Kapitel 13
„Gibt es etwas Schöneres als ein herrlich duftendes, frisch gebadetes Baby auf dem Arm zu halten?“ Marleen drückte Paul ein herzhaftes Küsschen auf die Wange, schloss die Tür zu ihrem Zimmer und ging auf die Treppe zu. Sie hatte gerade den Fuß auf die oberste Stufe gesetzt, da hörte sie vom Erdgeschoss her ein lautes Poltern und Rumpeln.
Neugierig spähte sie in die Diele.
„Was passiert denn da gerade?“
Unten angekommen wäre sie beinahe mit einer Mülltonne zusammengestoßen, die Henry durch den Eingang des Kurbades rollte.
„Nanu, wo willst du denn damit hin? Die Müllabfuhr kam doch gestern erst.“
„Die bringe ich in den Geräteschuppen neben dem Parkplatz.“ Henry ging unbeirrt weiter auf die Haustür zu.
„Warte, ich helfe dir!“
Marleen setzte Paul rasch auf die andere Hüftseite und eilte voraus, um ihm die Tür aufzuhalten.
Mit einer leisen Vorahnung beobachtete sie, wie ihr Großvater die Tonne über den Vorplatz zu dem kleinen Holzhaus zog.
Als er zurückkam, um den nächsten Behälter zu holen, lehnte sie immer noch an der geöffneten Tür. Diesmal allerdings mit einem erwartungsvollen Leuchten in den Augen.
„Bringst du sie deshalb weg, weil du …“ Sie war so aufgeregt, dass sie gar nicht wusste, wie sie ihre Vermutung in Worte fassen sollte. „… weil du das Kurbad wieder eröffnen willst?“
Mit regloser Miene schüttelte er den Kopf.
„Nö. Für mich alten Knopp ist das nichts mehr.“
Marleen ließ den Kopf sinken und nickte enttäuscht.
Als sie erneut zu ihm aufsah, stutzte sie. Warum strahlte er sie denn plötzlich so an?
„Weißt du, Mädchen, das Kurbad sollte jemand weiterführen, der jung ist und ein Herz für therapiebedürftige Menschen hat. Außerdem sollte sich derjenige gut mit der Kneipp'schen Gesundheitslehre auskennen und von ihrer Heilwirkung überzeugt sein.“ Er verzog seinen mit grauen Stoppeln umkränzten Mund zu einem Schmunzeln. „Ich denke da an so ein fleißiges Frollein wie dich.“
Marleen schüttelte ungläubig den Kopf und schniefte einmal kräftig, um die Tränen zu bekämpfen, die sich in ihren Augen sammelten. Dann konnte sie nicht mehr anders als ihrem Großvater den freien Arm um den Hals zu werfen und ihm einen kräftigen Kuss auf Wange zu drücken.
„Danke, O'Henry, danke vielmals. Du weißt gar nicht, was das für mich bedeutet.“ Die frisch erworbene Gewissheit beflügelte sie so sehr, dass sie mit dem erschreckt dreinschauenden Paul durch die Diele tanzte. „Super, super, super! Ich kann wieder arbeiten und noch dazu an einem so tollen Ort!“
Henry deutete mit dem Kopf zum Eingang des Kurbades.
„Na, na, na! Jetzt komm mal wieder aus den Wolken, junge Frau! Zunächst muss da drüben alles gestrichen, geputzt und repariert werden. Außerdem wirst du erst anfangen zu arbeiten, wenn du dich ausreichend erholt hast. Ich will schließlich keinen Ärger mit Ba… , ähm, mit der Bademeister-Innung für Kneipp-Einrichtungen bekommen,“ verbesserte er sich mit heiserer Stimme.
Marleen warf ihm einen skeptischen Blick zu.
„Von der habe ich noch nie was gehört, aber ist ja auch egal.“ Dann musterte sie ihren Großvater betrübt.
„Und um die Renovierung zu finanzieren, verkaufst du jetzt deine tollen Fische?“ Sie ließ ihren Kopf schuldbewusst sinken. „Wenn ich könnte, würde ich dir was dazugeben.“
Er tätschelte milde lächelnd ihren Arm.
„Lass das mit dem Geld mal meine Sorge sein. David sorgt schon dafür, dass mich das Finanzamt nicht am Hungertuch nagen lässt. Mir würde es schon reichen, wenn du dir mit den Leuten hier Mühe gibst. Für einen neuen Therapeuten gibt es nichts Schlimmeres als Ortsansässige, die sich frohen Mutes zur Therapie anmelden und nach der ersten Behandlung nicht mehr wiederkommen. Du glaubst gar nicht, wie schnell man hier auf dem Land unten durch ist. Da braucht man nicht mal Trauben zu klauen oder Wein zu panschen.“
„Schon klar“, murmelte Marleen. In diesem Moment wurde ihr erst richtig bewusst, was für eine Verantwortung mit ihrer neuen Arbeitsstelle verbunden sein würde. Jede Unsicherheit, jedes Versäumnis, ja, sogar die kleinste Taktlosigkeit im Umgang mit ihren zukünftigen Patienten würde nicht nur ihre Karriere gefährden, sie schadete auch dem hart erarbeiteten Ansehen ihres Großvaters.
„Ich kann wegen Paul bei der Renovierung ja nicht viel helfen, aber eins verspreche ich dir: Ich werde alles dafür tun, dass sich die zukünftigen Patienten und Kurgäste hier wohl fühlen und unser Therapie-Angebot weiterempfehlen.“
„Unser?“
„Ja klar. Wie soll ich das denn ohne deinen Rat und dein Wissen schaffen? Vor allem bei den Kneipp-Anwendungen?“ Sie zwinkerte ihm gewinnend zu. „Bitte! Wenigstens am Anfang noch.“
Mit einem stolzen Schmunzeln brummte ihr Henry etwas Unverständliches zu und machte sich wieder an die Arbeit.
Im Gegensatz zur Mittagszeit, als ihr wegen der angespannten Atmosphäre zwischen Bastian und ihr der Appetit auf Henrys Suppe vergangen war, bohrte ihr der Hunger jetzt ein richtiges Loch in den Magen. Mit großen Schritten eilte sie den Flur entlang zur Küche und legte Paul mit einem hölzernen Kochlöffel zum Spielen in den Kinderwagen am Fenster. Kaum saß sie mit einem Glas Milch und einem üppig belegten Brot am Tisch, brummte das Handy in ihrer Hosentasche.
„Bestimmt will Klara wissen, wie es mir geht, oder Papa hat einen weiteren Besuch geplant, um mit Henry über die Schadensersatzangelegenheit zu sprechen“, mutmaßte sie, während sie kauend die Nachricht öffnete. Als sie sah, dass David der Absender war, hielt sie überrascht inne. Vor zwei Tagen hatten sie beiläufig die Handynummern ausgetauscht, weil er ihr auf Bastians Drängen hin eine Liste der ortsansässigen Ärzte zuschicken wollte. Das war ihr allerdings gleich wieder aus dem Sinn geraten, da sie nicht damit rechnete, dass David dieser erzwungenen Gefälligkeit nachkommen würde.
Und so war es auch. Es ging in seiner Mail nicht um die Ärzte-Liste. Leise und ein wenig ungläubig las sie den Text ein weiteres Mal.
„Hey, Marleen. Hast du heute Abend eventuell kurz Zeit, zum Wassertretbecken vor dem Haus zu kommen? Ich muss dir unbedingt etwas sagen.“
Einen Moment lang blickte Marleen verblüfft durch die Küche. Falls David gleich wirklich vorhatte, ihr seine Zuneigung zu gestehen, war das ja wohl der seltsamste Ort dafür. Da draußen saß man doch regelrecht auf dem Präsentierteller für alle Hausbewohner! Andererseits passte es zu diesem sachlich neutralen Informatiker, musste sie schmunzelnd zugeben. Wie niedlich männliche Unbeholfenheit doch sein konnte! Romantik gehörte sicherlich nicht zu Davids Spezialgebieten, aber was hieß das schon? Er empfand etwas für sie, wusste aber nicht, wo und wie er ihr das am besten zeigen sollte. Gründe dafür gab es sicherlich genug: Mangel an Erfahrung, Schüchternheit, Trennung. War sie da nicht sogar moralisch gezwungen, über diese kleine Ungeschicktheit hinwegzusehen und ihm ein bisschen entgegenzukommen?
„Hallo, David. Kann etwas dauern. Sobald Paul eingeschlafen ist, melde ich mich.“ Als kleine, charmante Brücke zu ihrem Herzen hängte sie einen Zwinkersmiley an.
Gegen acht Uhr hatte sie es geschafft. Nach einer Geschicklichkeitsübung mit Löffel und Grießbrei, etlichen Schuckelrunden durch ihr Zimmer und einem erneuten Windelwechsel lag Paul endlich satt und zufrieden in seinem Bettchen und schlief.
Nachdem Marleen David geschrieben hatte, dass sie gleich nach unten kommen würde, überprüfte sie rasch ihre Frisur und trug mit nervösen Fingern ein wenig Make-Up auf. Dann schlich sie mit dem Babyphone aus dem Zimmer und eilte hinaus zum Tretbecken.
Im warmen Schein der untergehenden Sonne hatte David lässig die Arme auf der Rückenlehne der Bank abgelegt, auf der Henrys Kneipp-Anhänger nach dem Wassertreten früher die Füße abfrottierten und ihre Schuhe anzogen.
„Hallo, David. Sorry, eher ging es wirklich nicht.“
„Kein Problem.“
Sie sah kurz zu den gemächlich herumschwimmenden Koi-Karpfen im Becken und nahm dann erwartungsfreudig auf der anderen Bankhälfte Platz. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie angespannt David wirkte. Fast ein bisschen so, als wolle er ihr beichten, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebte, die er demnächst heiraten würde. Aber dann hätte er nicht so offensichtlich mit ihr geflirtet. Möglicherweise war er auch deshalb so nervös, weil er wenig Übung darin hatte, sich mit einer Frau zu treffen. Eins davon musste es sein. Weshalb sonst tippte er so nervös mit den aneinandergelegten Handflächen auf den Mund und stierte verzweifelt auf die Wasseroberfläche?
Als die Redepause eine unangenehme Länge annahm, wurde Marleen ungeduldig.
„Du sagtest, du müsstest mir dringend etwas sagen?“ Sein tiefes Durchatmen weckte ein mulmiges Gefühl in ihr.
„Es geht um Bastian.“ Er drehte sich zu ihr und sah ihr eindringlich in die Augen. „Weißt du eigentlich, dass der gar nicht der Gutmensch ist, den er uns hier vorgaukelt? Wie es aussieht, hat er ganz schön viel Dreck am Stecken.“
Marleen blickte ihn irritiert an. Was sollte das denn jetzt? Bastians Vergangenheit spielte doch hier überhaupt keine Rolle. Glaubte er etwa, er würde bei ihr punkten, wenn er einen vermeintlichen Konkurrenten schlecht machte? Oder hatte er am Ende gar nicht vor, ihr zu sagen, was er für sie empfand?
„Ja, ja, das weiß ich. Er wurde zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Deshalb arbeitet er ja zurzeit als Gärtner.“
„Und weißt du auch, weshalb er verurteilt wurde?“
Marleen schüttelte missmutig den Kopf.
„Ist das denn jetzt so wichtig?“ Die Lust auf einen romantischen Abend mit ihm war ihr mittlerweile vergangen.
David schnaufte verächtlich.
„Ich denke schon. Die holländische Polizei hat ihn nämlich mit Rauschgift erwischt. Genau genommen mit einer ziemlich krassen Menge Cannabis, besser bekannt als Haschisch oder Marihuana.“ Er hob die Augenbrauen. „Unser lieber Herr Doktor zieht sich wohl öfters mal einen Joint rein.“
Marleen starrte David so entgeistert an, dass er unweigerlich lachen musste.
„Ist dir denn noch nie aufgefallen, wie relaxed der immer wirkt und mit was für glasigen Augen der dich ständig anguckt?“
Völlig befremdet schüttelte sie den Kopf.
„Ja, da siehst du mal, wie man sich in Menschen täuschen kann. Oder hast du wirklich geglaubt, er ist verknackt worden, weil er den Klingelbeutel ausplündert, um armen, alten Tanten die Rente aufzubessern?“
Ganz allmählich wurde Marleen wieder fähig, klar zu denken.
„Woher hast du diese Information denn überhaupt?“
David wackelte stolz mit dem Kopf.
„Noch nie was von Big Brother gehört? Wenn man sich ein bisschen mit den Social-Media-Plattformen auskennt, findet man sämtliche Informationen zu jeder x-beliebigen Person. Vorausgesetzt, man weiß, wie und wo man suchen muss.“
Sein hämisches Grinsen ließ sämtliche Gefühle, die David in ihr geweckt hatte, zu einem Nichts zerfallen. Und nicht nur das. Auch ihre tiefe Sympathie für Bastian war in dem brutalen Kampf, den sich ihr Kopf und ihr Herz gerade lieferten, verloren gegangen. Fassungslos und zu keiner Antwort fähig vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.
David strich mitfühlend über ihren Oberschenkel.
„Komm, Marleen. Zum Glück ist ja noch nichts Schlimmeres passiert. Ich wollte dich einfach nur warnen, vor allem im Hinblick auf Paul. Mit dem beschäftigt sich Bastian ja auffallend oft. Ich will dem Kerl ja nichts. Aber hast du dich mal gefragt, warum der Kleine bei ihm immer so ruhig ist?“
Ungläubig musterte Marleen sein Gesicht.
„Du meinst, Bastian gibt ihm heimlich … Rauschgift? Das ist doch absurd! Wie und warum sollte er das tun? Außerdem würde ich das sofort merken.“
„Vielleicht will er dir mit seiner beruhigenden Wirkung auf Babys imponieren.“
Sein mitfühlender Blick zeigte ihr, dass er sich wirklich um sie und Paul sorgte. Als sie jedoch den überheblichen Zug um seinen Mund entdeckte, erlosch ihre Dankbarkeit für sein verantwortungsbewusstes Handeln sofort wieder.
„Kann es nicht auch sein, dass du bei deiner Internet-Recherche einem üblen Gerücht aufgesessen bist?“
David lehnte sich betont langsam zurück.
„Am besten, du fragst ihn selbst danach. Mit dem Wissen, das du jetzt hast, wirst du ganz schnell merken, was für ein windiger Vogel das ist. Wie auch immer, Marleen. Tu mir den Gefallen und halte deinen Sohn von ihm fern!“
Ihr Körper fühlte sich wie mit Blei beschwert an, als sie sich erhob und zum Geländer des Tretbeckens ging. Nach einer Weile drehte sie sich mit ausdrucksloser Miene zu David um.
„Ich muss jetzt wieder hoch zu Paul. Und danke, dass du mir das gesagt hast.“ Sie kniff einen Moment lang die Lippen aufeinander. „Mag ja sein, dass das alles stimmt. Ich halte mich aber lieber daran, was mir mal ein sehr guter Jurist aus unserer Familie gesagt hat: Verlass ist nur auf das, was man mit den eigenen Augen und Ohren erfährt. Einen schönen Abend noch, David.“
Die Nacht war die Hölle für Marleen. Nicht nur, dass ihr das Gespräch mit David im Kopf herumging und sie nicht einschlafen ließ. Auch Paul wachte immer wieder schreiend auf und beruhigte sich selbst an ihrer Brust nicht. Als er gegen sechs Uhr endlich eingeschlummert war, schlurfte sie mehr tot als lebendig unter die Dusche. Zusammengerechnet hatte sie bis dahin eine gefühlte halbe Stunde geschlafen.
Bevor sie sich dazu entschied, rasch ohne ihn in der Küche zu frühstücken, blickte sie noch einmal besorgt in sein Bettchen. Schon in der Nacht war ihr aufgefallen, wie heiß er sich anfühlte. Zur Sicherheit holte sie das Fieberthermometer aus der Babytasche und drückte es noch einmal sanft an seine Schläfe.
„Oh, nee!“, stöhnte sie beim Ablesen. „Achtunddreißig neun.“
Mit tiefen Falten auf der Stirn strich sie ihm über das fiebrige Köpfchen.
„Ich frühstücke schnell, dann bin ich wieder bei dir“, flüsterte sie und eilte mit dem Babyphone nach unten.
Zu ihrer Überraschung saßen Henry und Bastian bereits am gedeckten Frühstückstisch. Sie begrüßten sie erfreut, und Henry sprang sofort auf, um ihr eine Tasse Hustentee einzugießen.
„Den habe ich gleich für dich aufgesetzt, als ich die Dusche oben hörte.“
„Danke, lieb von dir“, murmelte Marleen und sank auf den Stuhl neben dem leeren Kinderwagen.
Bastian stutzte, als er die dunklen Ränder unter ihren Augen bemerkte.
„Du hast nicht viel geschlafen, oder?“
Bevor sie die Teetasse an den Mund setzte, schüttelte sie, ohne ihn anzusehen, den Kopf.
„Paul brütet anscheinend etwas aus. Gerade hatte er fast neununddreißig Grad Fieber.“
Bastian leerte seine Tasse und räumte sein Geschirr in die Spülmaschine.
„Das ist für Babys aber nicht so gefährlich wie für uns Erwachsene. Die haben schnell mal eine erhöhte Temperatur, und das ist auch gut so. Damit heizen sie Erkältungsviren und anderen Erregern ordentlich ein. Soll ich mal nach ihm sehen?“
Beinahe hätte sich Marleen an ihrem Brötchenbissen verschluckt, so sehr verwirrte sie seine gutgemeinte Frage.
„Danke, aber das ist nicht nötig. Er schläft gerade so schön. Und wie du schon sagst: Alles unter neununddreißig Grad sollte man nicht dramatisieren.“
Der kurze, unsichere Blick, den Marleen ihm daraufhin zuwarf, machte ihn misstrauisch.
„Okay. Aber falls es höher steigt, weißt du ja, wo du mich findest.“ Das erzwungene Lächeln, mit dem sie sich bedankte, stimmte ihn noch nachdenklicher. Bei ihrer anschließenden Antwort blieb ihm fast das Herz stehen.
„Nett von dir, aber dann gehe ich wohl besser gleich zum Kinderarzt.“
Henry ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihm die seltsame Spannung, die zwischen den beiden jungen Leuten herrschte, zu schaffen machte. Unbeirrt blickte er auf sein Schinkenbrot, das er wie gewöhnliche in mundgerechte Stücke geschnitten hatte. Mit einem Mal hob er den Kopf und strahlte Marleen freudig an.
„Ach, übrigens, Mädchen. Heute kommen ein paar Leute vorbei, die Fische kaufen wollen“, verkündete er so aufgeregt wie ein kleiner Junge vor der Weihnachtsbescherung. „In den nächsten Tagen können wir also Farbe kaufen und mit der Renovierung beginnen. Du kannst dir ja schon mal überlegen, wie wir die Räume streichen.“ Er hoffte umsonst, damit die Stimmung im Raum zu verbessern.
„Oh, das ist ja super.“ Marleens freudig vorgetragenen Worte und ihr Gesichtsausdruck hatten so viel gemeinsam wie Feuer und Wasser.
Während Bastian zur Küchentür ging, starrte sie nachdenklich kauend zu dem Topf mit dem Gänseblümchen in der Tischmitte. Beim Anblick der welken Blätter und baumenden Blütenköpfe hätte sie beinahe losgelacht.
„Wie witzig! Als ob das Gänseblümchen spüren würde, was zwischen Bastian und mir los ist“, ging es ihr durch den Kopf. Ihm schien auch gerade der Saft ausgegangen zu sein.
An der Tür drehte sich Bastian noch einmal um.
„Ich zieh mich kurz um. Dann bin ich draußen im Garten“, sagte er mit belegter Stimme zum Tisch hinüber. Die Frage, die er ihr mit seinem traurigen, verständnislosen Blick stellte, beantwortete Marleen, indem sie schmallippig zum Fenster hinausschaute.
Kaum hatte Bastian die Küche verlassen, drangen helle, abgehackte Quietschtöne aus dem Babyphone. Bevor es in ein anhaltendes Schreiens überging, war Marleen bereits auf der Treppe nach oben. Sie flog förmlich ins Zimmer hinein und rannte auf das Bettchen zu, in dem Paul mit hochrotem Kopf lag und brüllte.
Hoch besorgt deckte sie ihn auf und schuckelte ihn sanft am Bauch.
„Ist ja alles gut, mein Schatz. Ich bin ja wieder bei dir.“
Nachdem sie ihm das Thermometer an die Stirn gehalten hatte, lächelte sie beruhigt. Das Fieber war leicht gesunken.
Paul schien auch wieder besser gelaunt zu sein als in den Nachtstunden. Das Schreien ging sofort in ein freudiges Glucksen über, mit dem er ihr zeigte, wie froh er war, sie zu sehen.
„Er scheint sich schon wieder erholt zu haben“, meinte plötzlich eine dunkle Stimme hinter ihrem Rücken.
Erschreckt fuhr Marleen herum und blickte direkt in Bastians ausdrucksstarke, meerblaue Augen.
„Verzeih mir, aber die Tür stand offen.“ Da ihr Mund verwirrt auf und zu ging und trotzdem nichts hervorbrachte, versuchte er es mit einer erneuten Entschuldigung.
„Ich wollte nur schauen, wie es Paul geht, Marleen. Aber ich kann auch verstehen, dass du zur Sicherheit einen Kinderarzt aufsuchen willst.“
Mittlerweile war Marleen so durcheinander, dass sie die Hände hob und mit schmerzverzogener Miene hervorpresste:
„Nichts verstehst du!“ Um ihre Erregung in den Griff zu bekommen, nahm sie Paul auf und legte ihn zum Spielen auf ihr Bett.
Bastian reichte ihm einige Spielsachen. Dabei musterte er sie nachdenklich aus dem Augenwinkel.
„Was ist los, Marleen? Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Ja, das hast du“, schrie sie ihm plötzlich ins Gesicht. „Du hast mir zum Beispiel nie etwas davon gesagt, dass du mit Rauschgift zu tun hast.“
„Woher weißt du das? Von deinem Vater?“
Sie ließ ermattet den Kopf sinken.
„Nein, der würde seine Schweigepflicht niemals verletzen. Er sagte mir nur, dass er dich vor Gericht vertritt, mehr nicht. Das mit dem Rauschgift stammt von David. Der hat wohl einiges über dich im Internet gefunden.“ Wieder richtete sie ihr verstörtes Antlitz auf ihn und zwang sich, ihre Stimme emotionsfreier klingen zu lassen. „Ich weiß, dass mich das nichts angeht. Aber macht es dir was aus, mir endlich die Wahrheit zu sagen? Hat man dich wirklich beim Drogenkonsum erwischt?“
Bastian wandte sich ab, ging zum Fenster hinüber und lehnte sich mit seiner Gartenhose an den Sims darunter.
„Es stimmt, dass man Rauschgift bei mir gefunden hat. Und ja, ich habe eine ganze Menge mit Cannabis zu tun. Aber das ist rein medizinisch und legal. Meine Forschungseinheit an der Kölner Uniklinik testet die Wirkung eines bestimmten Blütenextrakts des Medizinalhanfs auf Kinder mit ADHS. Dieses spezielle Cannabis-Produkt ist seit Beginn des letzten Jahres als Medikament freigegeben und erwiesenermaßen nicht suchterzeugend.“
Er lächelte ihr müde zu.
„Aber um auf deine Frage zu meiner Verurteilung zurückzukommen: Das Rauschgift, das der niederländische Zoll in meiner Tasche gefunden hat, stammte nicht von mir. Das hat mir jemand heimlich untergeschoben. Jemand, der mit den herausragenden Forschungsergebnissen meines Teams nicht klarkommt und mich auf diese Weise von der Bildfläche verschwinden lassen will.“
An dem verbitterten Zug um seinen Mund erkannte Marleen, dass er genau wusste, wer ihm eins auswischen wollte.
„Wird denn da nicht automatisch die Kriminalpolizei eingeschaltet?“
„Ja, schon, aber du glaubst gar nicht, wie schwer es ist, zu beweisen, dass jemand mir das Zeug untergejubelt hat und ich es nicht selbst konsumiere oder damit sogar deale. Und noch schwieriger ist es, den vermeintlichen Täter zu überführen. Der weist natürlich alles weit von sich.“
Marleen, die sich inzwischen zu Paul an die Bettkante gesetzt hatte, schaute zu dem hölzernen Spielherz in ihren Händen, das Bastian ihrem Sohn geschenkt hatte. Ohne aufzuschauen drehte sie es nervös um und um.
„Das muss sicherlich schlimm sein, zu Unrecht verurteilt zu werden. Aber wer sagt mir denn, dass das alles stimmt?“ Ihr herausfordernder Blick traf ihn wie ein Giftpfeil mitten ins Herz. Wortlos sah er zu Boden und schüttelte den Kopf.
„Ich kann dich nur bitten, mir zu vertrauen.“ Er stellte sich gerade und straffte den Rücken.
„Aber wenn du diesem Computer-Helden mit seinen Auszügen aus irgendwelchen Shit-Storms eher glaubst als mir, dann kann ich verstehen, dass du mir nicht vertraust. Oder warum willst du mit Paul unbedingt einen Kinderarzt aufsuchen?“
„David hat mir dazu geraten, besser einen Facharzt aufzusuchen. Er macht sich halt auch Sorgen um ihn.“
Bastian atmete geräuschvoll aus. „Ich möchte mit dir nicht streiten, aber David geht es wohl eher um dich als um Paul. Hast du nicht gemerkt, dass er mit allen Mitteln versucht, dein Herz zu erobern?“
All die Wut, die sich in ihr aufgestaut hatte, drängte mit einem Mal nach außen.
„Ich weiß bald nicht mehr, was ich wem noch glauben soll. David ist Henry und mir eine große Hilfe, und auf mein Herz achte ich schon selbst und auf meinen Sohn auch. Ich brauche deine Hilfe nicht.“
Nach einem fassungslosen Blick in ihr wutverzerrtes Gesicht presste er die Lippen zusammen und eilte mit großen Schritten aus dem Zimmer.
Ermattet von dem anstrengenden Disput ließ sich Marleen neben Paul auf das Bett sinken. Ihre Augen brannten, als ob sie stundenlang durch die sengende Sonne der Sahara gewandert wäre. Nach einer Weile, in der Paul immer wieder ziellos auf ihren Arm tatschte, übermannte sie eine bleierne Müdigkeit. An Schlafen war jedoch nicht zu denken, denn plötzlich brummte ihr Handy in der Hosentasche. Mit einem müden Lächeln registrierte sie, dass die Nachricht von ihrem Vater stammte.
„Wenn man vom Teufel spricht“, seufzte sie beim Öffnen der Mail.
„Hallo, Kleines. Papa hier. Man hört gar nichts mehr von dir. Mama fragt, ob es Paulchen gut geht und ob du dich immer noch mit Henry verstehst. Melde dich doch mal! Noch was: Könntest du Bastian bitten, mal endlich auf sein Handy zu schauen? Ich brauche dringend seine Rückmeldung. Liebe Grüße auch von Mama.“
Da sie davon ausging, dass ihr Vater gerade zu Hause und gesprächsbereit war, drückte sie auf das Feld mit seiner Telefonnummer. Nach zwei Freizeichen meldete er sich.
„Marleen? Bist du das?“
„Ja, wer sonst, Papa? Habe gerade deine Mail gelesen, und da wollte ich mich mal telefonisch melden.“ Ihre Stimme klang immer noch etwas brüchig.
„Ja, klar. Das ist ja schön. Ist denn alles in Ordnung bei dir? Ich meine, vor allem in Bezug auf Henry?“
„Ja, alles bestens. Er plant sogar, das Kurbad wieder herzurichten.“
„Ach, sag nur! Das sind ja ganz neue Töne. Aber schön zu hören. Und was macht der Junior?“
Marleen war das Rede-und-Antwort-Spielchen allmählich leid. Der Grund, weshalb sie ihren Vater sprechen wollte, war schließlich ein anderer.
„Hör mal, Papa. Es geht um Bastian. Gibt es da eigentlich Neuigkeiten zu seinem Fall? Haben die polizeilichen Ermittlungen inzwischen was ergeben?“
Eine Weile blieb es ruhig am anderen Ende der Leitung.
„Hat Bastian mit dir darüber gesprochen, oder wie kommst du an diese Informationen?“
„Ja, er hat mir alles erzählt, von dem Rauschgiftfund und von den Schwierigkeiten, seine Unschuld zu beweisen. Und dass es wohl jemand aus den eigenen Reihen darauf abgezielt hat, ihn loszuwerden.“ Natürlich war ein Teil davon geflunkert, aber das meiste stammte aus Bastians Mund, beruhigte Marleen ihr schlechtes Gewissen.
Ihr Vater räusperte sich.
„Hör mal, Kind. Du weiß, dass ich nichts über meine Klienten äußern darf, und das werde ich auch in diesem Fall so halten.“ Seine Stimme klang zunehmend ungeduldig. „Du, Marleen, es tut mir leid, aber ich bin gerade auf dem Sprung, Mama vom Töpferkurs abzuholen. Du weißt ja, wie sie reagiert, wenn man nicht pünktlich ist. Aber um noch mal kurz auf die Sache mit Bastian zurückzukommen: Mach dir da keine Sorgen. Ich arbeite an dem Fall. Mehr darf ich dazu nicht sagen. Und denke bitte dran, ihm mal auf die Füße zu treten wegen seines Handys.“
„Ja, mache ich. Er lässt es wahrscheinlich im Zimmer liegen, wenn er im Garten arbeitet.“
„Ja, das kann sein. Also mach's gut, Marleen. Ich muss los. Bis bald.“
Mit einem resignierten Schnaufen nahm sie sein promptes Auflegen entgegen, bei dem sie nicht einmal dazu kam, sich von ihm zu verabschieden.
„Schade. Ich hätte ihm so gern noch ein bisschen von uns erzählt“, sagte sie mit einem liebevollen Blick zu Paul.
Kurz danach erschien sie in der Küche, um den Kinderwagen zu holen. Da Pauls Temperatur weiter gesunken war, wollte sie einen längeren Spaziergang mit ihm machen.
Kaum hatte sie ihn niedergelegt und zugedeckt, schreckte sie zusammen, als die Tür zu Henrys Wohnzimmer aufging und David mit einem Laptop unter dem Arm herauskam.
„Hey, Marleen. Super, dass du gerade da bist. Ich hätte dir sonst gleich eine WhatsApp geschickt“, begrüßte er sie übertrieben fröhlich. „Wenn du Lust hast, zeige ich dir, wie ich mir deine Homepage vorstelle. Um einen informellen und ansprechenden Online-Auftritt kommt heute keiner mehr herum, der Erfolg haben will. Die Leute können dort nachschauen, wer du bist, welche Anwendungen du anbietest und wie die Öffnungszeiten sind.“
Eigentlich war Marleen viel zu müde, um sich konzentriert mit Davids Vorschlägen zu befassen. Da Paul aber gerade eingenickt war, stimmte sie müde lächelnd zu und setzte sich an den Tisch.
„Nett von dir, dass du das alles für mich machst.“
Von ihren lobenden Worten beflügelt rückte er mit dem Stuhl dicht an sie heran und rief die Datei mit den Homepage-Beispielen auf.
Eine Weile tippte er flink wie ein Wiesel auf den Tasten herum, dann erschien eine Darstellung, die Finanzierungstipps für Start-Up-Projekte aufzeigte.
„Hier ist übrigens auch eine sehr interessante Seite für dich. Unter bestimmten Voraussetzungen kannst du nämlich finanzielle Unterstützung beantragen. Und jetzt zeige ich dir noch schnell, wie und wo du Werbung schalten kannst. Das solltest du unbedingt tun, um dein Unternehmen bekannt zu machen.“
Marleen ging das alles viel zu schnell. Sie linste verstohlen zu Paul und dann auf die Uhr im Handy.
„Stopp, David. Eins nach dem anderen.“ Sie lachte gequält. „Wolltest du mir nicht erst die Homepage zeigen, die du entworfen hast? Das andere können wir uns doch auch später ansehen. Paul ist ein bisschen erkältet. Deshalb möchte ich gern mit ihm an die frische Luft, bevor er wach wird und gestillt werden will.“
David nickte und blickte enttäuscht zum Kinderwagen.
„Schade. Aber kein Problem.“ Mit ergebener Miene rief er die Seite mit der Homepage auf und klickte nacheinander die einzelnen Felder an, die er bereits nach seinen Vorstellungen mit Texten und Illustrationen gefüllt hatte.
Marleen war sichtlich beeindruckt.
„Wow, das sieht aber schon sehr ansprechend aus.“
Als die Tür kurz darauf aufging und Bastian im Türrahmen erschien, blieb es einige Atemzüge lang unangenehm still in der Küche.
Mit versteinerter Miene grüßte er zum Tisch hinüber und holte eine Wasserflasche aus dem Getränkekasten neben der Spüle. Auf dem Rückweg zur Tür entdeckte er das schlafende Baby im Wagen.
„Was macht Pauls Fieber?“
Trotz der ernüchternden Auseinandersetzung, die Marleens Sympathie für diesen Mann stark abgekühlt hatte, rührte sie seine Frage.
„Es geht langsam zurück. Jetzt läuft nur noch die Nase“, beruhigte sie ihn.
„Ja, dann will ich nicht länger stören.“
Er hatte schon die Klinke in der Hand, als Marleen aufgeregt die Hand hob.
„Ach, Bastian, warte bitte! Ich soll dir von meinem Vater ausrichten, dass er auf einen Rückruf von dir wartet. Es ist wohl dringend. Er meint, er habe dir gestern Nachmittag eine Nachricht geschickt und seitdem nichts von dir gehört.“
Bastian nickte wissend.
„Danke für den Hinweis. Ich versuche, ihn gleich zu erreichen.“ Danach schloss er leise die Tür hinter sich.
Marleen musste schlucken, so weh tat ihr der bekümmerte Blick, den er ihr abschließend zuwarf. Seitdem sie mit David zusammensaß, waren die Zweifel an ihrem voreingenommenen Verhalten Bastian gegenüber immer heftiger geworden. Was, wenn er wirklich unschuldig war? War es richtig, dass sie Davids fragwürdigen Internetfunden mehr Glauben schenkte als dem, was Bastian ihr vorhin in ihrem Zimmer anvertraut hatte? Wie furchtbar musste es sein, wenn einem niemand mehr traute, nicht einmal die Frau, die ihm ihre Gesundheit, wenn nicht sogar ihr Leben, verdankte. Und dabei war sie nicht die einzige Person, die er in der vergangenen Woche gerettet hatte. Auch Henry war dank seiner Achtsamkeit glimpflich davongekommen, als sich die Baumstämme in Bewegung setzten.
Bis sich Paul durch ein jämmerliches Quäken meldete, waren David und sie noch etliche Homepage-Varianten durchgegangen. Am Ende hatten sie sich mit kleineren Änderungen auf seinen ersten Vorschlag geeinigt.
„Dann müsstest du mir nur noch die Daten zusammentragen, die unter die einzelnen Menü-Punkte gehören. Ändern können wir später immer noch das eine oder andere“, erklärte er. „Und ein nettes Foto brauchen wir noch von dir für deine Biographie. Die Leute wollen doch wissen, wie die zukünftige Leiterin des Kurbads aussieht.“
Marleen kicherte verschämt und erhob sich, um Paul auf den Arm zu nehmen.
„Ich schau mal, ob ich im Handy ein brauchbares finde. Entschuldige, aber Paul braucht jetzt was zu trinken, und dann muss ich unbedingt mal an die frische Luft.“
David hatte den Wink verstanden, den sie ihm mit einem verschämten Blick auf die Hand an ihrem T-Shirt gegeben hatte.
„Kein Problem. Bin schon weg.“ Hastig klappte er den Laptop zu und verschwand mit eiligen Schritten nach draußen.
Als sie endlich so weit war, um ihren Spaziergang anzutreten, hatte die Sonne bereits ihren höchsten Punkt überschritten. Heiß war es trotzdem. Zu heiß, um die Runde, die Marleen eigentlich geplant hatte, zu Ende zu führen. Nach einer Stunde durch den Weinberg, der sich hinter Henrys Grundstück erhob, machte sie sich, ermattet vom hügeligen Gelände, auf den Rückweg.
Auf dem schmalen Weg, der von der Straße zum Haus führte, reckte sie ihren Kopf in die Höhe, um erkennen zu können, was sich gerade vor dem Wassertretbecken abspielte. Dort stand Henry mit einem langen Kescher in der Hand und unterhielt sich angeregt mit zwei jüngeren Männern.
Natürlich, diese Leute waren gekommen, um seine Koi-Karpfen zu kaufen. Beim Näherkommen fielen Marleen auch die großen, schwarzen Bottiche auf, die sie mitgebracht hatten.
Um ihren Großvater nicht bei seinen Preisverhandlungen zu stören, hob sie im Vorbeigehen nur kurz die Hand zum Gruß.
„Warte, Marleen!“, hörte sie ihn plötzlich rufen. „Hast du noch ein bisschen Zeit? Ich muss dir im Kurbad was zeigen.“ Er deutete auf die beiden Männer. „Wir sind hier gleich fertig.“
Sie nickte heftig.
„Paul und ich gehen schon mal vor.“ Voller gespannter Erwartung überlegte sie, was er ihr dort wohl vorführen würde.
Im Anmeldebereich nahm sie ihren Sohn aus dem Wagen und schlenderte mit ihm von Raum zu Raum. Merkwürdig. Hier gab es nichts, was auf eine Veränderung hinwies. Im hinteren Bereich mit den Wasserbecken und Gießvorrichtungen wusste sie dann endlich, was er gemeint haben könnte.
Die Wanne, in der am Vortag noch etliche Kois schwammen, war leer. Und nicht nur das. Die Zinkwände blitzten vor Sauberkeit, die Leuchte war abmontiert, und auch sonst deutete nicht der kleinste Krümel Futter mehr darauf hin, dass die Wanne eine Zeitlang zweckentfremdet worden war.
Als sie kehrt machen wollte, entdeckte sie neben dem Handtuchregal einen Wäschekorb voller Malerutensilien. Neben einem Berg Folien, Kreppband, Farbrollern und Pinseln befanden sich Einmalhandschuhe, Reinigungstücher in allen Größen und blaue Mülltüten darin. Genug, um ein Mehrfamilienhaus auf Vordermann zu bringen.
„Wow, dein Urgroßvater meint es wirklich ernst mit dem Renovieren“, raunte sie Paul zu, der sich enttäuscht nach den quietschbunten Fischen umsah.
„Ja, genau“, brummte Henry plötzlich hinter ihr und lachte. „Morgen fangen wir an mit dem Abkleben.“ Er kramte ein Stück Karton aus dem Korb und reichte es an sie weiter. „Du musst dir nur noch eine Farbe aussuchen. Dann kann es mit dem Streichen losgehen.“
Marleen musterte staunend die Farbpalette.
„Ich habe an ein ganz zartes Pastellgelb gedacht, was meinst du?“
Henry gab ihr mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass er sich aus der Entscheidungsfindung heraushalten wollte.
„Was hältst du denn von diesem Farbton hier?“
Er betrachtete ihren Vorschlag und nickte mit gespitztem Mund.
„Soso, die Nummer 49 also.“ Er fischte einen Kugelschreiber aus der Tasche seiner Arbeitshose und zog einen Kreis um die Zahl. Als er ihr herzhaftes Gähnen bemerkte, schob er sie vor sich her in Richtung Ausgang.
„So, das war's auch schon. Leg du dich jetzt lieber mal hin und erhol dich! Du schläfst ja schon fast im Stehen ein, Mädchen.“
„Gute Idee.“ Nachdem sie ihm ein befreites Lächeln geschenkt hatte, trottete sie mit Paul den Gang entlang zum Anmeldebereich. Dort drehte sie sich noch einmal zu ihrem Großvater um und sah ihn besorgt an.
„Hast du deine Fische denn einigermaßen gut verkaufen können?“ Als er erneut mit gespitztem Mund nickte, atmete sie auf.
„Hat ganz ordentlich was gebracht. Hätte nie gedacht, dass die Leute bereit sind, so viel für die Viecher zu bezahlen.“
Der Gedanke, dass ihr Großvater nun wieder etwas besser bei Kasse war, ließ sie merklich leichter die Treppe hinaufsteigen.
Kurz vor ihrem Zimmer vernahm sie plötzlich das dumpfe Geräusch einer aufgebrachten Männerstimme im Zimmer gegenüber. Bastian telefonierte, aber mit wem? Marleen legte Paul rasch auf ihr Bett und beschäftigte ihn mit einem Taschentuchpaket. Dann kehrte sie auf Zehenspitzen zur Tür zurück, um noch ein paar Wortfetzen zu erhaschen, bevor sie die Tür schloss.
„Zu blöd aber auch, dass er so schwer zu verstehen ist“, beschwerte sie sich tonlos und neigte ihren Oberkörper noch ein Stück weiter zu Bastians Zimmertür.
Ein paar Worte konnte sie zwar heraushören, doch einen Sinn brachte sie nicht hinein. Als seine Stimme plötzlich ärgerlicher und lauter wurde, gelang es ihr endlich, einen vollständigen Satz aufzuschnappen.
„Wie lange wollen die mich denn noch hinhalten? Das bringt doch alles nichts!“ Als er den letzten Ausruf mit einem wütenden „Wolfgang“ beendete, sackte ihr Unterkiefer ab. Bastians Gesprächspartner war also niemand anderer als ihr Vater. Warum war er bloß so sauer auf ihn? Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab. Falls die beiden wirklich über die Rauschgiftangelegenheit redeten, konnte selbst ein Kind erkennen, dass die Sache für Bastian gerade nicht gut lief.
Ganz sachte schloss sie die Tür und lehnte sich mit einem fassungslosen Kopfschütteln an das Türblatt. Dann ging sie langsam auf die hintere Fensterseite zu, die von der rötlich leuchtenden Abendsonne durchflutet wurde. Ihr wehmütiger Blick glitt zum Horizont mit den üppig grünen Weinbergen.
„Bitte, Papa. Lass Bastian jetzt nicht hängen! Ich spüre doch, dass er unschuldig ist.“ Sie fühlte, wie ihr der Kloß in der Kehle das Atmen erschwerte.
Voller Verständnis für Bastians frustrierten Gemütszustand stieß sie hervor: „Was ist denn jetzt mit deinem weisen Spruch, Papa, dass die Wahrheit und die Liebe immer siegen werden?“