Sprache. Macht. Denken – Eine Einführung1
Benjamin Mikfeld und Jan Turowski
Politische Macht artikuliert sich »sichtbar« in den politischen Funktionen der Exekutive und der Legislative, die (zumindest in Demokratien) auf Zeit vergeben werden. Regierungschefs, Minister oder Parteien »kommen an die Macht«, wie der Volksmund sagt. Zu den Machtakteuren würden viele wohl zu Recht ebenso Großkonzerne, wichtige Verbände oder die Medien zählen, auch wenn ihre Insignien der Macht eher verschwommen sind. All diese Akteure der Macht agieren jedoch nicht im politischen Vakuum. Es gibt zu jeder Zeit politische Forderungen und Ideen, die mehrheitlich als »richtig« und »angemessen« beurteilt werden, und andere, für die dies nicht gilt. Solche Regelsysteme, die hinter den sichtbaren Machtstrukturen und -mechanismen liegen, bezeichnen wir als Diskurse. Sie regeln, was in bestimmten Gruppen oder der breiten Öffentlichkeit als »sagbar« gilt und was nicht. Gerade in Krisensituationen können diese vormals starren Diskurse in Bewegung geraten und sich verschieben. So war nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima auch in konservativen Kreisen ein strammes Bekenntnis zur Atomenergie kaum noch »sagbar«. Vor der globalen Finanzkrise 2007 wiederum waren bestimmte Forderungen zur Begrenzung der Macht der Finanzmärkte nur in bestimmten politischen Kreisen »sagbar«. Doch es dauerte nach Ausbruch der Krise nur wenige Monate, bis der bürgerliche Mainstream diese Forderungen (wenn auch nur halbherzig) übernahm.
Es gibt also auch »unsichtbare« Kräfte der Macht, die Einfluss auf unser politisches Denken und Handeln nehmen.
2 Politisches Denken vermittelt sich zu allererst über Sprache, die wiederum unser politisches Bewusstsein prägt. Eine unserer zentralen Thesen lautet, dass Diskurse nicht erst in Krisenzeiten in Bewegung geraten, sondern sich in einem Fluss ständigen politischen Ringens um »Meinungsführerschaft« befinden. Wer politisch gestalten und Dinge verändern will, sollte sich daher nicht nur um parlamentarische Mehrheiten bemühen, sondern auch darum, auf der Ebene der Sprache, der Deutungen und Diskurse Einfluss zu gewinnen. Mit diesem einführenden Text versuchen wir sehr allgemein, erste Antworten auf drei Fragen zu formulieren, die dann in den entsprechenden Beiträgen dieses Bandes vertiefend erörtert werden, auch wenn die einzelnen Autor/-innen unseren Überlegungen dabei nicht zwangsläufig folgen.
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Wie wirkt diese »unsichtbare Macht« politischer Diskurse? Welche Mechanismen sind am Werk?
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Ausgehend von der Tatsache, dass immer mehrere Diskurse miteinander konkurrieren – wie kann man sich einen Überblick über das diskurspolitische »Spielfeld« verschaffen? Welche Akteure agieren mit welchen Interessen? Welche unterschiedlichen Deutungen existieren in den jeweiligen politischen Konflikten? Welche Strategien bestehen, um Einzelinteressen als vermeintliche Gemeininteressen zu kommunizieren? Welche Entwicklungspfade und Institutionen begünstigen welchen Diskurs? Die Analysemethode, die wir in diesem Beitrag beschreiben, bezeichnen wir als strategische Diskursanalyse.
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Wie kann man schließlich vor diesem Hintergrund Einfluss auf die politischen Diskurse nehmen? Wir schließen unseren Text ab mit einigen Thesen, die wir als Beitrag zur Entwicklung einer strategischen Diskursführung verstehen.
Ein Schnelldurchgang durch die Welt der Theorien – konzeptionelle Bausteine einer strategieorientierten Diskursanalyse
Die Sprache ist ein wichtiges Instrument der Politik. Sprache dient der Argumentation, der Verhandlung, der Konsensfindung, aber auch der Agitation und Manipulation. Über Sprache stellen wir politische Zustimmung und Zugehörigkeit ebenso wie Abgrenzung her. (Auch) über Sprache werden politische Allianzen geknüpft und Mehrheiten gebildet. Über Sprache entwickeln wir eine Vorstellung davon, was für uns »wahr« ist. »Wer die Sprache kontrolliert, hat somit Kontrolle über das gemeinschaftliche Wir«, schrieb Benjamin Barber.
3 Von anderen Denkern der politischen Theorie kann man ähnliche Sätze finden. Ebenso findet man in der jüngeren Vergangenheit viele Beispiele des Machtge- und -missbrauchs von politischer Sprache:
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Aus dem Roman »1984« von George Orwell ist einer breiten Öffentlichkeit das »Neusprech« bekannt, eine vom diktatorischen Regime ver-ordnete Sprache, die das Denken der Menschen verändern soll. Die jüngere Tradition der politischen Sprachkritik in Deutschland kennt Viktor Klemperers »Lingua Tertii Imperii« über die manipulative Sprache des Dritten Reiches oder das »Wörterbuch des Unmenschen« von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind.
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In den letzten Jahrzehnten richtete sich der Fokus zunehmend auf die durch politische Sprache verstärkte Entfremdung zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung.
4 Schon Anfang der 1990er-Jahre beklagte der SPD-Politiker Erhard Eppler in seinem Buch »Kavalleriepferde beim Hornsignal« eine politische Kunstsprache: »In den Debatten des parlamentarischen Alltags wird ein Deutsch gesprochen, das in jenen Klischees erstarrt, die zumeist aus der Ministerialbürokratie stammen«.
5 Bereits einige Jahre zuvor diagnostizierte der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen die Zunahme von »Plastikwörtern«.
6 Vor der Bundestagswahl 2013 bescheinigte der Historiker Timothy Garton Ash der gesamten deutschen politischen Klasse eine »sterile Lego-Sprache«.
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In den 1990er-Jahren war es vor allem die Debatte über das Asylrecht in Deutschland und die Häufung ausländerfeindlicher Gewalttaten, die einer diskursanalytisch orientierten Sprachkritik – wie zum Beispiel in den Arbeiten der kritischen Diskursanalyse – eine gewisse Aufmerksamkeit über die akademische Welt hinaus bescherte.
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Im letzten Jahrzehnt wiederum hat die Diskussion um die Neuorientierung in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, vor allem die »Agenda 2010« der rot-grünen Bundesregierung, die Sprachkritik auf den Plan gerufen. Kritisiert wurde eine betriebswirtschaftlich inspirierte »Hartzsprache«
8 oder auch die »Verluderung der öffentlichen Sprache«.
9 Dies spiegelte sich in der Entscheidung einer Jury wider, die alljährlich »Unwörter des Jahres« auswählt. Im Jahr 2002 fiel die Wahl auf die »Ich-AG«, im Jahr 2004 war es das »Humankapital« und im Jahr 2005 die »Entlassungsproduktivität«.
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Bezeichnenderweise ging dieser politischen Sprachkritik seit Anfang der 1990er-Jahre eine Phase voraus, in der die politischen Strategen die »Semantik« als besonderes Aufgaben- und Kampffeld erkannt hatten. Zu einer gewissen Berühmtheit brachte es die »Projektgruppe Semantik«, die der damalige CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre eingerichtet hatte. Ausgangspunkt war die Einschätzung, dass das konservative Lager im Ringen um Hegemonie in der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung in der Folge von ’68 und der Bildung der sozialliberalen Koalition ins Hintertreffen geraten war. Während die SPD in ihrer sozialliberalen Regierungszeit die Biedenkopf-Strategien zumindest öffentlich nur begrenzt ernst nahm und darauf bestand, »Inhalte gegen Begriffe« zu setzen, richtete auch sie einige Jahre nach der politischen Wende 1982 und dem Verlust ihrer Regierungsverantwortung eine »Arbeitsgruppe zur politischen Semantik« ein.
Doch wie ist die Wirkung politischer Sprache in seiner Substanz zu erfassen? Welche Theorien, Methoden und Konzepte gibt es, das Zusammenwirken von Sprache, Macht und Denken zu erklären? Wir wollen einige wichtige Prämissen und Ansätze kurz darstellen.
Politische Sprache ist nicht neutral
Politische Sprache ist als
Soft Power10 zu verstehen. Sie prägt unsere Vorstellung von Wirklichkeit und hat daher »realitätskonstituierenden Charakter«.
11 Begriffe sind nicht »neutral«, sondern vielfach Gegenstand sogenannter semantischer Kämpfe, in denen es darum geht, diese mit einem bestimmten Inhalt zu füllen oder Sachverhalte mit bestimmten Begriffen zu bezeichnen. Politische Sprache ist zudem nicht nur argumentativ, sondern sie beinhaltet immer auch normative und emotionale Elemente. Jede politische Denkrichtung oder Gruppe verfügt über ein spezifisches Arsenal an Begriffen, Topoi, Metaphern und Narrativen, die im Bemühen um Meinungsführerschaft und Deutungsmacht zum Einsatz kommen. Dabei geht es nicht immer um eine sachliche Beweisführung, sondern darum, Übereinstimmung zwischen Redner/-in und Publikum herzustellen. Sprache ist somit Gegenstand sowohl politischer Deutungskämpfe wie auch politischer Taktik und Strategie: »Es geht um Deutungshoheit und Verwendungshoheit von Sprache. Denn Sprache ist ein Instrument zur Erlangung, Sicherung, Ausübung und Kontrolle von Macht«.
12 Politische Sprachanalyse widmet sich somit den folgenden Fragen:
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Mit welchen Begriffen wird politisch gearbeitet? Wie wird ein Sachverhalt bezeichnet (zum Beispiel Atomkraft oder Kernenergie) und welche Begriffe sind inhaltlich umkämpft (zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit)? Welcher politischer Akteur operiert mit welchen Schlüsselwörtern (Begriffe, die einen komplexen Sachverhalt ausdrücken sollen, zum Beispiel »Globalisierung«), Fahnenwörtern (eigene Leitbegriffe) und Stigmawörtern (Begriffe, um den politischen Gegner zu diskreditieren)? Welche Metaphern werden verwendet?
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Welche Topoi werden eingesetzt? Als Topoi bezeichnen Diskursanalytiker »Argumentationsmuster, die nicht notwendig in gleicher Weise sprachlich materialisiert werden müssen, die aber in vielen Texten als immer wieder ähnlich vorkommende, aber nur interpretativ zu erschließende gleiche, auf Plausibilität zielende Herstellung von Sachverhaltszusammenhängen vorkommen«.
13 Mit anderen Worten: Es handelt sich dabei um wiederkehrende Argumentationsmuster (zum Beispiel »Der demografische Wandel zwingt uns zu Reformen …«).
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Welche Narrative sind im Spiel? Ganz allgemein ist mit dem Narrativ eine politische Erzählung gemeint, die einzelne politische Forderungen oder Konfliktlinien in einen umfassenderen ideologischen, normativen und historischen Kontext einordnet und damit kollektive Identitäten formt. Narrative haben eine starke normative Aufladung. Sie sind eng mit (freilich umkämpften und unterschiedlich interpretierten) grundlegenden Wertvorstellungen verbunden, zum Beispiel mit Deutungen der Wertetrias der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) bzw. einer daraus abgeleiteten Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung und gesellschaftlichem Fortschritt. Narrative bilden eine wichtige Brücke der Kommunikation politischer, aber auch anderer Eliten zum Alltagsverstand der breiten Bevölkerung.
Politisches Denken ist nicht nur rational
Schon der Hinweis auf die normative Aufladung von Narrativen macht deutlich, dass politische Kommunikation nicht nur rationale Argumentation ist. In den letzten Jahren hat es – in der Politikwissenschaft und in Teilen der Politikberatung – eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Bedeutung von »Emotionen« im politischen Denken gegeben.
14 Alle diese Ansätze nehmen wiederum mehr oder weniger explizit Bezug auf Erkenntnisse der Hirnforschung und auf »Descartes’ Irrtum«, worauf der Titel eines Werks des Hirnforschers Antonio Damasio verweist.
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Dazu gehört die grundlegende Einsicht, dass es den rational denkenden und nüchtern kalkulierenden Homo oeconomicus allenfalls in abstrakten Modellen gibt, aber kaum in der Realität. Die Hirnforschung hat gezeigt, dass dieser Typus des rationalen und leidenschaftslosen »Mr. Spock« nicht mit der Funktionsweise unseres Gehirns in Einklang zu bringen ist. Autoren, die sich mit der Bedeutung von Emotionen sowie dem »Unbewussten« im politischen Denken beschäftigen, weisen darauf hin, dass sich der größte Teil unserer politischen Entscheidungen (die Werte reichen von 70 bis 98 Prozent) nicht bewusst vollzieht. Vier Grundannahmen sind für uns von besonderem Interesse.
Erklärt wird dies erstens mit Hilfe von »Dual-Processing-Theorien«. Diesen zufolge vollzieht sich unser Denken über zwei Systeme, die von verschiedenen Autoren als implizites und explizites System, automatisches und reflektierendes System oder schlicht als System 1 und System 2 bezeichnet werden. Das automatische System ist dem reflektierenden vorgelagert. Da das Gehirn Energie sparen will, »denkt« es nur dann mit hoher Aufmerksamkeit, wenn es nötig ist. Dieses System funktioniert schnell, energetisch effizient, assoziativ und ohne willentliche Steuerung. Das reflektierende System hingegen, das »bewusste Selbst« setzt erst dann ein, wenn das erste System überfordert ist bzw. keine Antwort findet. Es ist langsamer, hat eine geringere Verarbeitungskapazität und ist energieintensiver. Es löst Rechenaufgaben und bewältigt Entscheidungen, die nicht intuitiv getroffen werden können. Die Unterscheidung dieser beiden Systeme darf jedoch nicht (miss-)verstanden werden als Trennung von Emotion und Verstand. In beiden Systemen wirken rationale wie emotionale Aspekte zusammen.
Das vorgelagerte automatische System funktioniert
zweitens als eine Art Filter, welche Botschaften, Daten und Information wir überhaupt zulassen oder welchen wir Glauben schenken. Da Inhalte stets an Emotionen geknüpft sind, glauben die Menschen bestimmen Daten, während sie andere ausblenden. Das Gehirn neigt zu Entscheidungen, die zu unseren Emotionen passen. »Ob wir uns Ideen annähern oder ihnen ausweichen, hängt von den Gefühlen ab, die sie in uns hervorrufen.«
16 Zudem speichert das Gehirn Dinge unterschiedlich ab, je nachdem ob uns diese emotional berühren oder uns gleichgültig sind. Daniel Kahneman nennt dies »kognitive Leichtigkeit«: Bekannte Wörter vermitteln ein Gefühl der Vertrautheit, wir erleben diese kognitive Leichtigkeit, wenn wir der Quelle einer Aussage vertrauen oder diese mit unseren Präferenzen übereinstimmt. Emotionen schlagen oftmals Fakten – auch wenn wir dies ungern akzeptieren.
Von zentraler Bedeutung ist
drittens die aus der Hirnforschung und der kognitiven Linguistik übernommene Vorstellung von »assoziativen Netzwerken«, »kognitiven Schemata« oder »Frames« (also Rahmen oder Rahmungen). Frames – ein Begriff aus der Kommunikations- und Medienwissenschaft – können als »Deutungsmuster definiert werden, welche zur Sinngebung und Bewertung von unterschiedlichen Themen herangezogen werden«.
17 Frames reduzieren Komplexität. Sie beinhalten eine Problemdefinition, eine Ursachenzuschreibung, eine Bewertung und eine Handlungsempfehlung. Frames sind ferner symbolisch vermittelte Deutungsmuster, deren Verankerung sich über sogenannte »Frequenzeffekte« vollzieht. Werden bestimmte Sprach- und Deutungsmuster immer wieder verwendet, bilden sich in den Köpfen »kognitive Schemata« oder assoziative Netzwerke. Framing-Strategien bemühen sich um eine Ansprache der »inneren Wert- und Glaubenssysteme der Zielgruppe«.
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Mit der Rolle von Deutungsmustern setzt sich prominent der US-Wissenschaftler und Politikberater George Lakoff auseinander, der Metaphern bei der Aktivierung von Frames eine zentrale Rolle in der Kommunikation zuweist. Lakoff unterscheidet zwei Arten von Frames: Durch sogenannte
Surface Frames erfassen wir die Bedeutung einzelner Wörter oder Aussagen. Diese wiederum treffen auf
Deep seated Frames, also »in unserem Gehirn tief verankerte Frames, die unser generelles Verständnis von der Welt strukturieren, unsere Annahmen von der Welt zum Beispiel auf Grund unserer moralischen und politischen Prinzipien, und die für uns schlicht ›wahr‹ sind – die also unseren eigenen Common Sense ausmachen«.
19 Jedoch sind diese
Deep seated Frames nicht widerspruchsfrei. In den Köpfen vieler Menschen können durchaus verschiedene »Weltsichten« koexistieren (sogenannte
Biconceptuals). Ziel einer strategischen Kommunikation muss es also sein, die
Deep seated Frames zu identifizieren und sie der eigenen Weltsicht entsprechend zu adressieren.
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So wie Produktmarken bestimmte Bedürfnisse (nach Abenteuer oder Sicherheit) zu befriedigen suchen, ist
viertens davon auszugehen, dass auch politische Begriffe, Botschaften, Themen und Akteure (ob bewusst oder unbewusst) mit Bedürfnissen und Emotionen verbunden sind. Entsprechende Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass bestimmte Begriffe wie Arbeit oder Demokratie bei den einzelnen Bürgern sehr unterschiedliche Bedürfniswelten aktivieren.
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Diskurse strukturieren die politische Öffentlichkeit
Der Begriff »Diskurs« ist in diesem Text bereits einige Male verwendet worden. Er ist jedoch überaus komplex und wird in verschiedenen Theorierichtungen (auch von den Autor/-innen in diesem Band) unterschiedlich verwendet. Wir widmen uns dem politischen Diskurs und wollen somit den hier verwendeten Begriff grundsätzlich abgrenzen vom Alltagsgebrauch im Sinne einer »Diskussion über ein Thema«.
Ein politischer Diskurs zeichnet sich für uns durch vier wesentliche Merkmale aus:
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Wissen und Wahrheit sind diskursiv produziert. In politischen Diskursen findet ein ständiges Ringen darüber statt, was als »wahr« und »angemessen« gilt. Ebenso bestimmen Diskurse darüber, was überhaupt als »politisch« (und damit durch Politik veränderbar) gilt und was als »privat«. Diskurse sind somit eine zentrale Machtressource für jegliches politisches Handeln.
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Ein (politischer) Diskurs ist eine Struktur, die verschiedene (politische) Aussagen und Forderungen in einen Werte- und Sinnzusammenhang einordnet. Wer wirtschaftsliberal denkt und ein Umfeld hat, das ähnlich denkt, ist in eine andere Diskurswelt (diesen Begriff erläutern wir weiter unten) eingebunden als jemand, der zum Beispiel sehr kapitalismuskritische Einstellungen hat.
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Politische Diskurse sind ein (nicht zwangsläufig intendiertes) Resultat politischer Handlungen und Strategien. Jede politische Äußerung, jedes Plakat, jedes Interview, jedes Programm geht aus bestehenden Diskursen hervor und wirkt auch wieder auf Diskurse ein.
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Diskurse sind weit mehr als Sprache, sie werden fortwährend durch Institutionen, Regelsysteme und Wissensproduzenten, aber auch Praktiken stabilisiert und reproduziert.
Die Fülle der Diskursforschung lässt sich sehr grob nach vier erkenntnisleitenden bzw. methodischen Ansätzen unterteilen, die sich mitunter überschneiden, aufeinander beziehen oder gegenseitig als Ressource nutzen:
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Die
genealogisch theoretische Erfassung von Diskursen als machtgestützte Sinnordnungen und Bedeutungszuschreibungen. Für diesen Ansatz steht vor allem Michel Foucault, der unter dem Begriff »Diskurs« alle sozialen Praktiken versteht, durch die »Gestaltungsregeln« des Wissens geformt werden. Durch »diskursive Praxis
« wird Ordnung im Wissen erst hergestellt, zugleich stellen Diskurse selbst die Wissensordnung dar. Die gesellschaftliche Wissensordnung ist also nicht eine schlichte und neutrale Abbildung von Wirklichkeit, sondern vielmehr erst durch Inhalt und Form von Diskursen konstituiert. Foucault beschreibt Diskurse als regelnde und geregelte Äußerungssysteme, deren grundlegende Eigenschaft es ist, ein- und auszuschließen, etwas zuzulassen und etwas zu verwerfen und zu verknappen.
22 Durch Festsetzung von Regeln und Begriffsbedeutungen, durch die Definition von Normalität und Abweichung, die Institutionalisierung kollektiv verbindlicher Wissens- und Moralsysteme und schließlich durch die Nichtthematisierung des Undenk- und Unsagbaren, ist der Diskurs für Foucault eine notwendige Konstitutionsbedingung von Macht (und durch Veränderung des Diskurses auch die ihrer Transformation).
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Das
normative Modell einer Diskursethik herrschaftsfreier Kommunikation. Der Begriff »Diskurs« spielt auch im Rahmen der Diskursethik eine prominente Rolle, die der Sozialphilosoph Jürgen Habermas maßgeblich entwickelt hat. In diesem Ansatz wird der Diskurs als Ort begriffen, an dem sich die Geltung politischer Argumente überprüfen lässt. Ausgehend von der These, dass zwischen Legitimität und Wahrheit ein grundlegender Zusammenhang besteht, muss sich der Anspruch der Legitimität sowie ihre Geltung immer auch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen lassen. Als Ort dieser Geltungsüberprüfung wird der Diskurs normativ festgeschrieben. Während sich bei Foucault Diskurse noch fortwährend in und gerade durch Machtverhältnisse konstituieren, geht es Habermas in seiner Begründung idealer Diskursprozesse, in denen alle Diskursteilnehmer »strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen und zu kritisieren«,
24 gerade um die notwendige Abwesenheit von Macht. Zentral ist bei Habermas der »herrschaftsfreie Diskurs«.
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Die
inhaltlich-pragmatische Analyse von Diskursen, welche sich wiederum in deskriptiv-linguistische und kritische Diskursanalysen ausdifferenziert.Diskursanalytische Ansätze widmen sich weniger abstrakten diskursiven Sinnkategorien als vielmehr den jeweils konkreten Deutungskonflikten innerhalb gesellschaftlicher Diskurse. Dabei wird der Diskurs als eine auch empirisch analysierbare Herstellung von Öffentlichkeit sowie als Produktion öffentlicher Meinung verstanden, als eine »Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht« werden können. In der Diskursanalyse geht es bei den deskriptiven Forschungsansätzen zumeist um eine linguistische Freilegung der Funktionsweise öffentlicher Debatten und um die Analyse der Sprache öffentlicher Auseinandersetzungen. Die kritischen Ansätze der Diskursanalyse hingegen richten ihr Augenmerk stärker auf die Normierungs- bzw. Lenkungsprozesse sprachlichen Verhaltens
25 und verbinden dabei linguistische mit »ideologie-, gesellschafts- und sprachwissenschaftlichen sowie allgemeineren sozialwissenschaftlichen Fragestellungen«.
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Der
diskursinstitutionalistische Ansatz der Untersuchung diskursgenerierender und -determinierender Strukturen.Dieser Ansatz der Diskursanalyse, der maßgeblich von der Politikwissenschaftlerin Vivien A. Schmidt entwickelt wurde, fokussiert auf öffentliche Policy-Diskurse, also auf die öffentlich-medialen
Kommunikationsprozesse, in denen Politikentscheider miteinander und mit der Öffentlichkeit kommunizieren und vor allem ihre Politik gegenüber der Wahlbevölkerung zu legitimieren versuchen. In diesem Ansatz wird der institutionelle Kontext untersucht, der ein komplexes Raster kognitiver und normativer Interessensorientierungen unterschiedlicher Diskursprotagonisten vorgibt und zudem bestimmt,
wer auf welche Weise mit wem worüber spricht: der öffentliche Diskurs, in ein Raster nationaler Interessen- und Institutionenkonstellationen eingebettet, die seine spezifisch inhaltliche Ausprägung und kommunikative Interaktion bestimmen.
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Mit politischen Diskursen wird um Hegemonie gerungen
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass politische Diskurse bzw. ihre Repräsentanten miteinander um politische Bedeutung, geistig-kulturelle Führung, Einfluss und Macht ringen. In der Denktradition Antonio Gramscis kann man dies auch als Bemühen um Hegemonie bezeichnen. Im Gegensatz zu Zwang basiert Hegemonie auf einer Form von politischer Übereinkunft. Sie beschreibt also zunächst »eine bestimmte Form der politischen Macht, die durch Konsens und Zustimmung und auf der Ebene von Moral, Kultur und Ethik funktioniert«.
28 Hegemonie existiert nicht losgelöst von der Formation von Gesellschaft und Ökonomie: beispielsweise dem Stand der Produktivkräfte, der Einbettung nationaler Ökonomie in die Weltwirtschaft, dem politischen System, dem Sozial(-staats-)modell, den politischen Kräfteverhältnissen, der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen usw. Die Einheit aus einer bestimmten sozioökonomischen Formation und einem diese hegemonial absichernden Bündnis sozialer Gruppen wird von Gramsci als »historischer Block« bezeichnet, wobei wir kritisch anmerken, dass die Blockmetapher für eine heutige komplexe und dynamische Gesellschaft eher ungeeignet ist.
Heute wird ein man weit differenzierteres Spektrum sozialer Gruppen und ihrer Anliegen zugrunde legen müssen. Soziale Akteure sind im Ringen um Hegemonie darum bemüht, ihre eigenen Interessen und Anliegen im Namen einer Nation, einer Ideologie oder einer Werteidee als gemeinsame Anliegen bzw. als Gemeinwohl darzustellen. Das Ringen um Hegemonie vollzieht sich nicht nur auf einer rationalen Ebene von Interessen und Argumenten, sondern es zielt ab auf den
Alltagsverstand, der für Gramsci ein »wirres Ineinander von philosophischen Auffassungen«
29 ist, in dem sich alles auffinden lasse, was man finden wolle. Anders formuliert: Im Alltagsverstand der meisten Menschen finden sich konservative und progressive, egoistische und gemeinwohlorientierte Elemente. Eine hegemoniale Strategie
30 besteht darin, die Elemente zu adressieren, die zum eigenen Diskurs »passen«. Dabei ist Hegemonie nie »total« oder global. Die sachliche Reichweite (zum Beispiel Dominanz von Wirtschaftslehren), räumliche Reichweite (zum Beispiel nationale Wohlfahrtsstaatsmodelle) und zeitliche Reichweite (zum Beispiel die Phase »neoliberaler Dominanz«) sind begrenzt.
Diskurse und ihre Infrastruktur
Ob unter den Begriff des Diskurses nur Sprache und Texte zu fassen sind oder auch andere diskursprägende Elemente, ist in der Forschung umstritten. Zur Erfassung der Gesamtheit der Elemente, die das politische Denken prägen, kennt die Diskurstheorie den Begriff des
Dispositivs.
31 In Anlehnung an Michel Foucault definiert der Philosoph Giorgio Agamben das Dispositiv wie folgt: »Es ist eine heterogene Gesamtheit, die potenziell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv ist das Netz, das man zwischen allen diesen Elementen spannen kann«.
32 Eine andere Definition beschreibt Dispositive als die »materielle und ideelle Infrastruktur« von Diskursen. Zu solchen Dispositiven gehören demnach alle Elemente, die einen Diskurs
33 prägen und stabilisieren. So besteht beispielsweise das Sozialstaatsdispositiv unter anderem aus den Gesetzen und den Institutionen, die soziale Sicherheit in bestimmten Fällen bieten, aber auch aus den zugrunde liegenden wissenschaftlichen Theorien, veröffentlichten Studien und Statistiken, den Disziplinierungspraxen und der Architektur der Behörden, den auszufüllenden Formularen usw.
Diskursmacht ist unterschiedlich verteilt
Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger oder alle politischen Akteure über die gleichen Chancen verfügen, politische Diskurse zu beeinflussen. Im Wesentlichen sind es die folgenden Faktoren, die über die »Diskursmacht« entscheiden:
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Ist die Aussage oder Forderung zumindest anschlussfähig an den hegemonialen Diskurs, oder gehört sie einem eher randständigen Diskurs an?
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Hat die oder der Sprecher/-in eine wichtige Funktion, und verfügt er/sie über symbolische Macht? Beherrscht er/sie die gültigen Kommunikationsregeln?
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Gelingt es dem oder der Sprecher/-in Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – sei es über eine einflussreiche Funktion, über ökonomisches Kapital (gekaufte Aufmerksamkeit, PR, Werbung), über große Netzwerke (ob in der analogen Zivilgesellschaft oder im Internet) oder in Form Aufsehen erregender Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit (zum Beispiel Aktionen von NGOs). Hierzu gehört auch die Frage, ob oder wie es dem oder der Sprecher/-in gelingt, Zugang zu den Massenmedien zu finden.
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Eine Sonderform von Diskursmacht drückt der von Foucault geprägte Begriff »Gouvernementalität« (französisch
Gouvernementalité) aus – einer Zusammensetzung der Begriffe
gouvernement (Regierung) und
mentalité (Denkweise). Foucault bezeichnet mit »Regierung« in diesem Zusammenhang jedoch nicht die konkrete Exekutive eines Staates, sondern vielmehr »die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung«.
35 Bei diesem Konzept handelt es sich um eine besondere Form der Machtanalyse, die nach dem Zusammenwirken von staatlicher Praxis und Subjektivierung fragt. Es geht im Kern um die Frage, wie sich staatliches Handeln und staatliche Erwartungen über Diskurse und Dispositive in das Handeln der Bürger, in das Alltagsdenken und die Lebensführung der Einzelnen übersetzen und damit zur »Normalität« werden.
Diese »Technologien des Selbst« unterscheiden sich damit grundlegend von Herrschaftstechniken, die auf direkter Unterwerfung basieren. In einer solchen Sichtweise wendet der Staat neben politischen Machttechniken auch »pastorale« Techniken an, die auf die »Regierung der Seelen« abzielen. So fragt eine Gouvernementalitätsanalyse des Neoliberalismus nicht nur nach den Veränderungen der politischen und ökonomischen Strukturen oder nach den Interessen, die hinter dem Diskurs stecken, sondern auch danach, wie die Ökonomisierung des Sozialen zum Prinzip staatlichen Handelns wird und wie dies sodann von den Einzelnen »verinnerlicht« wird.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt nicht immer das Bewusstsein – aber oft schon
Die individuellen Unterschiede politischer »Wahrheiten« und Einstellungen verteilen sich nicht zufällig in der Gesellschaft. So ist ein maßgeblicher Gegenstand der Wissenssoziologie die Frage nach der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« bzw. der »Seinsgebundenheit des Denkens«.
36 Was bestimmte soziale Gruppen »wissen« bzw. für »wahr« halten, ist nicht beliebig, sondern maßgeblich an ihre soziale Lage, Generationenlage oder ihr Geschlecht gebunden.
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Der
Habitus stellt eine »Vermittlungsinstanz zwischen objektivierten Strukturen und individuellen Praxen«
38 dar. Als das »Körper gewordene Soziale« (Pierre Bourdieu) ist er Ausdruck bestimmter Weltsichten und Denkweisen und Vorstellungen vom »richtigen Leben«.
39 Er ist zudem Ausdruck von Klassenlagen bzw. der Verfügung über ökonomisches (materielle Ressourcen), soziales (Netzwerk, Kontakte), symbolisches (Prestige, Aufmerksamkeit) und kulturelles (Bildungstitel, Wissen) Kapital. Er bezeichnet bestimmte Moralvorstellungen, Lebensstile, die Sprache, den Geschmack und Verhaltensweisen. »Die im Habitus eingelagerten Klassifikationen und Unterscheidungsprinzipien, Bewertungs- und Denkschemata schlagen sich nieder in Praxen der Lebensführung.«
40 Soziale Gruppen mit einem ähnlichen Habitus werden als Milieus bezeichnet. Eine Verbindung von Habitus, Milieus und Diskurs besteht in dreifacher Hinsicht:
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Diskurse und milieuspezifische Habitus (Plural) stehen in einem Wechselverhältnis. Der Habitus wird über die Sprache und die Diskurse der Eltern und des engen sozialen Umfelds in der Kindheit »erlernt«. Zugleich prägt er auch die Diskurse, denn »die Weisen der Welterzeugung (Strukturierung) und Weltauslegung (Dekodierung) sind habituell.«
41 Er hat insofern eine »strukturierende und strukturierte Disposition«.
42 Zwischen den verschiedenen Habitus wird konflikthaft verhandelt, welche gesellschaftliche Ordnung angestrebt ist, was eine »gute Kultur« ausmacht usw.
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Der Habitus regelt den Zugang zu den Diskursen bzw. die Möglichkeit, auf diese Einfluss zu nehmen. Der sprachliche Habitus ist Ausdruck von »symbolischer Macht«,
43 die darüber entscheidet, ob man in einem bestimmten Diskurs als legitimer Sprecher zugelassen wird. Im jeweiligen (ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen) Feld verfügen die Akteure in unterschiedlichem Maße über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, das als symbolische Macht genutzt werden kann. Eine Person mit einem (sprachlichen) Habitus der Arbeiterklasse wird auf einer Aktionärsversammlung (ganz unabhängig davon,
was sie sagt) vermutlich weniger ernst genommen als ein Aktionär mit Oberschichtshabitus. Auf die Weise wird die Anzahl der Sprecher, die »legitimerweise« sprechen dürfen, über (auch habituelle) Qualifikationsrituale stark reduziert.
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Doch auch wenn – wie dargestellt – die »Diskursmacht« ungleich verteilt ist, sind Eliten- oder Expertendiskurse sind nicht identisch mit Alltagsdiskursen, die oft widersprüchlicher und stärker von persönlichen Problemen und Erfahrungen geprägt sind.
44 Ein
Trickle-down-Transfer von Elitendiskursen zu Diskursen der gesellschaftlichen »Basis« findet selten statt. Ein Beispiel ist der vor allem um die Jahrtausendwende sehr dominierende sozialpolitische
Workfare-Diskurs, der mit Leitbildern wie »Fördern und Fordern«, »Eigenverantwortung« und »Aufstieg« gearbeitet hat. Zwar gab es für diesen Diskurs in Teilen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht (nicht zuletzt den Massenmedien) durchaus Akzeptanz. Aber in großen Teilen der Arbeitnehmerschaft und den Gewerkschaften kollidierte dieser Diskurs mit der eigenen Lebenserfahrung (Entwertung von Qualifikationen, Abstiegsängste) und provozierte daher auch Ablehnung und Widerstand.
Diskurse haben eine Geschichte
Diskurse sind immer auch das Ergebnis kollektiver Erfahrungen und Auseinandersetzungen früherer Zeiten. Gerade hoch emotionale Erfahrungen wie Krisen, Katastrophen, Konflikte und Erfolge wirken maßgeblich auf Diskurse ein. In langen politischen Auseinandersetzungen kann irgendwann »normal« werden, was in früheren Zeiten hoch umstritten war – dies gilt auch in umgekehrter Richtung. Vor allem dieses »Einsickern« in den Common Sense ist Gegenstand der Disziplin der historischen Diskursanalyse. Sie hat »das selbstverständliche Wissen, die nicht formulierte Wahrheit, die allgemein akzeptierte Wirklichkeit im Blick, über die man sich nicht weiter verständigen muss«.
45 Achim Landwehr spricht von einer »Naturalisierung von Diskursen«, wenn diese einen Grad an Selbstverständlichkeit erreicht haben, dass sie nicht mehr grundlegend infrage gestellt wird.
46
Wir haben bereits auf die Bedeutung von Narrativen hingewiesen. Eine Sonderform des politischen Narrativs sind
politische Mythen.
47 Ein politischer Mythos knüpft an einem dem breiten Publikum bekannten, meist historischen Stoff an und setzt diesen in Bezug zur Gegenwart. Man kann ihn als eine »emotional aufgeladene Narration definieren, die historische Wirklichkeit nicht den Tatsachen gemäß, sondern in einer selektiven und stereotypisierenden Weise interpretiert«.
48 Sie versichern dann, so Herfried Münkler, »dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik«.
49 Politische Mythen stiften Sinn und vermitteln Orientierung. Sie schaffen »Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl« und verfügen über einerseits legitimierende, integrierende und Kohärenz vermittelnde Funktionen und kommunikative und mobilisierende Funktionen andererseits.
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Diskurse blockieren und ermöglichen den gesellschaftlichen Wandel
Gesellschaftliche Entwicklung scheint sich durch längerfristig stabile Phasen auszuzeichnen, in denen sich eine einmal eingeschlagene Richtung kaum ändert. Dies wird auch als »Pfadabhängigkeit« bezeichnet. Diese sozialwissenschaftliche Metapher soll verdeutlichen, dass zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt zwar verschiedene Wege (zum Beispiel der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates) denkbar waren, aber dann nur der einmal eingeschlagene Weg auf Dauer weiter verfolgt wird. In der Vergangenheit getroffene Entscheidungen und die Etablierung von Routinen wirken somit in die Gegenwart (und Zukunft) fort und schränken Handlungsalternativen ein.
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Ist ein Pfad erst einmal eingeschlagen, entwickelt dieser innere »Stabilisierungsmechanismen« bzw. Lock ins, die theoretisch unterschiedlich begründet werden, aber aus unserer Sicht auch nur interdisziplinär erfasst werden können, gerade weil es sich hier um materielle Interessen, institutionelle Verfestigungen sowie Gewohnheiten und Denkweisen handelt (zum Beispiel wenn ein Land den Weg eingeschlagen hat, sich in hohem Maße von Atomenergie abhängig zu machen). Eine Vielzahl von ökonomischen (zum Beispiel Investitionen in bestimmte Technologien, Weltmarktabhängigkeit), politischen (zum Beispiel organisierte Interessen), sozialen (zum Beispiel Abgrenzung von Milieus) und (sozial-)psychologischen Faktoren (zum Beispiel Verlustaversion) führen dazu, dass eine Gesellschaft (oder bestimmte Teilsysteme bzw. Politikbereiche) auf »bekannten Pfaden« verbleibt.
Der Ökonom Kurt Hübner nennt drei Gründe, warum es ein »schwieriges Unterfangen« ist, derartige Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen:
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Der Zeithorizont zentraler Akteure. Hierzu gehört zum Beispiel das Problem vierjähriger Legislaturperioden des Deutschen Bundestages in Relation zur »Jahrhundertaufgabe« einer Bewältigung der Klimakatastrophe.
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Das ökonomische, politische und kulturelle Gewicht, das der etablierte Pfad mit sich bringt. Dieser Pfad ist immer mit Interessen, Sicherheiten, Gewohnheiten etc. verbunden.
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Das Ungewissheitsproblem einer Umsteuerung. Niemand kann sicher sein, dass eine alternative Option für die Gesellschaft, aber auch den Einzelnen zu einer Verbesserung führt.
Den Versuch einer strategischen Antwort auf solcherart Pfadabhängigkeiten liefern Transformationskonzepte und -theorien. Gesellschaftstransformation bedeutet, den Gegensatz von Struktur und Handeln zu überwinden. Strukturen prägen unser Handeln (und Denken). Aber durch Handeln (und Denken) können Strukturen verändert werden. Politische Akteure, die um eine solche Transformation bemüht sind, müssen immer innerhalb einer vorgegebenen Struktur agieren, das heißt entlang verriegelter Pfade. Diese Pfade bestimmen einen beschränkten und kurzfristigen politischen Handlungsspielraum; erst wenn die Verriegelungen mittel- bis langfristig »geknackt« werden, lässt sich der Handlungsspielraum erweitern.
In der Transformationsforschung wird darauf hingewiesen, dass Schocks und Krisen alte Pfade aufbrechen können. Dies sind »Momente, in denen das alte, stabile institutionelle und machtpolitische Equilibrium durchbrochen wird und sich Möglichkeiten für tiefgreifende Reformen eröffnen«.
53 Auch Diskurstheoretiker weisen darauf hin, dass Risiko-Ereignisse ein »Gelegenheitsfenster für konkurrierende Diskursperspektiven« öffnen können.
54
Jedes politische Transformationskonzept nimmt seinen Ausgangspunkt in der vorgefundenen hegemonialen Konstellation der »Konflikte, gesellschaftspolitischen Diskurse und Auseinandersetzungen, Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse«.
55 Für das Gelingen einer Transformation (hier in Richtung »Nachhaltigkeit«) sei, so der
Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen, eine ausreichende Verbreitung entsprechender Einstellungen und Präferenzen die Voraussetzung, sie müsse im »Einklang stehen mit den Vorstellungen eines guten und gelungenen Lebens«.
56 Wichtig ist dabei die »herausragende Bedeutung von breit geteilten Narrativen für die Handlungsorientierung von Akteuren. Narrative reduzieren Komplexität, schaffen Orientierung für aktuelle und zukunftsorientierte Handlungsstrategien, sind Grundlage der Kooperation zwischen Akteuren und fördern Erwartungssicherheit«.
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Vorschlag für ein politische Analysemethode: strategieorientierte Diskursanalyse
Aus unserer Sicht ist es für eine politische Strategie, die darauf abzielt, politische Diskurse zu prägen, unerlässlich, sich einen Überblick über die »Diskurslage« zu verschaffen. Im Folgenden wollen wir nun eine politische Analysemethode vorschlagen, die wir als »strategieorientierte Diskursanalyse« bezeichnen. Diese greift die genannten Überlegungen auf und unternimmt den Versuch, die »normale« Diskursanalyse um weitere Elemente zu ergänzen. Grundlegend sind dabei die Begriffe Diskurskontextes, Diskursebenen und Diskurswelten.
Diskurskontext
Unter dem »Diskurskontext« verstehen wir die allgegenwärtige und allumfassende Sphäre, in der Diskurse entstehen und geführt werden. Er bestimmt die Wirkungsbedingungen und Regeln, unter denen sie sich entfalten und stellt auf diese Weise eine diskursdeterminierende wie auch -generierende Infrastruktur bereit, durch die sich Diskurse überhaupt erst artikulieren können. Der Diskurskontext ist gewissermaßen der Resonanzkörper, in dem die geführten politischen Diskurse widerklingen. Hier finden sich die Akteure und Publika mit ihren jeweiligen Interessen, die Diskurse führen, rezipieren und so »zum Leben erwecken«, hier entstehen politische Ideen, die den Inhalt und Argumente der Diskurse bestimmen und hier befinden sich die öffentlichen (medialen) Räume, in denen konkurrierende Diskurse aufeinandertreffen.
Alle statischen und dynamischen Einflüsse, die einen Diskurs in seiner Ausprägung bestimmen (Macht- und Produktionsverhältnisse, die Distribution von Kommunikationsressourcen, Kultur und gesellschaftliche Praxisfelder, sozioökonomische Interessenkonstellationen, Medien- und Wissenschaftsbetrieb, Technologien usw.) konstituieren den Diskurskontext. All diese Bedingungen und Einflüsse, die in ihrer Gesamtheit den Diskurskontext bilden, dürfen jedoch nicht als klar abgeschlossene und abgrenzbare Einheit verstanden werden, sondern vielmehr als sich immer neu konstituierende und sich überlagernde Dimensionen. Für die Mehrzahl der Diskurse sind nationale Kontextbedingungen wesentlich bestimmend, wobei auch diese – gerade im Zeitalter der Globalisierung – verstärkt durch transnationale Bedingungen dieser Diskurswelten geprägt werden (globale Netzwerke, globale Konsum- und Lebensstile, transnationale Organisationen usw.). Andere Diskurswelten, deren Diskursrepräsentanten und Akteure eher Teil einer internationalen Diskurswelt sind und sich um politische Diskurse gruppieren, die eher Themen globaler Ausmaße behandeln (Ökologie- oder Post-Wachstum-Diskurse), reagieren hingegen eher auf globale Kontextbedingungen. Zugleich ist der Diskurskontext aber selbst das Ergebnis von Diskursen bzw. diskursiver Produktion. Die Gesamtheit der Diskurse erzeugt und verändert erst den Diskurskontext, in dem sie geführt werden können.
Diskursebenen
Ganz offenkundig unterscheiden sich politische Diskurse hinsichtlich ihres »Tiefgangs«, ihres Zeithorizonts oder ihrer Grundsätzlichkeit. So ist es ein Unterschied, ob in einer Kommune über den Gewerbesteuerhebesatz gestritten wird oder in der (inter-)nationalen Arena über die Frage, ob das kapitalistische Wachstumsmodell noch zukunftsfähig ist. Daher unterscheiden wir vier Diskursebenen.
Die Diskurse an der sichtbaren Oberfläche bezeichnen wir als Policy-Diskurse. Auf dieser Ebene findet die Kommunikation der Akteure in Bezug auf konkrete Problemlösungen und Handlungsziele mit Blick auf die Wahlbevölkerung, auf andere Policy-Akteure (Parteien, Verbände, Gewerkschaften etc.) statt. Auf der Policy-Ebene kann man einen Diskurs im alltagsprachlichen Verständnis als eine öffentliche Debatte um ein politisches Thema beschreiben, in der um die »beste« Lösung gestritten wird.
Auf der zweiten Ebene befinden sich die Paradigmen-Diskurse. In ihnen werden Problem- und Krisenphänomene verhandelt, die nicht durch bloßes Anpassen und Nachjustieren innerhalb der bestehenden und bekannten Mechanismen gelöst werden können. Auf dieser Diskursebene geht es um die kognitive wie normative Verschiebung des handlungspolitischen Rahmens, in dem sich sodann neue »normale« Policy-Problemlösungen ergeben. In Paradigmen-Diskursen setzt sich ein neues Ordnungsprinzip als ein bestimmter Satz möglicher Policy-Antworten auf drängende politische Fragen durch und bleibt – als Teil eines Regulationsmodus, der ein gegebenes Akkumulationsregime stabilisiert – über einen längeren Zeitraum dominant.
Politisch-ökonomische Krisen stellen eine Zäsur dar, weil bis dahin etablierte und eingespielte Steuerungs- und Distributionsmechanismen nicht mehr funktionieren und es zu einer Neuordnung der Regulationsinstitutionen und einer Neuverteilung der wirtschaftlichen Ressourcen kommt. Welche Gestalt und welche Richtung Neuordnung bzw. Neuverteilung haben, ist im Krisenmoment selbst meist noch offen und ist erst nachfolgend das Ergebnis von Machtkämpfen. Über Paradigmen-Diskurse wird ein neues Ordnungsprinzip kognitiv und normativ durchgesetzt, wie zum Beispiel im Zuge der Ablösung des keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen durch das neoliberale Paradigma ab Ende der 1970er-Jahre.
Auf der dritten Ebene werden Narrativ-Diskurse geführt. In diesen werden kollektive Vorstellungen und große sinngebende Erzählungen »verhandelt«, die sich im Bewusstsein der Bevölkerung tief verankert haben. Die in diesen Diskursen kommunizierten gesellschaftlichen Vorstellungen und Selbstverständnisse betten Policy- und Paradigmen-Diskurse somit in ein historisch gewachsenes, vielfach mythisch aufgeladenes Raster aus Werten, Erinnerungen und Auffassungen ein. Narrativ-Diskurse schöpfen ihre diskursiven Wirkungspotenziale meist aus der Anrufung historischer Ereignisse, Mythen und kollektiv geteilter Erfahrungen.
In Deutschland beispielsweise ist die »soziale Marktwirtschaft« ein zentraler Narrativ-Diskurs. Zur Zeit ihrer begrifflichen Entstehung war die »soziale Marktwirtschaft« durchaus umstritten und stand alternativen wirtschaftspolitischen Leitvorstellungen wie zum Beispiel dem »Demokratischem Sozialismus« der Sozialdemokratie oder auch dem »Christlichen Sozialismus« großer Teile der Christdemokratie gegenüber. Erst mit dem sogenannten »Wirtschaftswunder« und vor allem der Rentenreform 1957 wurde »soziale Marktwirtschaft« allmählich zum dominanten Diskurs, der immer weitere politisch-gesellschaftliche (auch ursprünglich widerstrebende) Akteure und Positionen in sich einschloss.
»Soziale Marktwirtschaft« ist als historische Errungenschaft weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert, und der Begriff selbst schwebt förmlich – oft nur noch in Sonntags- und Grundsatzreden – über den politischen Konfliktlinien. Der Narrativ-Diskurs »soziale Marktwirtschaft« hingegen ist hoch umkämpft, weil in ihm Deutungshoheit für die politische Auseinandersetzung der Gegenwart erarbeitet wird: Ist eher das freie Spiel der Marktkräfte oder betriebliche Mitbestimmung, private Eigenverantwortung oder Sozialstaatlichkeit, freies Unternehmertum oder der soziale Kompromiss das wesentliche Charakteristikum der historischen »Sozialen Marktwirtschaft«? Wie sind die jeweiligen Elemente zu gewichten, und vor allem: Welche Konsequenz ist daraus für die Gegenwart zu ziehen?
Eine grundlegende Ebene stellen schließlich die Meta-Diskurse dar. Sie sind am wenigsten umstritten und werden dafür umso mehr von allen politischen Kräften vereinnahmt. In Meta-Diskursen geht es um fundamentale erkenntnistheoretische Grundannahmen, Wahrnehmungsschemata, Perspektiven und Methoden: zum Beispiel wissenschaftlich-rationalistischer Determinismus, die Vorstellung linear fortschreitender Zeit oder ein spezifisches Naturverständnis. Auch grundlegende normative Wertvorstellungen wie die Menschenrechte oder die naturrechtliche Begründung des Liberalismus formulieren sich auf dieser Diskursebene.
Unser Modell der Diskursebenen soll zunächst einmal darauf aufmerksam machen, dass Diskurse unterschiedlichen »Tiefgang« haben können. Reale politische Diskurse finden natürlich auf mehreren Ebenen statt. Die Ebenen sind zudem durchlässig und überlagern sich. Zum einen greifen Policy-Diskurse an der Oberfläche auf Sinn-Ressourcen der tieferen Ebenen zurück. So beziehen sich in Deutschland – wie bereits erwähnt – von der Linkspartei bis zur FDP inzwischen fast alle Parteien positiv auf das Narrativ der »Sozialen Marktwirtschaft«, deuten den Begriff aber anders. Zum anderen können Elemente der höheren Ebenen mit der Zeit auf den tiefer liegenden Ebenen sedimentieren und zur normativen Grundausstattung werden. So war die politische Gleichheit von Frauen und Männern noch vor 100 Jahren hoch umkämpft – inzwischen ist sie Teil der Meta-Diskurse, und die Erfolge der Frauenbewegung sind in die narrative Ebene eingesickert.
Diskurswelten
Eine zweite »Sortierung« ergibt sich daraus, dass Diskurse Ausdruck verschiedener Interessen und Wertvorstellungen sind. Über die wesentlichen »größeren« politischen Fragen unserer Zeit gibt es sehr unterschiedliche Diskurse, die bzw. deren Repräsentant/-innen sich um Meinungsführerschaft bemühen. Akteure, die Einfluss auf Diskurse nehmen, befinden sich in der Regel in Ensembles mit bestimmen theoretischen Auffassungen, Traditionen, Interessen, Praktiken usw. Diese Ensembles bezeichnen wir als
Diskurswelten. Sie liegen gewissermaßen quer zu den Diskursebenen, doch sie operieren auf allen vier Ebenen. Ohne den Rückgriff auf Begründungen der Meta- und Narrativebene ist eine Diskurswelt schwer denkbar.
58 Allerdings unterscheiden sich die Diskurswelten hinsichtlich ihrer expliziten Bezugnahme auf die jeweiligen Ebenen. Je näher der Diskurs am hegemonialen Status quo ist, wird der Konflikt auf der
Policy-Ebene geführt und lässt die anderen drei Ebenen legitimierend »mitschwingen«. Ist der Diskurs weit vom Statuts quo entfernt und formuliert als zentrale Forderung eine sehr weit reichende Transformationsperspektive, muss er deutlich mehr im öffentlichen Konflikt die Grundsatzfrage stellen und zum Beispiel den herrschenden Paradigma-Diskurs herausfordern. Diskurswelten charakterisieren wir durch zehn Eigenschaften:
Erstens hat jede Diskurswelt eine selektive Sicht auf die zu lösenden politisch-gesellschaftlichen Probleme und bringt insofern auch spezifische »Lösungsvorschläge« hervor. Diskurse, die auf gesellschaftlichen Einfluss abzielen oder gar Hegemonie anstreben, sind stets darum bemüht, ihre Anliegen so zu begründen, dass sie im Einklang mit dem Gemeinwohl stehen. Sie formulieren als Leitidee ein zentrales Versprechen, von dem sich dann vielfältige politische Einzelforderungen ableiten und miteinander verknüpft sind. So hat beispielsweise der Wirtschaftsliberalismus das Versprechen »Mehr Marktfreiheit ermöglicht mehr Wachstum und mehr Chancen für jeden Einzelnen« formuliert. Jede einzelne Forderung nach Liberalisierung oder Privatisierung ankert letztlich in diesem zentralen Versprechen. Die analytische Frage lautet: Welche einzelnen Forderungen werden im Diskurs artikuliert und welches zentrale Versprechen liegt ihm zugrunde?
Diskurswelten konstruieren zweitens nicht nur eine Innen-, sondern notwendig auch eine antagonistische Außenwelt, die fortwährend die Negation des eigenen zentralen Versprechens darstellt. Wirtschaftsliberale beispielsweise stellen nahezu alles als »freiheitsfeindlich« oder als »wohlstandsmindernd« dar, was nicht ihrem Versprechen des Marktliberalismus entspricht. Zu fragen ist: Von welchem »Außen« grenzt sich der Diskurs ab?
Drittens existiert auf der Ebene der politischen Subjekte ein Netzwerk meinungsprägender Diskursrepräsentanten aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien. Diese Akteure stehen untereinander in zumindest lockerem Kontakt und bestätigen ihren eigenen Diskurs permanent selbst. Frage: Welche strategischen Subjekte bzw. Diskursrepräsentanten haben Interesse an diesem Diskurs und befördern ihn?
Viertens sind Diskurswelten zwar nicht deckungsgleich mit politischen Milieus oder politischen Lagern, sie verfügen aber über eine gesellschaftliche Basis, deren Interessen, Wertvorstellungen und Habitus in dieser Diskurswelt eine zentrale Bedeutung haben. Um gesellschaftliche Hegemonie zu erreichen, müssen Diskurswelten einen stabilen Gesellschaftskompromiss – im Sinne einer Akzeptanz des Wirtschafts- und Sozialmodells »im Großen und Ganzen« seitens verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, gestützt durch Diskurse auf der Paradigmen- und Narrativ-Ebene – überspannen. Es ist zu fragen: Welche sozialen Gruppen bzw. Milieus tragen diesen Diskurs?
Fünftens verfügt jede Diskurswelt über eine spezifische Wissensordnung im Sinne von den Akteuren geteiltem Wissen bzw. geteilten Wahrheiten. Zentral ist hier die bekannte Unterscheidung Gramscis zwischen der Philosophie als kohärenter »intellektueller Ordnung« einerseits, wobei es auch hier nicht die eine Philosophie gibt, sondern unterschiedliche Philosophien miteinander im Wettstreit liegen, und andererseits einen nicht einheitlichen und nicht kohärenten Alltagsverstand. Dieser ist ein widersprüchliches Ensemble verschiedener Philosophien. Wir unterscheiden drei Stockwerke der Wissensordnung einer Diskurswelt: die Ebene der Wissensproduktion (zum Beispiel Wissenschaft, Thinktanks), die Ebene der Wissensvermittlung (zum Beispiel Bildungseinrichtungen, Medien, Verbände) und die Ebene des Alltagswissens und des Alltagsverstandes. Daraus folgt die Frage: Welches Expertenwissen, welche Vermittlungsstrukturen und welches Alltagswissen liegen diesem Diskurs zugrunde?
Stabilisiert und reproduziert werden diese Diskurswelten sechstens durch Institutionen, Strukturen, Routinen und Traditionen, die Dispositive prägen bzw. Subjekte, »Gewohnheiten« und oft unhinterfragte »Normalitäten« hervorbringen. Daher stellt sich die Frage: Welche Dispositive stabilisieren diesen Diskurs und prägen das Denken der Subjekte?
Siebtens berücksichtigen wir in unserer Definition von Diskurswelten die Erkenntnis, dass politische Urteile und Entscheidungen nicht ausschließlich bewusst und rational getroffen werden. Politisches Denken ist nicht zu trennen von Emotionen, die durch Personen, Themen und Diskurse aktiviert werden. Politische Themen bedienen nicht nur funktionale Bedürfnisse (eine sachliche Lösung), sondern immer auch soziale und emotionale Bedürfnisse. Frage: Welche emotionalen Bedürfnisse bedient der Diskurs?
Zudem weisen die jeweiligen Diskurswelten achtens eine bestimmte Sprache auf. Sachverhalte unterliegen einer Bezeichnungskonkurrenz (Atomkraft vs. Kernenergie), Begriffe unterliegen einer Bedeutungskonkurrenz (Freiheit als »Freiheit vom Staat« oder als »Freiheit zum selbstbestimmten Leben«). Diskurswelten verfügen über Schlüsselwörter, Kampfbegriffe und Metaphern, die assoziative Netzwerke oder Frames aktivieren, die wiederum nicht von den bereits erwähnten Emotionen zu trennen sind. Zu fragen ist: Welche Begriffe und Metaphern sind wichtige sprachliche Elemente des Diskurses?
Neuntens sind solche Diskurswelten nicht geschichtslos – im Gegenteil: Sie versuchen, eine Kontinuitätsgeschichte zu erzählen, die Vergangenheit und Zukunft verbindet, und bedienen sich im kollektiven Bewusstsein verankerter (aber zwischen den Diskurswelten umkämpfte) Narrative und Mythen. So kann der »American Dream« beispielsweise progressiv und konservativ gedeutet werden, und dasselbe gilt für den deutschen Nachkriegsmythos der »sozialen Marktwirtschaft«. Frage: Welcher Narrative und Mythen bedient sich der Diskurs?
Diskurswelten verfügen zehntens zum einen über eigene Medien oder kommunikative Kanäle und Räume, die dem Binnendiskurs sowie der Selbstbestätigung dienen. Zum anderen sind sie aber auch auf die Aufmerksamkeit der Massenmedien angewiesen, wenn sie gesellschaftliche Relevanz entfalten wollen. Abschließende Frage daher: Über welche Medien und kommunikativen Kanäle wird der Diskurs (re-)produziert?
So definierte Diskurswelten sind in ihrem Inneren weder inhaltlich völlig widerspruchsfrei noch auf Dauer fixiert. Sie nehmen neue Impulse, Ideen sowie Akteure auf und integrieren sie. Auf diese Weise können sie sich reproduzieren und zugleich an veränderte Kontextbedingungen anpassen. Diskurswelten haben auch keine starren Grenzen, sondern sind eher fluide, überlappen und verbinden sich. Akteure der einen Diskurswelt gehen möglicherweise Verbindungen mit Repräsentanten benachbarter Welten ein, Teildiskurse prägen eigene Diskurswelten aus, oder kleine Diskurswelten gehen in größeren auf usw. Konkurrierende Diskurswelten verfügen allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß über gesellschaftliche und politische Relevanz. Manche bleiben auf Dauer in gesellschaftlichen Nische gefangen, andere können über einen längeren Zeitraum hegemonial werden, wenn es ihnen gelingt, verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ein plausibles Deutungs- und Zugehörigkeitsangebot zu unterbreiten und bestimmte, ihnen zugrunde liegende Interessen zu verallgemeinern. Dauerhaft hegemoniale Diskurswelten konstituieren letztlich auch relativ stabile ökonomische oder wohlfahrtsstaatliche Entwicklungspfade und »Klassenkompromisse«.
Um diese abstrakten Ausführungen an einem Beispiel zu veranschaulichen: Im Rahmen einer ersten Pilotstudie des »Denkwerk Demokratie« wurde der Versuch unternommen, die politischen Diskurse über die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die jeweils »richtige« Wirtschaftsordnung zu identifizieren und darzustellen.
59 Dabei wurden öffentlich zugängliche Texte (Programme und politische Beschlüsse, Bücher, Aufsätze und Artikel, Interviews) vor allem aus den Jahren 2011/2012 auf erkennbare Muster hin untersucht. Identifiziert wurden sieben Diskurse, die hinsichtlich ihrer Krisensicht, ihrer zentralen Versprechen, ihrer Wertvorstellungen und politischen Forderungen ein jeweils kohärentes Muster aufweisen. Wie erwähnt, sind die Diskurse keineswegs trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern sie überschneiden sich (Quelle: Mikfeld 2012):
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Marktfreiheit und schlanker Staat: Dieser Diskurs legitimiert wirtschaftsliberale »Reformen« und sieht in staatlicher Regulierung die Wurzel allen Übels. Sein zentrales Versprechen lautet: »Mehr Marktfreiheit ermöglicht mehr Wachstum und mehr Chancen für jeden Einzelnen«.
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Made in Germany: Dieser Diskurs stellt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, die ihr zugrunde liegende Innovationskraft und die daran hängenden Arbeitsplätze ins Zentrum. Sein zentrales Versprechen: »Geht es der deutschen Wirtschaft (Industrie) gut, geht es der Gesellschaft gut«.
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Marktwirtschaft mit gesellschaftlicher Verantwortung: Dieser Diskurs steht in besonderer Weise in der Tradition bürgerlich-konservativen Denkens. Ordoliberal und sozialethisch beeinflusst, wird marktwirtschaftliche Freiheit mit »bürgerlichem« Verantwortungsethos verbunden. Sein zentrales Versprechen heißt: »Wir müssen Regeln finden und vor allem Werte stärken, die unsere Marktwirtschaft wieder auf gesellschaftliche Verantwortung verpflichten«.
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Grünes Wachstum: Dieser vergleichsweise junge Diskurs rückt die ökologische Problematik ins Zentrum und sieht in ihrer Bewältigung eine Innovationsaufgabe. Sein zentrales Versprechen: »Grünes Wachstum ermöglicht eine ›doppelte Dividende‹ und damit die Versöhnung der sozialen und der ökologischen Frage«.
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Soziale Regulierung und gerechte Verteilung: Dieser Diskurs steht in der Tradition verschiedener Strömungen der Kapitalismuskritik und der Arbeiter/-innenbewegung. Seine Kritik und Krisensicht richtet sich in erster Linie gegen die neoliberale Politik und wirtschaftliche Praxis seit den 1970er-Jahren. Dementsprechend lautet sein zentrales Versprechen: »Wohlstand für alle ist möglich. Aber dafür brauchen wir das Primat demokratischer Politik über die Märkte, einen starken Staat und gerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen«.
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Maßvoller Wohlstand: Dieser Diskurs steht für einen konservativen Postmaterialismus. Er geht von den ökologischen Grenzen des Wachstums aus, zielt aber darauf ab, bestehende Machtverhältnisse und soziale Unterschiede innerhalb dieser Grenzen zu konservieren. Er sieht die ganze Gesellschaft in einer Krise, alles sei »maßlos« geworden. Sein zentrales Versprechen: »Mehr Lebensglück ist möglich, wenn wir unsere Maßstäbe verändern und mit dem Wachstumswahn brechen«.
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Alternatives Wirtschaften und Postwachstum: Dieser – kapitalismuskritische und zum Teil linksalternative – Diskurs geht stärker als alle anderen bislang skizzierten Diskurse von einer Vierfach- oder auch »Meta-Krise« aus, die Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft und Demokratie umfasse. Deren Ursache wird im gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gesehen. Sein zentrales Versprechen lautet: »Ein gutes Leben für alle Menschen auf der Welt ist nur möglich, wenn wir das gegenwärtige Wirtschafts- und Konsummodell überwinden«.
Diese sieben beschriebenen Diskurse lassen sich in einem zweidimensionalen politischen Raum darstellen, der von zwei Achsen aufgespannt wird. In der ersten Dimension wird danach differenziert, ob diese Diskurse sich eher am Prinzip liberaler Marktfreiheit orientieren oder eher an Vorstellungen einer sozial regulierten Wirtschaft. Diese Dimension entspricht auch der Differenzierung zwischen einem konservativen und einem progressiv-demokratischen Diskurslager. Die zweite Dimension unterscheidet nach der »Wachstumsfreundlichkeit« dieser Diskurse: Wird zukünftiges Wachstum eher als Beitrag zur ökonomischen Problemlösung gesehen, oder ist Wachstum an sich eher Teil des Problems?
Strategische Diskursführung – Thesen
Was folgt aus diesen analytischen Überlegungen nun für eine politisch-strategische Praxis? Wir wollen unsere Schlussfolgerung in fünf knappen Thesen bündeln:
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In der politischen Strategieführung brauchen wir ganz grundsätzlich ein tieferes Verständnis dafür, dass es »Diskurse« als Machtfaktoren gibt, die zwar nicht in der kurzen Frist, aber sehr wohl langfristig beeinflussbar sind. In Krisen kann sich der Handlungsspielraum weiten, aber auch nur dann, wenn neue Diskurse zuvor bereits aufgebaut wurden und an diese angeknüpft werden kann.
Der Raum des Politischen ist durchzogen von politischen Diskursen, die miteinander um Deutungshoheit ringen. Diskurse drücken nicht nur argumentative »Meinungen« aus, sondern verbinden Interessen mit Werten und emotionalen Bedürfnissen. Was Bürger für »wahr« halten, ist stets umkämpft und eine politische Machtressource. Man kann also politisch nicht jenseits von Diskursen agieren: Jede politische Aussage, jede Metapher, jedes Interview zahlt auf das Konto eines Diskurses ein. Oft ist politischen Akteuren aber nicht bewusst, auf welches Konto sie da gerade einzahlen.
Es ist also notwendig, sich einen Überblick über das politisch-diskursive Spielfeld zu verschaffen. Dabei geht es zum einen darum, politische Potenziale für mögliche Diskursallianzen zu identifizieren: Welche (neuen) Ideen und Sichtweisen gibt es, die vom Rand in den Mainstream geführt werden können? Wer teilt bestimmte Ziele und Wertvorstellungen? Welche Narrative werden von wem geteilt bzw. welche Gemeinsamkeiten und Konflikte bestehen auf den einzelnen Diskursebenen? Andererseits gilt es, die politisch-kulturellen Trennlinien, die Lock ins und strukturkonservierenden Dispositive zu erkennen. Welche Akteure haben welche Interessen, und wer blockiert den gewünschten Wandel? Welche gesellschaftlichen Gruppen sind zwischen dem »Alten« und dem »Neuen« hin- und hergerissen, können aber prinzipiell gewonnen werden?
Im Rahmen einer strategieorientierten Diskursanalyse ist es aus unserer Sicht notwendig, zwei Dimensionen politischer Diskurse zu differenzieren. Die erste Dimension sind Diskursebenen, auf denen politische Diskurse operieren. So geht es bei einem Streit auf der Policy-Ebene (zum Beispiel über die Höhe von Steuersätzen) meist nicht nur »pragmatisch« um sachliche Lösungen, sondern es wird diskursiv auch auf tiefer verankerte Wertvorstellungen und Gesellschaftsmodelle verwiesen. Umgekehrt kann ein kurzfristiger kommunikativer »Geländegewinn« auf der Policy-Ebene, der im Widerspruch zu den eigenen Werten und Ideen auf den unteren Diskursebenen steht, den eigenen Diskurs langfristig erheblich schwächen.
Die zweite Dimension sind Diskurswelten, in denen politische Diskurse überhaupt erst entstehen. Zu nahezu allen politischen Problemen finden sich miteinander in Wettstreit liegende Problemerklärungen und -lösungen, die wiederum Teil umfassender politischer gesellschaftlicher Deutungsmuster sind. Diskurswelten bestehen sowohl aus den in Konflikt miteinander stehenden Diskursen wie auch der sie umgebenden Ensembles aus Akteuren, Institutionen, Wissensproduzenten und Kommunikationsstrukturen.
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Wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass politische Transformationen ein Neu- und Umdenken, neue Allianzen und Change Agents voraussetzen, dann ist es unwahrscheinlich, dass nur selten ein einziger, bislang nicht hegemonialer Diskurs in den Vordergrund rückt. Das bedeutet, dass gesellschaftliche Transformationen in einem Wechselverhältnis mit der Verknüpfung bestehender bzw. der Herausbildung neuer Diskurse stehen. Während bei dem in der Diskurstheorie üblicheren Begriff der Diskurskoalition mitschwingt, dass einzelne Akteure ihrem eigenen Denken »treu« bleiben, aber eine taktische Koalition eingehen, sprechen wir lieber von Diskursallianzen, die deutlich machen, dass etwas Neues entsteht, das an die Stelle der alten Diskurswelten (oder Teilen davon) tritt.
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Neue politische Diskurse entstehen, indem Partikularinteressen in poli-tische Gemeinschaftsinteressen transformiert und umgekehrt vermeintliche Gemeinschaftsinteressen als die Einzelinteressen weniger dekonstruiert werden. Diskursallianzen addieren auch nicht einfach konkurrierende Diskurse, sondern sie vergrößern die Schnittmengen zwischen im politischen Raum benachbarten Diskursen. Wenn solche Allianzen ein bestimmtes Maß an Bedeutung und Kohärenz aufweisen, kann aus ihnen ein eigenständiger Diskurs bzw. eine entsprechende Diskurswelt erwachsen. Politische Diskursallianzen sind also gleichzusetzen mit neuen »Vernetzungen« auf drei Ebenen:
– auf der Ebene der politischen Lösungen und Projekte (und damit auch Diskursen auf der Policy-Ebene),
– auf der Ebene der individuellen und kollektiven Akteure, die Problemsichten, Ziele und Wertvorstellungen teilen: also Diskurse vor allem auf der Paradigmen- und Narrativ-Ebene,
– auf der Ebene der »politischen Gehirne« der Einzelnen, indem sich neue »assoziative Netzwerke« oder Frames etablieren.
Neue Diskurse und Diskursallianzen können jedoch nicht nur top down entwickelt werden. Die Diskurse von Experten und Meinungseliten übersetzen sich nicht bruchlos in das Denken der breiten Bevölkerung. An bestimmte Alltagsdiskurse und habituelle Prägungen können sie mehr, an andere weniger anknüpfen. Zudem haben Alltagsdiskurse eine Eigenständigkeit und beinhalten auch ein widerständiges Potenzial. Die Entstehung neuer Diskurse setzt einerseits voraus, dass sie eine gewisse Aufmerksamkeit erlangen und so von der breiten Bevölkerung wahrgenommen werden. Dies ist kaum vorstellbar ohne Zugang zu den Massenmedien.
Da eine Diskursallianz immer Gemeinsamkeiten in der Pluralität herzustellen bedeutet, kann sich eine neue Diskursallianz andererseits nicht allein über die Massenmedien vermittelt herausbilden. Wichtig ist es daher, über den direkten Zugang zu verschiedenen sozialen Milieus zu verfügen. Erforderlich sind »organische Intellektuelle«, die im Lebensalltag bzw. auf der Ebene der Zivilgesellschaft Überzeugungsarbeit leisten. Ebenso erforderlich sind offene und demokratische Räume (kommunale Ebene, Parteien, im Internet, zivilgesellschaftliche Organisationen usw.), in denen Meinungsaustausch stattfinden und »brückenbildendes Sozialkapital« aufgebaut werden kann. Politische Hegemonie ist nach diesem Verständnis nicht in erster Linie das Ergebnis der Strategie der Repräsentanten eines Diskurses, sondern eine (stets dynamische) Resultante der Kräfterelationen verschiedener Diskurswelten und vieler Milliarden Kommunikationsakte im Alltag.
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Politisches Denken funktioniert nicht frei von Konflikten, Werten und Emotionen. In den Köpfen der Einzelnen korrespondieren die Diskurse mit »assoziativen Netzwerken« oder Frames. Politisches Denken ist zu einem nicht unerheblichen Teil unbewusst, und politische Botschaften werden durch das, was wir kennen und mögen gefiltert. So wichtig Fakten und sachliche Argumente auch sind, überzeugend wirken vor allem politische Botschaften, die auch Emotionen auslösen. Politische Überzeugung und Mobilisierung darf zudem nicht nur auf negative Kommunikation setzen (»Es war schon immer schlimm, aber jetzt wird es noch viel schlimmer«) setzen, weil negative Storys auch negative Emotionen verstärken. Wichtig sind positive Visionen und Hoffnungen. Politische Diskurse stellen ein »Innen« und ein »Außen« entlang politischer Konfliktlinien her. So geht es bei vielen politischen Konflikten (zum Beispiel um große Infrastrukturprojekte) nicht nur um die Sache, sondern auch um kollektive Identitäten, Werte und einen Streit über die grundsätzliche Frage des guten Zusammenlebens.
Wichtig ist die Fähigkeit, eine kohärente Geschichte zu erzählen. Eine Diskursallianz braucht eine normative und narrative Basis und eine starke Verankerung auf der Ebene der Narrativ-Diskurse. Was ist die Vorstellung vom »guten Leben«? Welche Konzepte von Freiheit und Gerechtigkeit liegen zugrunde? An welche guten Traditionen und Erfolge unseres Landes knüpfen wir selbstbewusst an und welche setzen wir in der Zukunft fort?
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Gleichwohl entstehen neue Diskursallianzen auch nicht zufällig, sondern sie sind Ergebnis eines mehr oder weniger bewussten strategischen Wirkens von Akteuren, die sich für sozialen und politischen Wandel einsetzen. Erforderlich sind strategische Akteure und Change Agents in Politik, Zivilgesellschaft und Staat. Folgende Kompetenzen sind dabei erforderlich:
– Analysekompetenz: die Fähigkeit zur Analyse des »politischen Spielfeldes« bzw. der Diskurswelten, um Blockadefaktoren, aber auch progressive Potenziale identifizieren zu können.
– Politische Innovationskompetenz: die Fähigkeit, neue Trends, Ideen, Lösungen und Projekte zu entwickeln oder zu identifizieren und in den politischen »Mainstream« zu überführen.
– Dialogkompetenz: die Fähigkeit zur politischen Empathie, sich in andere Diskurswelten hineinzuversetzen, zu vermitteln, Vertrauen und Sozialkapital aufzubauen und politisch zu überzeugen.
– Strategiekompetenz: das Erkennen und Nutzen von Gelegenheitsfenstern und die Herstellung von politischen Bündnissen. Zur Strategiekompetenz gehört auch der »lange Atem«, das heißt die Fähigkeit, die Eigenlogik des Medien- und Politiksystems zu überwinden und langfristige Ziele zu verfolgen.
– Kommunikationskompetenz: die Fähigkeit, politische Forderungen und Ideen in eine – mehrere Diskurswelten verbindende – kohärente emotionale Erzählung zu integrieren und diese öffentlich zu kommunizieren.
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Eine strategische Diskursführung mit dem Ziel der Herstellung von Diskursallianzen und einer politischen Transformation braucht – als diskurspolitische Antriebskraft – transformative politische Projekte, die vier Voraussetzungen erfüllen:
– Sie müssen anschlussfähig an verschiedene Diskurswelten sein, müssen verschiedene Diskurse einbeziehen und einen Beitrag dazu leisten, die in dominierenden oder hegemonialen Diskursen als konträr konzeptualisierten Ziele (zum Beispiel ökonomische Stärke vs. soziale Gerechtigkeit) in neuen Synthesen aufzulösen.
– Sie dürfen nicht ungewollt den Status quo konservieren, sondern müssen eine Option auf weitere Reformen eröffnen. So birgt zum Beispiel eine nur halbherzige Regulierung der Finanzmärkte die Gefahr, das an sich problematische System zu stabilisieren (immerhin »hat man ja gehandelt«), ohne wirklich die Ursachen der Krise zu beseitigen.
– Sie sollten Institutionen, die konkurrierende Diskurse stabilisieren, überwinden und neue Institutionen schaffen, die den eigenen Diskurs stärken.
– Sie sollten Raum schaffen für Experimente, Ideen, Kreativität sowie Pioniere und sich an Best Practices orientieren, die zeigen, dass eine andere Politik nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich ist.
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