Kapitel 10
Marleen betrat vor ihrem Vater die Küche und blickte bekümmert zum Tisch. Machte sich ihr Großvater nichts aus süßen Mehlspeisen, oder warum hatte er sich noch keinen der Pfannkuchen genommen?
„Die drei sind übrigens für dich“, meinte sie wohlwollend. „Du hast heute Mittag doch bestimmt noch nichts gegessen.“
Als sie sich mit Paulchen zu ihm setzte und gedankenverloren nach dem Babyphone griff, um es auszuschalten, erstarrte sie vor Schreck. Wie ein Blitzschlag fuhr ihr die Erkenntnis durch den Kopf, dass er vermutlich alles von dem heiklen Gespräch mit ihrem Vater mitbekommen hatte. Natürlich. Kein Wunder, dass er so verbittert dreinschaute.
Mit schamrotem Gesicht wandte Marleen sich ihrem Vater zu, der abwartend an der Spüle lehnte, und deutete energisch auf das Babyphone. Der stutzte kurz, dann hatte auch er das Ausmaß der Katastrophe erfasst.
Sie versuchte, den drückenden Kloß in im Hals hinunterzuschlucken. „Blöd. Ich habe ganz vergessen, es auszuschalten“, stotterte sie mit heiserer Stimme und hob das kleine, weiße Gerät ein wenig an. „Was Papa und ich da oben besprochen haben, war nur so eine Überlegung und bestimmt nicht ernst gemeint. Wir machen uns halt nur Sorgen.“
Henrys Lippen wurden noch schmaler als sie ohnehin schon waren.
„Alles Sachen, die euch nichts angehen. Dieses Haus wird nicht verkauft! Und eure anderen segensreichen Hilfsangebote könnt ihr euch auch an den Hut stecken. Weder gehe ich in so ein dämliches Seniorenheim, noch lasse ich zu, dass irgendjemand Fremdes hier meine Sachen durcheinanderbringt, und sei es auch nur, um sie sauber zu halten. Und meine Geldangelegenheiten regele ich immer noch selbst.“ Ohne Marleen und Wolfgang anzuschauen verschränkte er mit einem grimmigen Schnaufen die Arme vor dem Brustkorb. „Ehrlich gesagt wäre es mir am liebsten, wenn ihr einfach geht und mich in Frieden lasst.“
Nachdem Wolfgang dem hilfesuchenden Blick seiner Tochter begegnet war, räusperte er sich kräftig.
„Henry, ich bitte dich. Versteh uns doch nicht falsch! Keiner von uns will und kann dir vorschreiben, wie du dein Leben zu führen hast. Und was deine Finanzen angeht, da hast du auch völlig recht. Das ist ganz allein dein Ding. Aber was spricht andererseits dagegen, dass man mit fast fünfundsiebzig ein bisschen Hilfe in Anspruch nimmt? Im Haushalt und im Garten zum Beispiel. Das machen Franziska und ich schon lange. Was ist denn so schlimm daran? Du als erfahrener Therapeut weißt doch am besten, dass ein älterer Mensch nicht mehr so leistungsstark ist und dass man mit seinen Ressourcen schonend umgehen soll. Hast du deinen Patienten nicht in Kneipps Sinn bis zum Schluss gepredigt, wie wichtig es ist, achtsam und verantwortungsvoll mit Körper und Seele umzugehen?“
Marleen blickte unsicher zwischen den beiden Männern hin und her. Ihr lagen auch noch ein paar Argumente auf der Zunge, doch das Reden überließ sie in diesem Moment lieber ihrem Vater. An seiner feinfühligen und diplomatischen Art, auf den schwierigen alten Mann einzugehen, merkte sie einmal mehr, wie gut er sein Metier beherrschte.
Henry schnaufte ein weiteres Mal. Dann beugte er sich ein wenig vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und tippte die Fingerspitzen beider Hände nachdenklich aneinander.
„Das hat doch bestimmt Franziska alles eingefädelt, oder? Seit Lissys Tod wäre es ihr sowieso am liebsten, ich würde gleich mit aus ihrem Leben verschwinden.“ Er warf seinem Schwiegersohn einen kurzen vorwurfsvollen Blick zu.
„Nein, nein, was redest du denn da? Deine Tochter hat damit überhaupt nichts zu tun.“ Wolfgang sah betreten zu Boden und ergänzte leise: „Sie weiß noch nicht einmal, dass ich jetzt hier bin.“
Henry drehte irritiert den Kopf zu ihm.
„Glaub ich nicht! Natürlich weiß sie davon! Sie hat es dir verboten zu kommen, stimmt's? Welchen Grund hättest du sonst, dich hinter ihrem Rücken auf den Weg hierher zu machen?“ Seine faltigen Augen blitzten feindselig.
Wolfgang warf den Kopf hin und her.
„Verboten, verboten! Das ist doch albern, Henry. Wir sind schließlich erwachsene Menschen. Was ich für richtig halte, tue ich auch. Egal, wie sie das findet. In Bezug auf dich hat sie allerdings schon ihre feste Meinung. Das will ich nicht abstreiten. Hängt wahrscheinlich mit eurer Familiengeschichte zusammen. Die kenne ich ja nun mal nicht so genau. Aber eins weiß ich: Auch wenn Franziska manchmal ein bisschen harsch und bestimmend ist, meint sie es trotzdem gut. Auch mit dir. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Ein bisschen harsch und bestimmend“, leierte er kaum hörbar und schaute nach draußen. „Ich möchte nur wissen, was ich ihr getan habe.“
Marleen hatte das aufgeladene Zwiegespräch bisher schweigend verfolgt. So angespannt wie ihr Vater dastand und nach den passenden Worten suchte, tat er ihr fast mehr leid als ihr Großvater, der mürrisch den Mund spitzte. Da sie keine Idee hatte, wie sie in der verfahrenen Situation helfen konnte, erhob sie sich und ging hustend zur Tür.
„Ich schaue mal nach Paulchen. Der müsste bald aufwachen.“
Mit einem Ruck streckte Wolfgang seinen Rücken und klatschte energisch eine Hand auf die Anrichte.
„Tja, Henry, wir drehen uns irgendwie im Kreis. Daher würde ich vorschlagen, dass wir uns jetzt mal mit dem Sturmschaden beschäftigen“, sagte er einigermaßen gefasst über den Tisch hinweg. „Der Gärtner, den ich dir vorbeigeschickt habe, sagte mir vorhin, dass er mit dem Zerlegen des Baums so gut wie fertig ist. Wie ich gesehen habe, ist das meiste ja auch schon abtransportiert. Da lässt sich jetzt bestimmt gut überschauen, was der Sturm bei deinem Nachbarn angerichtet hat. Aber egal, was dieser Rupert an Dingen aufgelistet hat, die kaputt gegangen sein sollen: Bevor kein neutrales Gutachten vorliegt, bist du nicht gezwungen, irgendetwas zu ersetzen.“
„Neutral! Dass ich nicht lache! Den Heini hat mein lieber Herr Nachbar doch längst entsprechend geimpft.“ Mit griesgrämiger Miene drückte sich Henry auf die Beine hoch und deutete seinem Schwiegersohn an, ihm zu seinem Schreibtisch im Wohnzimmer zu folgen, wo er die Schadensliste aufbewahrte.
Marleen hatte sich inzwischen in ihr Zimmer hinaufgeschleppt. In dem Moment, in dem sie sich über den Kopfteil ihres Bettes beugte, schlug Paul die Augen auf und quietschte in den höchsten Tönen.
„Na, mein süßer Schatz“, murmelte Marleen mit einem kraftlosen Lächeln. Der frustrierende Ausgang der Unterhaltung in der Küche zehrte mehr an ihr als sie gedacht hätte. Das spürte sie ganz deutlich an der beängstigenden Energielosigkeit, die sich plötzlich über ihren ganzen Körper ausbreitete. Als sie Paul an die Brust legte, bildeten sich dicke Schweißperlen auf ihrer Stirn, obwohl ihr kalt war. Mit einem verzweifelten Blick auf das konzentriert saugende Baby wischte sie sich mit einer Mullwindel das Gesicht trocken. Wo sollte das nur alles enden?
Eine Stunde später, als sie mit Paul nach unten ging, hatten die beiden Männer ihre Besprechung gerade beendet.
„Ah, ich wollte gerade nach euch beiden sehen“, rief ihr Vater zur Treppe hinauf.
Nach der untersten Stufe händigte Marleen ihrem Vater schwer atmend das Baby aus. Paul bestaunte mit großen Augen das Gesicht seines Opas und erreichte damit, dass Wolfgang zum ersten Mal an diesem Nachmittag befreit lachte.
„So aufgeschlossen und brav kenne ich dich ja gar nicht, kleiner Mann“, stellte er begeistert fest. Kaum hatte sein Blick Marleens fahles Gesicht gestreift, verdüsterte sich seine Miene sofort wieder.
„Aber du gefällst mir irgendwie gar nicht. Lässt Paul dir nicht genug Zeit, dich zu erholen?“ Er schaute besorgt zu Henry, der schweigend neben ihnen stand. „Wäre schön, wenn du ein bisschen darauf achten könntest, dass sie richtig isst und mehr zur Ruhe kommt.“
Marleen zwang sich zu lächeln. „Ach, mach dir keine Gedanken, Papa. Ich krieg das schon hin.“ Sie wandte sich lächelnd dem alten Mann zu, der immer noch ziemlich bedrückt wirkte. „Großvater hat mit dem Baum und dem Sturmschaden wirklich genug am Hals.“
„Ja, dann werde ich mich jetzt auf den Heimweg machen.“ Er schaute nachdenklich in die Runde und wandte sich dann wieder an seine Tochter.
„Ach, ja. Henry ist übrigens damit einverstanden, dass ihm jemand im Garten zur Hand geht. Wenigstens vorübergehend“, betonte er. „Bis seine Kräuter und Gemüsepflanzen wieder einigermaßen in Reih' und Glied stehen.“
„Das klingt doch gut. Und um den Rest kümmern wir uns gemeinsam, ja?“ Mit hoffnungsvoll geweiteten Augen wartete sie auf die Reaktion ihres Großvaters.
Als er kaum merklich nickte, atmete Marleen erleichtert durch. Also hatte ihr Vater es doch geschafft, den alten Griesgram ein bisschen zur Vernunft zu bringen. Es handelte sich zwar nur um ein kleines Zugeständnis seinerseits, aber es zeigte ihr, dass Henry doch mit sich reden ließ. Jedenfalls bewegte er sich - wenn auch mit kleinen Schritten - in eine vertretbare Richtung.
„Wenn es bloß so weiterginge“, seufzte Marleen in sich hinein, denn im Augenblick war ihr selbst Pauls Versorgung schon fast zu anstrengend. Sie wusste gerade nicht, wer hilfsbedürftiger war: ihr Großvater oder sie selbst. Mit aller Kraft riss sie sich soweit zusammen, dass ihr Vater nichts von ihrer Verzagtheit mitbekam. Er hatte heute schon genug für sie und Henry getan.
Gemeinsam verließen sie das Haus und schritten die beiden Stufen des Eingangspodests hinab. Hier verabschiedete sich Henry mit einem bedächtigen Nicken von Wolfgang, der seinen Enkel immer noch liebevoll vor sich hertrug, und verschwand in Richtung Garten.
Auf dem Weg zum Auto hatte Paulchen keine Lust mehr, länger bei seinem Opa auszuharren. Um einer Steigerung seines Unmuts zuvorzukommen, nahm Marleen ihn seufzend entgegen. Ihr Vater drückte sie zum Abschied herzlich und sah sie dabei eindringlich an.
„Mama und ich überlegen uns was für Henry. Er muss ja nicht merken, dass wir ihm helfen. Und du meldest dich auf jeden Fall, wenn es dir nicht bald besser geht, ja?“
Marleen nickte mit einem zweifelnden Kichern. Henry helfen! Da hatten sich ihre Eltern aber was vorgenommen. Bei der anschließenden, von tiefer Sorge geprägten Frage ihres Vaters musste sie abermals gegen die aufsteigenden Tränen kämpfen.
„Mach ich, Papa. Und danke, dass du trotz allem hergekommen bist. Dem alten Brummbär fällt es wahrscheinlich sehr schwer, über seinen Schatten zu springen und anderen zu vertrauen. Und mach Mama bitte klar, dass wir das hier schon hinkriegen. Es würde alles nur noch schlimmer machen, wenn sie sich jetzt auch noch einmischen würde.“ Wie immer, wenn sie sich vor dem Losheulen retten wollte, knuddelte sie ihr Gesicht an Paulchens Bauch und sog den süßen Duft seines warmen Körpers ein.
„Klar, verstehe ich, Kleines. Aber ich habe da schon so eine Idee. Lass dich überraschen.“ Er zwinkerte ihr mit einem Auge zu. Bereits mit einem Bein halb im Auto drehte er sich noch einmal zu ihr um und deutete auf den VW-Bus, der auf der gegenüberliegenden Seite des Kiesplatzes stand.
„Was wird denn nun mit dem Wagen von deinen Freunden? Musst du den nicht irgendwann zurückbringen?“
„Oh, nee! Den Bus habe ich ja ganz vergessen“, schoss es Marleen siedend heiß durch den Kopf. Nach dem Missgeschick mit dem eingeschalteten Babyphone war das nun schon die zweite grobe Unachtsamkeit an diesem Tag.
„Ja, das hab ich schon auf dem Schirm“, flunkerte sie. „Ich werde Klara und Maik heute Abend noch anrufen und alles klären.“
Ihr Vater winkte lächelnd und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Kurz darauf rollte sein Kombi knirschend über den schmalen Weg vor zur Landstraße, die die vielen kleinen Weinorte des Ahrtals Verband.
Auf der Uhr über der Küchentür war es mittlerweile halb fünf. Marleen beschloss, erst den Hunger ihres Sohnes zu stillen, bevor sie sich etwas zu essen genehmigte. Während Paul zügig und ohne Unterbrechung seine Brustmahlzeit einnahm, fiel ihr Blick auf den kleinen Pflanztopf in der Mitte des Esstisches. In ihm steckte ein wunderschönes Kultur-Gänseblümchen. Seine plüschig anmutenden Blütenblätter wechselten zum Rand hin von strahlendem Weiß in dunkles Rosé.
Ein verwundertes Lächeln huschte über Marleens Gesicht. Sie hätte schwören können, dass die Pflanze vorhin noch nicht da gestanden hatte. Sollte Henry sie hingestellt haben, als sie gerade mit ihrem Vater zum Parkplatz gegangen war? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber wer außer ihm fand hier im Haus sonst noch Gefallen an solchen unscheinbaren Naturschönheiten? David waren romantische Dinge doch genauso fremd wie Kleinkinder. Männer wie er kämen höchstens darauf, sich bei Bedarf ein hübsches Foto aus dem Internet herunterzuladen und es anstelle eines Blumenstraußes zu verschicken.
Marleen streichelte Pauls erschlafftes Schlafgesicht. Wie niedlich es aussah, wenn seine Ärmchen herabfielen und er sich immer mehr entspannte. Behutsam bettete sie ihn in den Kinderwagen, den sie vor dem Küchenfenster abgestellt hatte, und legte ihm eine Decke über die Beine.
Jetzt erst merkte sie, wie ausgetrocknet ihre Kehle war. Verdammt! Warum vergaß sie bloß ständig, regelmäßig zu trinken! Nach einem großen Glas Milch bereitete sie sich ein üppig belegtes Butterbrot zu und setzte sich damit an den Tisch. Großen Hunger hatte sie eigentlich nicht, aber etwas essen musste sie halt, wenn sich ihr Zustand nicht noch weiter verschlechtern sollte.
Beim letzten Bissen ging die Tür auf und Henry schlürfte herein. Seine weißhäutigen Füße steckten wie immer in den abgewetzten Gesundheitslatschen, in denen er sicherlich schon Jahrzehnte gearbeitet hatte. Die grüne Gartengarderobe hatte er allerdings gegen eine bequeme Trainingshose und ein Polo-Hemd eingetauscht.
Marleen rief ihm ein gedämpftes Hallo zu und hustete sofort los. Aus dem Augenwinkel verfolgte sie, wie er kopfschüttelnd den Schrank öffnete und zum obersten Bord hinaufschaute.
Beim Zusammensuchen der Zutaten für die Pfannkuchen war sie schon auf diese vielen kleinen Dosen mit den unleserlichen Aufklebern gestoßen. Die Bezeichnungen Melisse und Pfefferminze konnte sie sich anhand ihrer auffälligen Buchstabenkombinationen herleiten. Aus den übrigen Namenszügen war sie jedoch nicht schlau geworden. Die wenigen Schulstunden in der früher üblichen Deutschen Schrift hatten bei ihr keine Erinnerung hinterlassen.
Mit einer größeren, gut gefüllten Dose kam Henry auf den Tisch zu und tippte auf das vergilbte Schild.
„Das hier ist Hustentee aus Spitzwegerich, Thymian, Fenchel und Pfefferminze. Die Kräuter habe ich im vergangenen Sommer geerntet, sind also noch ziemlich frisch. Am besten, du trinkst ab jetzt drei- bis viermal täglich eine große Tasse. Er muss mit heißem, nicht mit kochendem Wasser, aufgegossen werden. Nach fünf Minuten kannst du ihn dann in kleinen, achtsamen Schlucken trinken.“ Nachdem er den Behälter vor Marleen auf den Tisch gestellt hatte, setzte er den Wasserkocher in Betrieb und nahm eine der wuchtigen, mit Kräutern bemalten Teetassen vom Regal über der Anrichte.
„Lass nur, O'Henry! Das musst du nicht für mich tun. Den Tee kann ich mir schon selbst kochen“, bot sie ihrem Großvater sofort an.
Er nickte nur, während er einige Löffel voll Kräuter in die Tasse füllte und mit dem leicht abgekühlten Wasser übergoss. Nachdem er den Sud behutsam umgerührt hatte, stellte er die Tasse vor ihr ab und setzte sich zu ihrer Verwunderung ebenfalls an den Tisch.
Eine Weile schwiegen sie ohne sich anzusehen. Als Marleens trockener Husten erneut durchbrach, blickte er sie nachdenklich an.
„Du plagst dich ja ganz schön herum“, stellte er mit einem kurzen Blick in ihr abgespanntes Gesicht fest.
„Wegen des Hustens, meinst du? Ach, der wird sich schon irgendwann wieder verflüchtigen.“
Henry lachte höhnisch. „Verflüchtigen! Solange du deine Probleme nicht anpackst, kannst du lange auf Besserung warten.“
Marleen errötete. „Was für Probleme?“ Glaubte sie wirklich, Henry nähme ihr die Leichtigkeit ab, mit der sie das Thema abzuhaken versuchte? „Gerade der Husten ist ja mein Problem. Und den versuche ich schon seit einigen Tagen, in den Griff zu bekommen.“
Der alte Mann hob provozierend die rechte Augenbraue.
„Indem du herumrennst und deinen Sohn durch die Gegend schleppst, ständig irgendwo aufräumst und putzt und dich trotz des kräftezehrenden Stillens nicht schonst? Mädchen, du solltest nicht das Huhn mit dem Ei verwechseln. Dein Hauptproblem ist nicht der Husten. Der weist dich höchstens mit Nachdruck darauf hin, dass in deinem Leben gerade etwas ziemlich aus dem Ruder läuft und du absolut nicht weißt, wie du es ändern kannst. Schon der alte Vater Kneipp wusste, dass ein chronisch hustender Mensch etwas loswerden will. Indem er ständig trocken hustet, macht er deutlich, dass er sich von etwas befreien möchte, das ihn ärgert oder extrem belastet.“
Marleens Mund ging wortlos auf und zu.
„Und was ist mit der Ansteckungstheorie? Dass gerade Erkältungsviren problemlos über die Luft von einem zum nächsten übertragen werden? Soll das alles nicht stimmen?“
„Doch, doch. Nur wie erklärst du dir, dass sich nicht jeder ansteckt, der angehustet wird?“
Sie wusste genau, worauf seine Frage abzielte. Er wollte von ihr hören, dass das Immunsystem die entscheidende Rolle spielt. Doch seltsamerweise brachte sie es nicht über sich, ihm diese Begründung zu nennen. Vielleicht, weil es sich wie ein Schuldeingeständnis anfühlte. So, als hätte er sie bei der Einstellung ertappt, nicht viel für gute Abwehrkräfte tun zu müssen. Aber so war es natürlich nicht. Ihre eigentliche Trotzreaktion beruhte auf etwas anderem, und zwar auf dem unguten Gefühl, er wolle sie unbedingt von seiner selbstgestrickten Heilphilosophie überzeugen. Sie konnte es zwar nicht begründen, aber seine psychologischen Schlussfolgerungen kamen ihr reichlich fragwürdig vor. Ein bisschen wie Gesundheitstipps aus einer esoterischen Zeitschrift. Von Zweifeln hin- und hergeworfen umfasste sie ihre dampfende Teetasse.
„Vermutlich, weil diese Menschen schon allen möglichen Viren ausgesetzt waren und daher weitestgehend immunisiert sind.“
Henry schüttelte energisch den Kopf. „Ach, Quatsch! Dahinter verbirgt sich etwas ganz anderes. Es stecken sich nämlich nur Menschen an, die ein geschwächtes Immunsystem haben. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer“, entwickelte er seinen Gedankengang weiter. „Bei dir fallen mir gleich drei Gründe ein, weshalb deine Immunabwehr zurzeit so schlecht ist. Der eine ist sicherlich das Stillen. Ich kenne dich zwar kaum, Marleen, aber mit Verantwortungsbewusstsein hat das wenig zu tun, was du hier treibst. Weder für dich noch für deinen Sohn.“
Sie starrte ihren Großvater fassungslos an. Was war denn falsch daran, dass sie sich abmühte, den Bedürfnissen ihres viermonatigen Säuglings gerecht zu werden? Machten das nicht alle pflichtbewussten Mütter?
„Ja, aber was soll ich denn machen?“, brach es voller Verzweiflung aus ihr heraus. „Ich will doch nur alles richtig machen für Paul. Ihm eine gute Mutter sein. Eine, die sich voll und ganz für das Wohl ihres Kindes einsetzt. Deshalb will ich ihn ja auch mindestens ein halbes Jahr stillen und mir nicht das Leben mit Fläschchen und Gläschen bequem machen. Nur so kann man sich heute sicher sein, seinem Kind einen guten Start ins Leben zu geben. Es gibt doch nichts Besseres als intensive Zuwendung und die ganzen Nähr- und Abwehrstoffe in der Muttermilch. “ Sie war mit einem Mal so aufgebracht, dass ihr Kopf ganz heiß wurde.
„Alles das brauchst du gerade dringend selber“, ergänzte Henry mit einem milden Lächeln.
Marleen funkelte ihren Großvater verärgert an.
„Willst du mir etwa einreden, dass ich alles falsch mache? Dass ich mein Kind nicht gut versorge?“ Der Zorn in ihr wurde von Wort zu Wort heftiger. Woher wollte dieser alte Mann eigentlich wissen, was der aktuelle Stand in der Kinderheilkunde war? Bräsige Altmänner-Überheblichkeit traf den Nagel vermutlich genau auf den Kopf.
Henry presste die Lippen zusammen.
„Nein, das will ich bestimmt nicht. Aber ich möchte dich nur bitten zu überlegen, was für dein Kind wertvoller ist: eine gesunde Bezugsperson, die zufrieden und ausgeruht in den Tag hinein planen kann, oder eine Mutter, die ihr Kind unter Mobilisierung ihrer letzten Kraftreserven versorgt und dabei selbst immer mehr abbaut?“ Er sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Was wäre denn so schlimm daran, wenn du jetzt schon aufhörst zu stillen und dich erst mal ausschließlich um deine Gesundheit kümmerst? In welchem Lehrbuch steht denn geschrieben, dass Stillkinder ihr Leben lang die gesünderen Kinder sind? Millionen von Babys werden weltweit liebevoll mit der Flasche großgezogen und entwickeln sich blendend, ohne jegliche Einbußen in der Entwicklung.“
Marleen war mittlerweile so durcheinander, dass sie das Gedankenchaos in ihrem Kopf kaum noch bändigen konnte. Abstillen, jetzt! Was für ein Schwachsinn! Dafür sollte sie sich wochenlang eingeschränkt und ausgepowert haben? Kam ja gar nicht in Frage.
„Entschuldige, aber das muss ich schon selbst entscheiden.“ Sie atmete tief durch, um wenigstens einen Teil ihres Unmuts loszuwerden. Um sich und Henry auf andere Gedanken zu bringen, griff sie einen früheren Punkt ihrer Unterhaltung auf.
„Und was für Probleme sollen das deiner Meinung nach noch sein, mit denen ich gerade mein Immunsystem torpediere?“ Das provokante Aufblitzen in ihren Augen konnte sie nur mit Mühe unterbinden.
„Erwähntest du bei unserer Begrüßung gestern Morgen nicht, du hättest dich gerade von Pauls Vater getrennt?“ Bei seinem prüfenden Seitenblick spitzte er leicht den Mund. „Du willst doch nicht leugnen, dass das Scheitern einer engen Beziehung hohen Stress bedeutet? Und dann deutete dein Vater vorhin an, du hättest deinen Arbeitsplatz gekündigt, weil du gemobbt wurdest. Auch das war bestimmt eine schwere, nervenaufreibende Zeit.“
Eigentlich wollte sie Henry an den Kopf werfen, dass ihn das alles nichts anginge und sie schon längst darüber hinweg wäre. Doch seltsamerweise gehorchte ihre Stimme nicht mehr. Stattdessen schüttelte sie nur stumm den Kopf.
Henry bemerkte ihren Wandel mit sichtbarer Erleichterung. „Und dass deine Mutter ihren Teil zu deinem Leid beiträgt, ist wohl auch kein Geheimnis zwischen uns, oder?“
Betreten stimmte Marleen ihm zu und kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. So sehr sie es auch wollte, so wenig kam sie gegen die Tränen an, die plötzlich in Sturzbächen an ihren Wangen hinabrannen. Einen Atemzug später vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und schluchzte haltlos.
„Aber was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?“, presste sie heiser hervor und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie seine große, warme Hand auf ihrem Unterarm spürte.
„Am besten mal eine Zeitlang gar nichts“, meinte er mitleidig schmunzelnd. „Die Welt bricht nicht gleich zusammen, wenn man die Zügel mal ein bisschen schleifen lässt und zur Besinnung kommt. Du hast doch vor kurzem eine Ausbildung zur Physiotherapeutin absolviert. Hat man dir da nicht auch beigebracht, aus welchen fünf Säulen die Kneipp'sche Gesundheitslehre besteht?“
„Doch, schon.“ Marleen schniefte kräftig durch und zählte stockend auf: „Aus den Elementen Wasser, Bewegung an der frischen Luft, gesunde Ernährung und …?“ Die beiden restlichen Elemente fielen ihr gerade nicht ein.
„Richtig. Dann gehört noch das Wissen von der Heilkraft der Pflanzen dazu und ganz wichtig - die Ordnungstherapie. Ihre Bedeutung hat Kneipp wunderbar in einem Satz zusammengefasst:  Im Maße liegt die Ordnung, jedes Zuviel und jedes Zuwenig setzt an Stelle der Gesundheit Krankheit.“
Marleen musterte ihren Großvater erstaunt.
„Wie kommt es eigentlich, dass du dich so gut mit Kneipp auskennst?“
„Ja, ja, der Irrglaube, dass Masseure nichts als Paraffinöl und Fango im Kopf hätten, besteht nicht erst seit deiner Ausbildungszeit“, meinte er schmunzelnd. Dann erzählte er ihr von der Zusatzausbildung in Bad Wörishofen, die er gleich zu Beginn seiner Selbstständigkeit angehängt hatte.
„Wolltest du damit deinen Kundenkreis erweitern, oder weshalb hast du dich in diese Richtung weitergebildet?“
Henrys Augen leuchteten plötzlich vor Freude an ihrem Interesse.
„Nein, nein. Das lag darin begründet, dass ich Sebastian Kneipp schon als junger Mann bewundert habe. Sein Wissensdurst, der Fleiß, mit dem er seine botanischen und medizinischen Erkenntnisse gesammelt und ausgewertet hat und das emsige Bestreben, anderen zu einem gesünderen Leben zu verhelfen, all das hat mir imponiert. So sehr, dass ich mir nichts mehr gewünscht habe, als irgendwann in seine Fußstapfen zu treten. Was lag da also näher, als mich zum Kneipp-Therapeuten ausbilden zu lassen?“ Er sah gedankenverloren in die Ferne. „Das war die beste Entscheidung meines Lebens, obwohl …“ Ein Hauch von Trauer und Resignation ließ seine Lippen schmal werden.
„Obwohl was?“
Er schluckte. „Das gilt zwar für alle Menschen, aber besonders als Therapeut sollte man niemals den Fehler machen, sich für allwissend und über alle natürlichen Kräfte erhaben zu fühlen. Das letzte Wort hat immer noch ein anderer“, ergänzte er leise und deutete zum Himmel.
Als Marleen sah, wie sein Kopf abwärts sank, wusste sie sofort, an was er gerade dachte. Vermutlich hatte er sich von seinem großen Erfahrungsschatz über die Kneipp'sche Naturheilkunde erhofft, das Leid seiner kranken Frau erträglicher zu machen. Vielleicht war er ja sogar fest davon überzeugt, ihr die Gesundheit zurückgeben zu können. Wie schlimm musste es da gewesen sein, täglich mit ansehen zu müssen, wie die an sich sehr wirkungsvollen Naturanwendungen scheiterten und sich der Verfall des geliebten Partners nicht aufhalten ließ! Ihr zerknirschter Blick streifte seine traurigen Augen, in denen sie sogar etwas Feuchtes zu sehen glaubte.
„Ja, das muss ich wohl auch noch lernen, dass ich trotz meiner therapeutischen Fähigkeiten und dem angeblich so fundierten medizinischen Wissen die Ehrfurcht vor dem Wunderwerk Leben nicht verliere.“
Henry richtete sich ein wenig auf und sah ihr mit tiefem Einverständnis in die Augen.
„Richtig, Marleen. Genau darauf kommt es an. Dass man erkennt, wo der eigene Einfluss endet und ab wann man auf fremde Hilfe vertrauen sollte. Bei Lissy war ich mir nie sicher, wann der richtige Zeitpunkt dafür war. Sie war so tapfer und hat mich immer unterstützt in meinem Bestreben, ihr zu helfen. Sie wollte auf keinen Fall an Schläuchen und Apparaten angeschlossen sterben. Das war bis zuletzt ihr innigster Wunsch. Wenigstens den habe ich ihr erfüllen können“, fügte er mit fast erstickter Stimme hinzu und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Gesicht.
Ein warmes Gefühl der Verbundenheit durchströmte Marleens Körper. Was war nur geschehen, dass ihr Henrys Beweggründe und Gedanken mit einem Mal so einleuchtend und empathisch vorkamen? Und wie konnte ihre Mutter nur annehmen, er habe nicht alles versucht, seiner Frau das Leid erträglich zu machen? Sie streichelte sanft über die faltige, grau behaarte Hand, die er kraftlos auf dem Tisch abgelegt hatte.
„Vielleicht müssen wir beide beginnen, wieder mehr Ordnung in unser Leben zu bringen“, resümierte sie aus ihrem tiefsinnigen Gespräch.
Während sie von dem abgekühlten Tee nippte, nickte er bedächtig.
„Ich finde, wir sollten uns dabei gegenseitig unterstützen“, schlug er mit einem hoffnungsvollen Zwinkern vor. „Für dich gilt das aber erst, wenn du wieder richtig fit bist.“
Marleen leerte die Tasse. Ein wenig bitter schmeckte der Sud schon, aber keinesfalls widerwärtig.
„Ich werde jetzt mit Paulchen nach oben gehen und ein paar Sachen regeln. Und mehr unternehme ich heute nicht mehr. Versprochen.“ Sie schenkte ihrem Großvater ein abschließendes Lächeln.
„Ach, was ich dich noch fragen wollte, O'Henry: Ist dieses hübsche Gänseblümchen eigentlich von dir?“ Sie zeigte auf den Topf in der Mitte des Tisches.
„Nee, nee. Das hat mir der Kerl in die Hand gedrückt, den dein Vater wegen des umgekippten Baums hergeschickt hat. Du weißt schon, dieser Blonde mit der Kettensäge.“ Ihr Großvater schmunzelte leicht. „Dann faselte er noch was von einer hübschen, jungen Frau mit dem Baby. Hab aber nur die Hälfte verstanden. Er meinte jedenfalls, du wüsstest Bescheid.“
Marleen bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu nicken. Damit ihr Großvater nicht sah, wie rot ihre Wangen mit einem Mal wurden, nahm sie rasch ihren schlafenden Sohn aus dem Wagen und verließ die Küche.
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Paul auf dem Weg nach oben aufwachen würde. Doch selbst als sie ihn auf das Bett legte und zudeckte, schlummerte er tief entspannt weiter. Einen Moment beobachtete sie noch, ob er sich regte, dann schlich sie mit ihrem Handy zur Sesselgruppe am anderen Ende des Zimmers. Richtig behaglich wirkte das Ensemble mit der Abendsonne im Hintergrund.
Während sie Klaras Nummer aufrief, genoss sie die wärmenden Strahlen auf ihrem Rücken.
Nach wenigen Wartezeichen meldete sich die vertraute Stimme.
„Ja, gibt es das denn?! Marleen, wie geht es dir? Ich dachte schon, du hättest dein Handy beim Spazierengehen in den Ahrtaler Weinbergen versemmelt.“
Marleen kicherte amüsiert.
„Hallo, Klärchen“, begrüßte sie ihre Freundin mit einem wehmütigen Unterton in der Stimme. „Schön wär's ja, das mit dem Spazierengehen.“ Sie hustete kräftig durch, wobei das heiße Brennen im Brustkorb sie sofort in die ernüchternde Gegenwart zurückholte.
„Wie geht's euch denn, da hinter den Bergen bei den sieben Zwergen? Hat sich Paulchen schon an die fremde Umgebung gewöhnt?“
„Ja, ja, dem geht es gut.“
Die folgende, kurze Pause kam Klara komisch vor. Marleen sprudelte doch sonst immer gleich los.
„Nun erzähl schon! Hast du den alten Griesgram, ich meine, deinen Großvater, inzwischen ein bisschen auf dich eingenordet? Tickt er wirklich so schlimm, wie es deine Mutter behauptet? Hoffentlich bist du bei ihm nicht vom Regen in die Traufe gekommen.“
„Nein, nein, alles bestens hier. Henry hat viel mit seinem Garten zu tun. Trotzdem gibt er sich große Mühe, es uns recht zu machen. Mein Vater war heute übrigens wegen des Sturmschadens hier. Zum Glück. Ohne ihn wäre mir euer Bus gar nicht in den Sinn gekommen. Entschuldige bitte, dass ich mich jetzt erst melde. Am liebsten würde ich ihn euch gleich morgen wiederbringen. Samstagvormittags seid ihr doch meistens zu Hause.“ Weil sie erneut husten musste, bat sie Klara, ihre Antwort zu wiederholen.
„Ich sagte, dass ich mich heute Abend sowieso bei dir gemeldet hätte. Wir sind nämlich gerade komplett unmotorisiert. Maik musste seinen Wagen gestern in die Werkstatt bringen, weil die Bremskontrollleuchte blinkte. Er meinte zwar, ein paar Kilometer mehr würden der Kiste nichts ausmachen. Aber ich halte ehrlich gesagt nichts davon, mit abgefahrenen Belägen durch die Gegend zu fahren.“
„Um Himmels Willen, Klara, das ist ja viel zu gefährlich.“ In Marleens Schläfenadern pochte das Blut. So sehr ärgerte sie sich über ihr Versäumnis.
„Morgen habt ihr den Bus zurück. Wenn ich es mit Paul schaffe, mache ich mich in aller Frühe auf den Weg nach Köln.“
„Und wie willst du dann wieder nach Bad Neuenahr zurückkommen?“, hakte Klara sofort nach. „Nee, nee. Da muss eine andere Lösung her. Außerdem ist die Fahrt für dich und Paul viel umständlicher als für uns beide.“
„Hm. Ja, aber …“, druckste Marleen herum. Dann fiel ihr etwas ein.
„Ich könnte meinen Vater bitten, euch den Kombi zur Verfügung zu stellen. Dann müsstet ihr nur mit zwei Autos zurückfahren.“
Klara dachte kurz nach.
„Keine schlechte Idee. Versuch doch mal dein Glück“, schlug sie munter vor.
„Klar, das mache ich gleich im Anschluss. Oh, nee, jetzt ist Paul aufgewacht.“ Sie reckte sich, um ihn besser sehen zu können. Da er ihre Stimme hörte, weinte er nicht gleich los, sondern teilte ihr nur mit hellen Quietschern mit, wie sehr er sich nach ihrer Nähe sehnte.
„Dann kümmere dich um ihn. Wir können ja gleich weitersprechen, wenn er satt ist und du deine Eltern angerufen hast.“
„So machen wir es“, antwortete Marleen und verabschiedete sich rasch von ihrer Freundin.
Ihren Vater um das Auto zu bitten, war eine leichte Aufgabe. Bevor sie jedoch mit ihm telefonieren konnte, musste sie Paul komplett umziehen. Nach dem ungewöhnlich langen Mittagsschlaf war das Fassungsvermögen seiner Windel um einige Milliliter überschritten. Als sie ihn nach dem Wickeln in Sichtweite auf dem Teppich ablegte, wurde ihr ganz warm ums Herz. So zufrieden und konzentriert hatte sie ihn noch nie mit seinem neuen, hölzernen Herz spielen sehen.
„Kein Problem. Natürlich können deine Freunde unser Auto haben. Alternativ kann ich den Bus aber auch abholen. Auf diese Weise hätte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, meinte er mit einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme. „Für den Hinweg ließe sich ja auch die Deutsche Bundesbahn bemühen.“
„Lieb von dir, Papa, aber meine Idee finde ich besser. Erstens musst du die Strecke dann nicht noch einmal fahren und zweitens freue ich mich ja auch, meine Freunde wiederzusehen. Vielleicht schaffe ich es ja, einen Kuchen für sie zu backen.“
Nachdem sie noch einige Worte über Henry und die Gartenarbeit gewechselt hatten, verblieben sie so, dass Klara und Maik das Auto am nächsten Vormittag abholen würden.
Nach einem erleichterten Aufatmen bedankte sich Marleen noch einmal ganz herzlich bei ihrem Vater.
„Prima, dass ich auf euch zählen kann, wenn Not an Mann ist. Das hilft mir im Moment sehr. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und liebe Grüße an Mama, auch von Paul.“
Nachdem sie Klara von dem Ausgang des Gesprächs unterrichtet hatte, kroch sie völlig ermattet zu ihrem schlafenden Sohn unter die Bettdecke. In den darauffolgenden Stunden wurde sie immer wieder von heftigen Hustenattacken heimgesucht, nach denen sie nur kurz und oberflächlich einschlief. Um vier war die Nacht für sie dann endgültig vorbei. Von da an brüllte Paul ohne ersichtlichen Grund und mit einer penetranten Ausdauer. Am Ende blieb ihr nur noch das schuckelnde Herumtragen im blassen Schein ihrer Nachttischlampe übrig. Mit einem steten Wechsel aus stummem Umherschauen und ungeduldigem Quietschen ließ es der kleine Kerl mit sich geschehen. An ein Weiterschlafen war jedoch nicht mehr zu denken. Sobald Marleen ihn niederlegte, ging das Geschrei von Neuem los.
Selbst die kurze heiße Dusche, die sie sich um sechs Uhr gönnte, verschaffte ihr keine körperliche Besserung. Ganz im Gegenteil. Danach fröstelte sie so sehr, dass sie ihren dicksten Winterpulli überziehen musste, um wieder einigermaßen warm zu werden. Gegen sieben überlegte sie, ob sie in die Küche gehen sollte, um sich ihren Hustentee zuzubereiten. Doch irgendwie fehlte ihr nicht nur die Kraft, sondern auch der innere Antrieb dazu. Als ihr beim Aufstehen dann noch schwarz vor Augen wurde und sie sich schnell wieder legen musste, um nicht ohnmächtig zu werden, schüttelte sie verzweifelt den Kopf. So konnte es auf keinen Fall weitergehen! Nach einem flehenden Blick zur Decke kamen ihr wieder Henrys Worte zur Kneipp'schen Naturheillehre in den Sinn. Was hatte er ihr noch als Begründung für ihren festsitzenden Husten gesagt? Ja, richtig. Er habe etwas mit Machtlosigkeit und dem Wunsch nach Befreiung zu tun. Dass sie versuchte etwas loszuwerden, das sie ärgerte und belastete und für das sie keine Lösung wusste.
„Was meint er denn bloß damit“, zischte sie ungehalten in die Luft. „Paul und mir geht es doch gut hier. Und wenn Sven wirklich nichts mehr von uns wissen will, dann soll er es eben bleiben lassen. Und auf seine Drei-Euro-Fünfzig für den Unterhalt kann ich auch verzichten. Denen renne ich nicht hinterher.“ Aber wovon sollte sie auf Dauer leben? Was, wenn sie nach der Mutterschutzzeit keinen neuen Job fand, weil sie Paul nicht unterbringen konnte?
Mit einem Mal spürte sie, wie der Husten in ein Weinen überging. Erst mit Unterbrechungen, dann immer heftiger. Am Ende konnte sie ihren Heulkrampf nicht mehr stoppen. Ihr ganzer Körper vibrierte unter den immer wiederkehrenden Schluchzern und Hustenstößen. Da Paul neben ihr zunehmend lauter protestierte, rappelte sie sich nach einigen Minuten mühsam auf, wartete eine Weile, bis ihr Kreislauf stabil genug war und machte sich dann mit ihm auf den Weg zur Küche.
Henry saß bereits am fertig gedeckten Frühstückstisch. Als Marleen eintrat, blätterte er genüsslich kauend in der Tageszeitung. Die dampfende Tasse mit dem Hustentee stand griffbereit neben ihrem Teller.
Marleens Guten-Morgen-Gruß klang anscheinend so jämmerlich, dass er abrupt die Zeitung sinken ließ und sie beim Niedersetzen prüfend ansah.
„Meine Güte, Mädchen. Du siehst ja aus wie der blühende Tod. Hast du mal Fieber gemessen?“
Sie wischte beschwichtigend durch die Luft.
„Nein, nein, alles in Ordnung. Die Nacht war nur ein bisschen kurz. Paul hat das mit dem Durchschlafen noch nicht so gut raus.“
Er schnaubte mitleidig lächelnd.
„Ja, ich vermute, der kleine Mann ist jetzt in einem Alter angekommen, in dem er mehr Abwechslung und Beschäftigung braucht. Und vor allem muss er mehr an die frische Luft.“
Marleen war erleichtert, dass Henry nicht schon wieder ihre Stillambitionen bemängelte. Ihre Mutter hätte an dieser Stelle längst gemeckert und ihren bewährten Babyabendbrei ins Spiel gebracht.
Nachdem sie Paul auf ihrem Schoss zurechtgerückt hatte, nahm sie einen kräftigen Schluck Hustentee.
„Heute Vormittag kommen Freunde von mir vorbei und holen den Bus ab“, informierte sie ihren Großvater, während sie eine Brotscheibe mit Schinken, Gurke und Paprika belegte. „Macht es dir was aus, wenn ich einen Kuchen für sie backe?“
Eigentlich hatte sie sein promptes und freudiges Einverständnis erwartet. Stattdessen blickte er sie nur verständnislos an.
„Damit willst du dich in deinem Zustand auch noch abmühen? Merkst du eigentlich, dass du dich immer nur um andere kümmerst und nie um dich selbst? Achtsam mit sich selbst umzugehen, bedeutet doch nicht, desinteressiert und egoistisch zu sein. Gute Freunde verstehen das, und auf alle anderen kann man ohnehin pfeifen.“
Mit nachdenklicher Miene biss sie von ihrem Brot ab. Nach einer Weile nickte sie.
„Ja, du hast Recht. Das mit dem Kuchen muss nicht heute sein.“
Gleich darauf erhob sich Henry und räumte sein Geschirr in die Spüle.
„Ich muss jetzt raus in den Garten und retten, was noch zu retten ist.“
Seine dramatischen Worte erinnerten sie an den vergangenen Mittag, als sie Henrys Gartenhelfer mit Kaffee und belegten Brötchen versorgt hatte.
„Der Gärtner, den dir Papa hergeschickt hat, du weißt schon, der Blonde mit der Kettensäge, der meinte gestern zu mir, du hättest einen riesigen, außergewöhnlichen Kräutergarten. So etwas würde man heutzutage nur noch ganz selten finden.“
Henry schnaubte verdrießlich.
„Hatte ich vielleicht mal. Jetzt ist er komplett zerstört“, ergänzte er mit einem zornigen Funkeln in den Augen. „So etwas lässt sich nie wieder gut machen. Das war Arbeit von Jahrzehnten.“ Mit grimmigen Furchen auf der Stirn stapfte er aus der Küche.
Kaum dass Marleen zu Ende gefrühstückt und alles weggeräumt hatte, sah sie durch das Küchenfenster, wie der Kombi ihres Vaters über den Kiesweg auf das Haus zurollte.
Rasch klemmte sie sich Paul auf die Hüfte und ging ihren Freunden entgegen.
Klara kam sofort mit ausgebreiteten Armen auf sie zugeeilt und umfasste Mutter und Kind mit einem freudigen Hallo.
„Ach, ist das schön, euch wiederzusehen“, juchzte Marleen in die wuschelige Lockenpracht ihrer Freundin hinein. „Da müsst ihr ja schon in aller Herrgottsfrühe losgefahren sein.“
Als sie sich aus Klaras Umarmung gelöst hatte, um auch Maik gebührend zu begrüßen, weiteten sich überrascht ihre Augen. Gleich zwei Männer kletterten aus dem Wageninnern und streckten mit tiefem Stöhnen ihre Rücken gerade. Als Marleen erkannte, um wen es sich bei der dritten Person handelte, flatterte ihre Bauchdecke wie ein Wäschestück im Sommerwind. Der dritte im Bunde, der gerade einen wuchtigen, grauen Seesack aus dem Kofferraum hob und schulterte, war kein anderer als Bastian. Mit raumgreifenden, federnden Schritten kam er auf die kleine Gruppe vor dem Hauseingang zu.
Erst zwickte er Paul liebevoll ins Bein, dann warf er Marleen von der Seite her einen vielsagenden Blick zu.
„Hallo, Marleen. So schnell sieht man sich wieder.“ Als er ihre dunklen Augenränder bemerkte und die krampfhaften Versuche, den Hustenreiz zu unterdrücken, verschwand sein fröhliches Begrüßungslächeln augenblicklich und machte einem erschreckten und tief besorgten Blick Platz.
„Na, wirklich besser scheint es dir ja nicht zu gehen.“
Denselben Eindruck hatte Klara auch schon von ihrer Freundin gewonnen. Für sie stand allerdings fest, dass Marleens mitgenommenes Aussehen einzig und allein mit der aufopfernden Babypflege zu tun hatte. 
„Ist ja auch kein Wunder, wenn man diesem schnuckeligen, ewig hungrigen Kerl alle Nase lang den Bauch füllen muss. Siehst du, da ist es doch ganz gut, dass wir dir heute nicht lange auf den Wecker fallen können.“ Sie nickte Maik auffordernd zu. „Wir sind nämlich deshalb so früh hier, weil wir gleich wieder nach Köln zurück müssen. Meine Mutter feiert heute ihren Fünfzigsten. Spätestens um eins soll sich die ganze Familie zum Mittagessen im Treppchen in Rodenkirchen einfinden. Aber dafür haben wir dir ja auch Ersatz mitgebracht.“ Sie deutete mit einem mehrdeutigen Zwinkern auf den hoch gewachsenen Mann in Jeans und Holzfällerhemd neben ihr und lieferte die Erklärung zu der besonderen Situation gleich mit. „Bastian soll deinem Großvater wohl noch eine Weile im Garten helfen. Und damit er nicht täglich nach Köln pendeln muss, hat dein Paps mit deinem Großvater vereinbart, dass er solange hier bei euch wohnt.“ Ihr Blick glitt über die riesige, zweistöckige Fensterfront. „An Platzmangel dürfte das ja nicht scheitern.“
Marleen musterte Klara verdutzt.
„Das haben Henry und Papa vereinbart?“
Obwohl sie sich riesig auf den Besuch gefreut hatte, war Marleen sichtlich erleichtert, als sie hörte, dass ihre Freunde gleich wieder zurückfahren wollten. Seit der Begrüßung spürte sie, wie Paul in ihren Armen immer schwerer wurde. Schon mehrmals hatte sie das unruhige Bündel von einer auf die andere Hüftseite bugsiert. Lange würde sie ihn nicht mehr halten können.
„Wollt ihr nicht wenigstens kurz reinkommen und etwas trinken?“, fragte sie pflichtbewusst nach.
Doch Klara wehrte entschieden ab.
„Danke, Marleen, das ist lieb gemeint. Aber mir wäre wohler, wenn wir uns gleich wieder auf die Socken machen könnten. Der Kölner Ring war vorhin schon voll.“ Sie blickte ihre Freundin zerknirscht an. „Du bist uns doch nicht böse, oder? Ich verspreche dir auch, dass wir bald wieder herkommen. Dann holen wir alles nach, was es zu erzählen gibt.“
Marleen schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
„Ich kann euch gut verstehen. Der Fünfzigste der Mutter ist schließlich etwas Besonderes. Da darf man nicht unpünktlich sein.“
Nachdem sich Klara und Maik von ihr und Bastian verabschiedet hatten, rollten der Bus und der Kombi langsam vor zur Straße. Marleen begleitete den Autotross ein Stück über den Vorplatz. Dabei bedankte sie sich noch einmal ganz herzlich für die Mithilfe beim Umzug und das Ausleihen des Wagens.
„Bei eurem nächsten Besuch bleibt ihr aber länger. Mindestens zu Kaffee und Kuchen. Wenn nicht sogar für ein ganzes Wochenende“, rief sie Klara durch das geöffnete Seitenfenster zu und winkte ihren Freunden solange hinterher, bis beide Autos außer Sichtweite waren.
Als sie langsam auf den Hauseingang zuging, vor dem Bastian mit dem Seesack über der Schulter auf sie wartete, fühlten sich ihre Knie wie Gummi an.
„Macht es dir was aus, mir Paul einen Moment abzunehmen?“
Blitzartig ließ Bastian das Gepäckstück auf den Boden sinken und schnappte sich das Kind.
„Setzt dich am besten auf den Sockel, wenn es dir nicht gut ist.“
„Nein, nein, es geht schon wieder.“ Nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, fühlte sie sich wieder sicher auf den Beinen.
„Komm, ich zeige dir die Küche. Da steht auch Pauls Kinderwagen.“ Auf dem Weg durch den langen Flur beobachtete sie erstaunt, wie selbstverständlich sich Bastian mit ihrem kleinen Sohn unterhielt, den er sanft auf seinen gut trainierten Armen schuckelte. „Mein Großvater ist übrigens draußen hinter dem Haus. Dem Armen macht der schreckliche Zustand seines Gartens noch ganz schön zu schaffen“, murmelte sie bekümmert, als sie Bastian die Tür zur Küche öffnete.
„Absolut verständlich“, erwiderte er, während er Paul, der das freundliche Männergesicht nicht aus den Augen ließ, in den Wagen am Fenster bettete.
„Und du, mein Lieber, schläfst jetzt mal ganz flott ein“, brummte er mit ernster Miene und deckte ihn zu. Nach seiner energischen Ansage kam zu Marleens Erstaunen nicht ein Protestton mehr aus dem Wagen. Als sie kurz darauf zu ihm hinüberäugte, schlief er tief und fest, die feisten Ärmchen entspannt neben den Kopf gelegt.
Als Henry eine Minute später mit einem großen Bund Petersilie und Schnittlauch hereinmarschiert kam, eilte sie zum Kinderwagen.
„Paul ist gerade eingeschlafen. Ich stell ihn schnell raus auf den Flur.“
Henry reichte Bastian mit einem einvernehmlichen Nicken die Hand und zog einen Mundwinkel hoch.
„Morgen. Wäre eigentlich nicht nötig gewesen, aber Marleens Vater ließ sich nicht davon abbringen, dass du mir noch ein bisschen zur Hand gehst.“ Während er die Küchenkräuter in ein Glas mit Wasser stellte, forderte er Bastian auf, sich zu Marleen an den Tisch zu setzen.
„Trinkst du einen Kaffee mit?“
„Ja, gern. Meinetwegen können wir dann gleich draußen loslegen. Meine Sachen kann ich doch solange hier liegenlassen.“ Er zeigte zu dem Seesack neben der Tür.
Henry schüttelte energisch den Kopf.
„Nee, nee, alles der Reihe nach. Ich muss sowieso noch ein, zwei Telefonate führen. In der Zeit kann Marleen dir zeigen, wo du schläfst.“
Sie blickte ihren Großvater fragend an. „Ja, klar, das mache ich gern, wenn du mir sagst, welches Zimmer er bekommen soll?“
„Ich dachte an das gegenüber von deinem. Ist zwar nicht so hell, aber luftig und sauber. Und man hat von dort einen wunderschönen Blick auf den Kräutergarten.“ Ein Hauch von Bitterkeit zog über sein leicht gebräuntes Gesicht. „Ich meine, wenn man den jetzt überhaupt noch anschauen will.“
„Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm. Jetzt, wo das Gestrüpp weg ist, kann man doch erst richtig beurteilen, was passiert ist.“
Henry schnitt eine Grimasse.
„Ja, das tut mein liebenswerter Nachbar Rupert schon in vollen Zügen. Seitdem du gestern die letzte Fuhre zur Gründeponie weggefahren hast, macht er vielleicht einen Tanz um sein kaputtes Zeug! Der Zaun, die Filteranlage, drei seiner teuersten Kois …“ Er rollte theatralisch mit den Augen. „Gerade ist so ein Versicherungsheini bei ihm, der ihm haarklein auflistet, was ich ihm alles ersetzen muss.“ Vor lauter Ärger verschluckte er sich am Rest seines Kaffees und verschwand im Wohnzimmer.
„Vielleicht sollten wir direkt hochgehen, solange Paul schläft“, schlug Marleen vor.
„Klar, gerne.“ Gemeinsam schlichen sie an dem Kinderwagen vorbei die Treppe hinauf. Vor der Tür zu Bastians Gästezimmer brauchte Marleen eine ganze Weile, bis sie wieder normal Luft bekam.
„Was ist denn mit deiner gründlichen Untersuchung beim Lungenfacharzt? Wollte sich nicht dieser rührige Nachbar mit der Potter-Brille darum kümmern?“
„Du meinst David?“ Ein verstecktes Schmunzeln huschte über ihr müdes Gesicht. „Ich glaube, den hat Paul vergrault. Seit seinem Protestgeschrei beim Anschließen der Waschmaschine ist er nicht mehr hier aufgetaucht. Und wegen einer banalen Erkältung gleich zum Arzt zu rennen, halte ich auch für übertrieben.“
„Banal, mhm.“
Ohne weiter auf sein Stirnrunzeln einzugehen, drückte Marleen die Tür auf.
Bastian trat ein und sah sich verblüfft in dem geräumigen, stilvoll möblierten Zimmer um, das, genau wie das gegenüberliegende, zwei aneinanderstoßende Fensterfronten hatte. Auf dieser Seite des Hauses gingen sie allerdings nach Westen und Norden. Als er den zum Zimmer gehörenden Baderaum entdeckte, pfiff er anerkennend.
„Ich denke, hier lässt es sich aushalten.“ Er setzte den Seesack neben dem Bett ab und ging auf Marleen zu, die das Zimmer von der Tür aus verstohlen begutachtete.
„Ich ziehe mich schnell um, und dann geht es ab in den Garten. Vielleicht hast du ja Lust, nachher mal mit Paul vorbeizuschauen. Ich würde mich freuen“, hängte er leise an. „Aber nur, wenn du dich fit genug fühlst.“
„Klar, weiß ich doch. Nett von dir, dass du dir Gedanken um mich machst“, stotterte sie mit hochroten Wangen. Eigentlich wollte sie damit fortfahren, wie gut sie alles im Griff habe und dass sie bestens klar käme mit ihrer derzeitigen Lebenssituation. Aber mit einem Mal spürte sie wieder den stumpfen, drückenden Kloß im Hals, der ihre Worte einfach nicht durchkommen ließ.
Der nächste Hustenanfall war so stark, dass sie den brennenden Schmerz nur mit gekrümmtem Oberkörper aushalten konnte.
Mit einem mitfühlenden Raunen strich Bastian in sanften, gleichmäßigen Zügen über ihren bebenden Rücken. Als sie ihre Stirn nach dem Anfall erschöpft an seine Schulter lehnte, fuhr er mit seiner Hand zärtlich über ihren Hinterkopf. Dann er hob ihr Kinn mit dem Finger an und sah ihr tief in die Augen.
„Deine Kämpfernatur imponiert mir sehr, aber auf Dauer kann es doch so nicht weitergehen, Marleen. Du brauchst jemanden, der dich professionell unterstützt, wieder gesund zu werden. Wenn du willst, übernehme ich diesen Part, mit einer Arznei, die uns die Natur zur Verfügung stellt. Top wirksam, jahrhundertelang erprobt und ohne die üblichen Nebenwirkungen.“
„Und was soll das für ein Wundermittel sein?“ Marleen konnte den skeptischen Unterton in der Stimme kaum verbergen. Ohne es zu wollen, musste sie an den Hustentee ihres Großvaters denken, den er aus den Kräuterteedosen mit den altmodischen Beschriftungen zusammengemischt hatte. So richtig geholfen hatte er ihr bisher nicht. Und jetzt fing ihr hilfsbereiter Zimmernachbar auch noch damit an. War sie hier denn nur von Kräuterfexen umgeben? Trotz ihres angegriffenen Zustands breitete sich ein merkwürdiger Verdacht in ihr aus. Gehörte Bastian etwa zu diesen Öko-Fanatikern, die ihre Seife selbst herstellten und statt Zahnbürsten ausgefranste Stockenden benutzten? Das passende Aussehen hatte er allemal. Mit zusammengekniffenen Lippen schüttelte sie den Kopf.
„Danke. Das ist wirklich nett von dir, aber ich schaffe das schon allein.“
Bastian ließ seine gut ausgeprägten Schultern sinken. „Stur wie ihr Großvater“, murmelte er verdrossen in sich hinein.
„Dann kann ich dir nur wünschen, dass du Erfolg hast.“