu Raum und lugte kurz hinein. Wegen der schwachen Beleuchtung konnte sie nur schemenhaft erkennen, was sich darin befand. Das Meiste war Gerümpel, Werkzeug und ein paar alte Möbel. Ein Kellerraum schien als Lager für das Kurbad gedient zu haben. In einem langen, hohen Regal lagen mehrere verschweißte Toilettenpapierpakete, Einmalhandtücher und Plastikkanister mit grünen und hellgelben Flüssigkeiten. Marleen tippte auf Massageöle und Reinigungsmittel für die Wannen und Becken.
Über den Gang, der unter der Küchenseite lag, gelangte sie endlich in die Waschküche. Als sie die Tür aufdrückte, weiteten sich ihre Augen. Die Hälfte des Raums war mit Leinen bespannt, über die jemand achtlos zwei Hemden, eine Wolldecke und fünf Strümpfe geworfen hatte, denen das Gegenstück fehlte. Auf dem Boden darunter reihte sich ein Schmutzwäschehaufen an den nächsten. Lediglich vor der Waschmaschine, die erhaben auf ihrem Betonsockel thronte, war noch Platz für die Füße.
Marleen bettete Paul auf die verschossenen Gartenstuhlauflagen, die neben der Waschmaschine übereinander lagen, und zog das Sieb heraus. Zu ihrer Verwunderung war es nur mäßig verstopft. Als Nächstes prüfte sie, ob die Maschine ans Netz angeschlossen war. Beim Einschalten sprang ihr das rote Licht am Ein-Aus-Schalter verheißungsvoll ins Auge. Als sie frohen Mutes den Programmwähler drehte, klackte es laut, und sämtliche Lampen erloschen.
„Oh, nee! Und wo ist jetzt dieser vermaledeite Sicherungskasten?“, fluchte sie laut in die Finsternis hinein. Während sie beruhigend auf Paul einredete, tastete sie sich über die Wäscheberge hinweg zur Tür und drückte sie auf. Zum Glück schien von der Treppe so viel Licht in den Flur, dass sie den Sicherungskasten am Anfang des Ganges erkannte. Hastig legte sie den entsprechenden Schalter um und eilte zu Paul zurück, der bereits ängstlich jammerte.
„So ein Mist! Das war wohl nichts! Was soll ich dir jetzt morgen anziehen?“
Keuchend und mit bleischweren Beinen stieg sie die Treppe zum Erdgeschoss hinauf.
Vor dem Aufgang zur ersten Etage fiel ihr Blick auf einen Stapel Handtücher. Mit einem dankbaren Lächeln klemmte sie ihn sich unter den Arm. Gerade wollte sie hochsteigen, da ging die Haustür auf und David kam herein. Ein erfreutes Aufleuchten breitete sich auf seinem verschwitzten Gesicht aus.
„Hey, Marleen. Hast du Henry irgendwo gesehen?“
„Nein, aber ich war auch bis gerade unten in der Waschküche“, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Da sieht es schlimmer aus als in der Kleiderkammer vom Roten Kreuz! Die horten da wenigstens saubere Wäsche.“
David kräuselte die Stirn.
„Hat Henry die Waschmaschine etwa immer noch nicht reparieren lassen?“
Marleen schüttelte den Kopf.
„Nach dem Wäscheberg zu urteilen muss sie schon mindestens zwei Wochen kaputt sein.“
David rollte mit den Augen. „Zwei Monate!“
Sie zog die Schultern hoch und ließ sie verzweifelt sinken. „Wo soll das denn bloß hinführen? Ich habe ihm angeboten, für ihn zu kochen und mal hier und da zu putzen, aber er sträubt sich mit Händen und Füßen.“
David lachte.
„Vielleicht solltest du ihn ein bisschen zu seinem Glück zwingen.“
„Und wie bitte schön?“ Doch im selben Moment hatte sie bereits eine Idee.
„Ist Bastian noch da?“
„Warum?“ David wusste beim besten Willen nicht, was der mit Henrys Verbohrtheit zu tun haben sollte.
„Wie wäre es, wenn wir einfach meine Waschmaschine unten anschließen? Die ist noch ziemlich neu und steht da drüben im Kurbad nur unnütz herum. Außerdem braucht nicht nur Henry was Frisches zum Anziehen, sondern auch Paulchen und ich.“ Sie schuckelte ihren Sohn mit einem liebevollen Lächeln.
David dachte kurz nach und nickte entschieden.
„Genau das machen wir jetzt. Wenn der Prophet nicht zum Berg will, dann … schau ich doch mal, ob Mister Kettensäge noch da ist.“ Er machte auf der Stelle kehrt und verschwand im Laufschritt nach draußen.
Kurze Zeit später kam er mit Bastian zur Tür herein. Damit Marleen dem Gärtner gar nicht erst tiefer in die Augen sehen konnte, drängte er sofort auf zügiges Arbeiten.
„Komm, lass uns flott machen! Wenn uns Henry über den Weg läuft, steppt der Bär.“
Marleen merkte Bastian an, dass er mit der Vorgehensweise nicht ganz einverstanden war.
„Sollte man deinen Großvater nicht in unser Vorhaben einweihen? Immerhin ist das hier sein Haus.“
Marleen überlegte kurz, was besser wäre.
„Du hast recht, David. Henry würde uns hochkant rauswerfen. Also nichts wie ran! Ich halte euch die Türen auf.“
Das Hinuntertragen und Anschließen der Maschine dauerte keine zehn Minuten. David verschränkte gebieterisch die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief.
„Und? Willst du nicht wissen, ob sie läuft?“
„Klar. Ich muss nur schnell unsere Wäsche runterholen.“ Hin- und hergerissen, wem sie ihren Sohn solange überlassen sollte, entschied sie sich für David. Immerhin hatte er die Aktion ins Rollen gebracht.
Als sie kurze Zeit später mit dem vollen Wäschekorb die Treppe hinuntertrabte, hörte sie Paul schon wie am Spieß brüllen. Die nächste Szene verwunderte Marleen zutiefst. Gerade, als sie die Schwelle zur Waschküche überschritt, reichte der völlig verunsicherte David das schreiende Baby an Bastian weiter. Im nächsten Moment herrschte nicht nur schlagartig Ruhe. Paul patschte sogar freudig juchzend auf Bastians behaartem Unterkiefer herum.
David versuchte seine Enttäuschung mit Humor zu überspielen.
„Das liegt bestimmt daran, dass Bastian wie so ein grüner Wichtel aus dem Bilderbuch aussieht. Kleine Kinder stehen ja bekanntlich auf so was“, meinte er mit einem spitzbübischen Grinsen zu Marleen.
Bastian konterte mit einem gelangweilten Nicken. „Ja klar, das wird's sein.“
Am darauffolgenden Morgen erschien Marleen nicht mit Paul, sondern mit dem Babyphone und einem Berg sorgfältig gefalteter Anziehsachen in der Küche. Den legte sie auf der Anrichte ab.
„Guten Morgen, O'Henry. Geht es dir gut?“
„Geht so“, brummte er mürrisch und legte die Zeitung neben sich auf den Tisch.
„Ich habe gestern Abend Wäsche gewaschen und aufgehängt. Pauls Bodys und Schlafanzüge sind ja ständig nass. Und da habe ich gleich eine Ladung für dich mitgewaschen.“
Henry saß am Tisch und sah mit finsterer Miene zu dem Wäschestapel.
„Aber die Waschmaschine geht doch gar nicht. Außerdem habe ich dich nicht darum gebeten.“
„Stopp, reg dich bitte nicht auf! Ich habe meine eigene benutzt.“ Bevor er weiterzetern konnte, erzählte sie ihm, wie ihr Bastian und David aus der Notlage geholfen hatten.
„Glaub mir, ich habe es wirklich gern für dich getan. Was ist denn schon dabei, wenn wir uns gegenseitig ein bisschen helfen?“
„Ich will aber nicht, dass mir jemand hilft, und auch …“
„… nichts Frisches zum Anziehen?“
Er erhob sich vom Stuhl und stampfte wie ein bockiges Kind zur Spüle.
Marleen begann zu zittern. Ein bisschen vor Erschöpfung, aber vor allem, weil sie nicht wusste, ob sie den Bogen überspannt hatte. Wenn er jetzt dicht machte, hatte sie ihr Glück verspielt.
Henry drehte sich langsam um, blickte einige Sekunden unsicher zu seiner Enkelin und atmete resigniert aus.
„Also gut. Anscheinend bist du genauso stur wie deine Mutter. Also werde ich ab jetzt nichts mehr dazu sagen, wenn du dich hier unbedingt nützlich machen willst. Nötig ist es trotzdem nicht. Ich kann nämlich noch prima für mich selbst sorgen.“
Marleen schluckte, weil sie wusste, dass das nicht stimmte. Und er wusste es auch, sonst hätte sein letzter Satz überzeugter geklungen.
„Das weiß ich doch.“ Sie lächelte milde. „Um jemanden, der von morgens bis abends Holz hackt und wie Tarzan in den Ästen herumklettert, muss man sich keine Sorgen machen.“
Ein verlegenes Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht.
„Aber übernimm dich nicht, Mädchen. Die Natur hat es bestimmt nicht so vorgesehen, dass sich eine kranke, stillende Mutter auch noch für andere abrackert.“
Marleen wurde ganz rot und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
„Ich bin nicht krank, nur ein bisschen erkältet“, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. Da plötzlich Pauls Stimme im Babyphone ertönte, ging sie rasch zu Henry und drückte ihn. Dann eilte sie hoch zu ihrem Sohn.
Als er in ihrem Arm lag und ruhig trank, strömte eine Welle des Glücks durch ihren ermatteten Körper. Gleich darauf brach ihr so heftig der Schweiß aus, dass sie besorgt registrierte, wie er ihr in einem kalten Rinnsal an den Seiten hinablief. Vielleicht hatte ihr Großvater ja recht damit, dass sie sich als Stillende mehr Ruhe gönnen sollte.
Ach, Unsinn. So schlimm war das bisschen Mithilfe doch gar nicht. Damals in der Klinik hatte sie erheblich mehr geleistet als jetzt. Marleen seufzte schwer und legte Paul an die andere Brust. Da war sie auch noch keine Mutter und hatte sich mit Sven die Arbeit im Haushalt geteilt. Na ja, zumindest theoretisch.
„So ein Quatsch!“, zischte sie spöttisch. Den Sinn einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung hatte Sven genauso wenig verstanden wie die Bedeutung von Treue und Verantwortung.
Während sie weiter ihren Erinnerungen an die merkwürdige Phase mit der Kündigung und an die nervenaufreibende Zeit mit Sven nachhing, hustete sie immer wieder heftig.
„Wenn bloß dieses Brennen nachlassen würde, dann hätte ich bestimmt wieder mehr Energie, mich um unsere Zukunft zu kümmern“, flüsterte sie ihrem Sohn zu und streichelte ihn mit Tränen in den Augen.
Kurz darauf legte Marleen das schlafende Kind in die Mitte ihres Bettes und machte sich mit dem Babyphone auf den Weg zur Küche. Kein Wunder, dass sie nicht zu Kräften kam, wenn sie andauernd vergaß, etwas zu essen und zu trinken.
Beim Blick in Henrys Kühlschrank bildeten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn. Verdammt! Warum waren ihr vorhin nicht schon die ranzigen Wurstreste und das schimmelige Gemüse im hinteren Bereich aufgefallen? Mit angeekeltem Gesicht warf sie sämtliche verdorbenen Lebensmittel in den Mülleimer und wusch sich die Hände. War sein Rücken denn schon zu steif, um sich so weit zu bücken, oder warum bekam er nicht mit, wie schlimm es in seinem Kühlschrank aussah? 
Zum Glück waren noch Eier, Äpfel und Milch da. Für ein paar leckere Pfannkuchen war das genau das Richtige. Sie lächelte versonnen, als sie drei Pfannkuchen für ihren Großvater mit Folie überzog. Kalt schmeckten sie genauso gut, wenn er irgendwann hungrig aus dem Garten zurückkehrte.
Immer wenn Paul schlief und es ihre Energiereserve zuließ, wollte sie von Zimmer zu Zimmer gehen und die Fenster putzen und Staub wischen. Mit einem halben Eimer Wasser und Wischtüchern betrat sie nach kurzem Klopfen das Wohnzimmer und öffnete das Fenster. Marleen stellte beim Wischen zufrieden fest, dass ein frischer Wind ins Zimmer fegte. Gleich darauf warf sie erschrocken den Lappen in den Eimer zurück, schloss den Fensterflügel und rannte zum Sekretär. Doch bis dahin hatte sich schon eine Wolke aus Papierbögen, Zetteln und Kuverts auf den Weg zum Fußboden gemacht.
Auf Knien rutschend sammelte sie alles ein und legte den unordentlichen Stapel mit einem Anflug von schlechtem Gewissen zurück auf die hölzerne Schreibtischplatte. Als ihr Blick auf den obersten Papierbogen fiel, sackte ihre Kinnlade abwärts. Pfändungsbescheid- und Überweisungsbeschluss stand dick in der Überschrift. Marleen überflog die Zeilen.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, murmelte sie. Falls Henry nicht unverzüglich seinen Versäumnissen nachkam, würde ihm der Gerichtsvollzieher auf den Pelz rücken. Kopfschüttelnd starrte Marleen durch das Zimmer. Sie durfte die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen. Ihrem Großvater waren die Zügel aus der Hand geglitten. Ohne fremde Hilfe würde er nicht mehr so weitermachen können.
Sie setzte sich auf eine Sesselkante und dachte nach. Wie konnte sie ihm nur helfen? Ihn auf das Schreiben vom Amtsgericht anzusprechen, traute sie sich nicht. Dann würde er ihr mit Recht vorwerfen, dass sie in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte.
Plötzlich hörte sie auf dem Flur Männerstimmen, die immer lauter wurden. Im Laufschritt griff sie nach dem Eimer und kehrte in die Küche zurück. Gleich darauf ging die Tür auf und Henry trat ein zusammen mit ... ihrem Vater.
„Papa, du?“, stotterte Marleen. Mit ihm hätte sie am allerwenigsten gerechnet.
„Hallo, Marleen. Keine Bange, ich will dir nicht nachspionieren. Ich bin hier, weil ich etwas mit Henry besprechen muss. Er hat uns übrigens auch darüber informiert, dass du jetzt hier wohnst“, ergänzte er mit einem vorwurfsvollen Seitenblick.
Marleen schlug sich gedanklich vor die Stirn. Mist! Sie hatte ihrem Großvater doch versprochen, ihren Eltern Bescheid zu geben.
„Oh, sorry, Papa. Ich wollte euch eigentlich gestern schon anrufen. Aber irgendwie kam dann so viel dazwischen.“
Wolfgang schmunzelte ihr zu.
„Schon in Ordnung. Hauptsache, es geht dir gut.“ Er sah sich suchend um. „Und wo hast du meinen Enkelsohn versteckt?“
Erleichtert deutete Marleen zu dem Babyphone auf dem Küchentisch.
„Komm, ich zeige dir, wo er schläft.“
Nach einem entschuldigenden Schulterzucken zu seinem Schwiegervater folgte er ihr die Treppe hinauf.
Sie öffnete die Tür zu ihrem neuen Refugium und drehte sich wie eine Tänzerin im Kreis.
„Ist das nicht ein herrliches Zimmer? Ein größeres und helleres gibt es hier auf der Etage bestimmt nicht.“
Wolfgang sah sich mit beeindruckter Miene um.
„Das freut mich aber, dass ihr so gut miteinander auskommt.“
Er stutzte, als er Marleens bekümmertes Gesicht sah.
„Du wirkst ziemlich mitgenommen, Marleen. Macht Henry dir Schwierigkeiten?“
Marleen sah kopfschüttelnd zu Boden.
„Nein, nein, mit mir ist alles okay soweit. Es geht eher darum, was Mama über ihn gesagt hat. Nach außen hin macht er einen robusten und vitalen Eindruck, aber der Schein trügt. Er schafft es einfach nicht mehr allein.“
„Na, deshalb habe ich ihm ja auch den Bastian hergeschickt. Ist ja klar, dass ein Mann in seinem Alter keinen umgestürzten Baum kleinsägen und abtransportieren kann.“
„Das meine ich nicht, Papa.“
„Was denn dann?“
Sie schluckte.
„Er hat seit Wochen keine saubere Wäsche mehr im Schrank, im Kühlschrank wächst der Schimmel und in seiner Kurbadewanne schwimmen Fische. Um die kümmert er sich rührend und um seinen Garten auch. Aber alles andere … Und das Schlimmste ist: In seinem Wohnzimmer bin ich gerade auf einen Pfändungsbescheid gestoßen. Er muss ihn Anfang der Woche bekommen haben.“
Wolfgang blickte seine Tochter mit großen Augen an.
„Das verstehe ich nicht. Franziska sprach immer nur davon, er wäre stur und geizig wie ein Schotte. Von Geldproblemen war nie die Rede. Soweit ich weiß, hilft ihm jemand bei der Buchhaltung.“
„Ja, David, der Sohn seines Nachbarn.“
„Genau. Der muss doch gemerkt haben, dass etwas mit Henrys Finanzen nicht stimmt.“
Marleen wiegte unschlüssig den Kopf hin und her.
„Vielleicht hat Großvater nur vergessen, die letzten Rechnungen zu bezahlen, weil er so viel mit dem Baum zu tun hatte“, setzte sie sich für ihn ein. Aber was war dann mit den Mahnungen, die er in der Zeit davor mit Sicherheit zugeschickt bekommen hatte? Oder hatte er die Zahlungsaufforderungen absichtlich nicht beglichen, nach dem Motto: Erledigt sich von selbst. Eigenwillig genug war er dafür ja allemal. Diese Vermutungen behielt Marleen jedoch für sich.
Wolfgang ging grübelnd auf und ab und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf die Lippen.
„Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ihm eine Pflegekraft oder einen Platz in einem hübschen Seniorenheim zu besorgen. Wenn man das Haus verkauft, dürfte genug Geld dafür da sein. Man muss ja nicht warten, bis das Kind in den Brunnen fällt.“
Marleen warf ihrem Vater einen entsetzten Blick zu. Trotz aller Sorge um ihren Großvater, erschien ihr diese Lösung als viel zu drastisch.
„Das passt ihm bestimmt nicht. Meiner Meinung nach braucht er nur jemanden, der ihn bei allem ein wenig unterstützt. Der ihn darin bestärkt, dass er es wieder allein schaffen kann. Mir kommt es so vor, als habe er aus Kummer alles schleifen lassen.“
„Du meinst, er braucht eine Putzfrau?“
„Oder eine Art Gemeindehelferin vielleicht“, schlug sie vor. Dabei wusste sie genau, dass ihr Großvater diese Personen gar nicht erst ins Haus lassen würde.
Als sich Paul mit lautem Quengeln zu Wort meldete, ging Wolfgang zum Bett hinüber und begrüßte liebevoll seinen Enkel. Marleen nahm ihn auf den Arm und grub ihr Gesicht in seinen Kullerbauch, woraufhin er begeistert kreischte.
Wolfgangs Augen strahlten beim Anblick der Tochter-Kind-Idylle.
„Na, dem scheint es hier aber gut zu gehen.“ Erschreckt blickte er auf die Uhr. „Oh, ich muss runter zu Henry. Ich habe ihm versprochen, ihn bei der Sache mit dem Sturmschaden zu beraten.“
„Aber bitte, Papa. Sag ihm nicht, dass wir von dem Pfändungsbescheid wissen. Auch nicht, dass ich meine, er käme nicht mehr allein klar.“
„Ja, aber …“, begehrte er auf und verstummte sofort wieder. Die Schwierigkeiten seines Schwiegervaters machten ihm große Sorgen. Aber den alten Mann direkt mit diesen extremen Lösungsvorschlägen in Panik zu versetzen, war sicherlich der schlechteste Weg. Außerdem musste er erst mit Franziska reden, und das würde schon anstrengend genug werden.
„Okay, versprochen. Aber wir bleiben deshalb in Kontakt, ja?“, bat er mit besorgter Miene.
„Ja, natürlich.“ Marleen lächelte ihn dankbar an.
Nachdem sie Paul frisch gewickelt hatte, gingen sie gemeinsam die Treppe hinab und weiter zur Küche.
Henry saß am Tisch und starrte mit eisiger Miene aus dem Fenster. Auf dem Teller vor ihm lagen die drei Pfannkuchen und auf dem Tisch … das eingeschaltete Babyphone.