Gemeinwohl und Gemeinwohlblockade: Wie »funktionieren« hegemoniale Diskurse?
Martin Nonhoff
Schon seit den Anfängen des menschlichen Nachdenkens über Politik ist die Annahme verbreitet, dass Politik und Sprache aufs Engste miteinander verwoben sind. So ist etwa das berühmte politische Lebewesen des Aristoteles zugleich das Wesen, welches über den Logos verfügt, also die Sprache, die uns erlaubt, in der gemeinsamen Diskussion und unter Rückgriff auf die Vernunft zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Allgemeiner formuliert dient uns die Sprache dazu, uns die Welt anzueignen und uns darüber Gedanken zu machen, wie wir in ihr leben wollen. Dies ist allerdings kein solitärer Prozess; vielmehr erfolgt sowohl die Erschließung der Welt als auch die Bestimmung unseres menschlichen Platzes in ihr im Austausch untereinander.
Dabei sind wir einerseits darauf angewiesen, dass unsere Bedeutungszuschreibungen an die Welt nicht völlig auseinanderklaffen, wenn menschliche Kooperation möglich sein soll. Andererseits aber gibt es offenkundig große Unterschiede in der Deutung der Welt und den Konsequenzen, die wir daraus für unser Handeln ableiten: Ob zum Beispiel Einwanderung überhaupt als Problem gerahmt wird, ob sie wie ein Verbrechen oder wie ein Naturereignis verstanden wird, ob Einwanderer als Arbeitnehmer oder als Sozialleistungsempfänger in Erscheinung treten, all dies wird unterschiedliche Reaktionen auf Seiten des Zielstaats und unterschiedliche Lebensformen für die Einwanderer selbst bedeuten. Dass die Deutung der Welt »im Austausch« stattfindet, bedeutet somit also nicht, dass dieser Austausch zu gleichen Lesarten führt. Vielmehr wird es häufig so sein, dass konkurrierende Interpretationen existieren und miteinander ringen. Damit aber sind wir im Herzen dessen, was wir Politik nennen. Die sinnhafte Erschließung der Welt durch das, was man als Diskurse bezeichnen kann, also durch die zahlreichen Zuschreibungen von Bedeutung, ist zutiefst politisch, weil diese Zuschreibungen erstens grundlegend für unser kollektives Handeln und zweitens umkämpft sind.
Die Analyse politischer Diskurse befasst sich mit den überindividuellen Produktionsprozessen von gesellschaftlicher Bedeutung. Sie fragt dabei zum einen danach, wie es kommt, dass bestimmte Denkweisen dominant geworden sind, oft so dominant, dass Alternativpositionen gar nicht mehr auftauchen, jedenfalls nicht, ohne dass diejenigen, die sie vertreten, jeden Anspruch darauf verlieren, ernst genommen zu werden. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Beschreibung der deutschen Wirtschaft als »Soziale Marktwirtschaft«,
1 die sich im Lauf der bundesdeutschen Geschichte, anfangs vor allem durch die CDU angetrieben, so umfassend durchgesetzt hat, dass sie heute von Vertretern der FDP genauso getragen wird wie von Vertretern der Linkspartei (auch wenn die genauere Bestimmung dessen, was »Soziale Marktwirtschaft« heißt, nur in Teilen übereinstimmt). Zum anderen fragt die politische Diskursanalyse aber auch danach, was allgemein die Strukturen und Prozesse diskursiver Vorherrschaft ausmacht. Sie tut dies oft unter dem Schlagwort der »Hegemonie«, womit seit Antonio Gramsci Formen der Vorherrschaft gemeint sind, in denen der Gegner zwar dominiert wird, aber niemals als völlig unterworfen gelten kann. Deswegen geht es in Bestrebungen um Hegemonie stets um langfristiges und nie endendes strategisches Manövrieren, das es der eigenen Position erlaubt, die Oberhoheit zu bewahren.
Politische Diskurse haben oft ein solches Hegemonie-Bestreben. Strukturell beruht es, wie ich im Folgenden näher ausführen möchte, auf drei Faktoren:
2 Erstens werden die Forderungen unterschiedlicher politischer Kräfte als »äquivalent« begriffen, also als letztlich miteinander vereinbar. Zweitens gelingt dies dann, wenn es sich überzeugend behaupten lässt, dass alle Forderungen letztlich aufgrund desselben Problems entstanden sind, dass dieses Problem die Verwirklichung des Gemeinwohls verhindert und dass es jemanden oder etwas (zum Beispiel eine Ideologie) gibt, der oder das für das Problem verantwortlich ist. In anderen Worten müssen verschiedene Akteure die Welt so ordnen, dass sich ein Bündnis für sie anbietet, weil sie demselben Gegner gegenüberstehen. Drittens muss man über eines der Mitglieder eines solchen sich anbahnenden Bündnisses (bzw. über eine zentrale Forderung) glaubhaft sagen können, dass es (bzw. sie) alle anderen Kräfte (bzw. Forderungen) des Bündnisses repräsentiert. Dies wäre dann der zentrale Kristallisationspunkt einer Hegemonie.
Dem Zusammenhang von Diskurs, Hegemonie und Gemeinwohlbehauptung ist dieser Beitrag gewidmet. Ich gehe dazu in den folgenden Schritten vor: Zunächst gebe ich dem hier zugrunde gelegten Diskursbegriff etwas Kontur (1). Anschließend beschreibe ich knapp verschiedene Faktoren diskursiver Vorherrschaft, um mich anschließend auf die Struktur der hegemonialen Sinnerzeugung zu konzentrieren (2). Dabei kann man zwischen ausgereiften Hegemonien und hegemonialen Projekten unterscheiden; hegemoniale Projekte bilden den üblichen Analysegegenstand (3). Auf die Struktur solcher hegemonialen Projekte gehe ich dann ausführlich ein (4), um zum Schluss noch die Frage zu diskutieren, inwiefern strategische Diskurssteuerung eine sinnvolle Option darstellen kann (5).
Zum Begriff des Diskurses
In sehr allgemeiner Weise können Diskurse verstanden werden als komplexe Formierungen sozialen Sinns, gebildet aus zahlreichen sich miteinander verkettenden und sich überlagernden Sinnproduktionsakten. Mit »Sinn« ist dabei gemeint, dass wir die Welt, genauer: die Gegenstände, Sachverhalte, Personen, Kräfte usw. in differenzierter Weise begreifen. Der Sinn der Welt erschließt sich uns dadurch, dass wir zwischen verschiedenen Elementen unterscheiden und ihnen jeweils bestimmte Qualitäten, Eigenschaften, Rollen, Funktionen etc. zuschreiben. Würden wir das nicht tun, würde uns die Welt nur als amorphe Masse begegnen, in der wir uns und unser Handeln nur schwer in irgendeiner sinnhaften Weise verorten könnten.
Mit Diskursen die Welt zu erschließen heißt also, dass wir spezifische Unterscheidungen vornehmen und sie entsprechend kommunizieren. Sieht man genauer hin, so erkennt man, dass Diskurse uns dabei in drei Qualitäten gegenüber treten: Erstens bestehen sie aus einer Vielzahl einzelner diskursiver Akte, also Akten der Differenzierung. Diese Akte werden im Anschluss an die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe »Artikulationen« genannt.
3 Solange Menschen kommunizieren (und wir können uns den Menschen kaum als nicht kommunizierendes Wesen vorstellen), bilden diese vielen Artikulationen eine Art kontinuierlichen Strom der Sinnerzeugung, der sich allerdings nicht völlig willkürlich verhält, sondern gleich einem Fluss diskursiven »Flussbetten« folgt, also historisch entstandenen, gewohnten Pfaden.
In diesem Sinn können wir davon sprechen, dass uns Diskurse zweitens als regulierte Prozesse umgeben, reguliert einerseits, weil wir bei der Sinnproduktion oft in ähnlichen Modi des Kommunizierens vorgehen (wer darf in welchem Kontext wie als Sprecher auftreten?), aber auch andererseits, weil bestimmte Inhalte zu bestimmten Zeiten und in bestimmten sozialen Settings leichter, schwerer oder gar nicht kommuniziert werden können oder dürfen. So ist etwa Gotteslästerung heute leichter kommunizierbar als früher, wohingegen homophobe Artikulationen weniger akzeptiert sind. Neben ihrer Erscheinungsform als eine Vielzahl von Artikulationen und als regulierter Artikulationsprozess können wir von Diskursen drittens auch als Strukturen von Sinn sprechen, die uns umgeben. Diese Strukturen entstehen, weil bestimmte Artikulationen sehr häufig von verschiedenen Diskursteilnehmern über lange Zeit vorgenommen werden, sodass trotz der Prozesshaftigkeit und damit der Zeitabhängigkeit von Diskursen der Effekt von Stabilität entsteht. Man kann dann in Anlehnung an Michel Foucault von diskursiven Formationen sprechen. Beispiele hierfür können die Diskurse über Verfahren und Methoden sein, nach denen man am besten wissenschaftliches Wissen erlangt, oder normative Diskurse, die Gerechtigkeit näher bestimmen, sei es über den Leistungs-, den Bedarfs-, oder den Gleichheitsbegriff.
Diskurse lassen sich also als Vielzahl einzelner Sinnproduktionsakte bzw. Artikulationen begreifen, als Prozesse und als Strukturen. Welchen dieser Aspekte man hervorhebt, ob man zum Beispiel auf die Dynamik des Prozesses oder auf die Stabilität der Struktur sieht, wird vom jeweiligen Blickwinkel einer Diskursanalyse abhängen. Wichtig ist aber in jedem Fall, dass Diskurse keine Ebene jenseits der materiellen Welt darstellen. Diskurse werden nicht über die »wahre Welt« gebreitet, sie sind nicht einfach Worte, die man den Dingen so oder so anhaften kann. Vielmehr verhält es sich so, dass uns die Gegenstände immer schon und ausschließlich als diskursive Gegenstände, also als Gegenstände, die einen bestimmten Sinn haben und ergeben, entgegentreten. Erneut mit Foucault
4 gesprochen, bringen die Diskurse die Gegenstände erst hervor. Das heißt freilich nicht, dass wir uns nicht über eine materielle Welt jenseits der Sinnwelt Gedanken machen könnten. Die Welt ist durch und durch materiell, aber als solche ist sie immer auch durch und durch diskursiv. Es ist schlicht und ergreifend nicht vorstellbar, über das Materielle ohne Bezug zur Sinnwelt zu sprechen.
Kampf um Vorherrschaft in demokratischen Diskursen
Diskurse haben, wie eben beschrieben, zugleich prozessualen und strukturalen Charakter. Weite diskursive Bereiche sind sehr stabil: Auch wenn sie durch viele einzelne Artikulationen als Prozess am Laufen gehalten werden, erscheinen sie uns vor allem als relativ fixe, nahezu unhinterfragbare Sinnstrukturen. Dies ist auch in der Politik immer wieder so, zum Beispiel erschien es in vielen Kulturkreisen über viele Jahrhunderte hinweg als selbstverständlich, dass Politik von Männern gemacht wurde, aber nicht von Frauen. In der jüngeren demokratischen Politik der Moderne sind die Räume, in denen man von nahezu absoluten Selbstverständlichkeiten ausgeht, aber wesentlich kleiner geworden. Der Kerngedanke der demokratischen Revolution, wie sie sich 1776 in den USA und 1789 in Frankreich ereignet, besteht nachgerade darin, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, was aber zugleich heißt, dass die Grundlagen aller Gewissheit aufgelöst sind.
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Dies bedeutet nun nicht, dass sich die Zonen diskursiver Stabilität vollends auflösen. Aber es bedeutet erstens, dass sie sich grundsätzlich auflösen können (es sind eben nicht mehr nur Männer, die Politik machen) und die Stabilität einer diskursiven Formation sich oft nicht quasi-natürlich einstellen wird, sondern dass sie gegen diskursiven Widerstand erkämpft werden muss. Stabilität resultiert dann aber nicht mehr aus kosmischer oder göttlicher Ordnung, die unhinterfragt angenommen wird, sondern aus der erfolgreich erkämpften politischen Vorherrschaft in Diskursen.
Diese Vorherrschaft beruht auf zahlreichen Faktoren, von denen in modernen Demokratien drei besonders hervorstechen: Erstens spielt es sicher eine Rolle, wer spricht. Unterschiedliche Akteure können in verschiedenen diskursiven Arenen verschiedene diskursive Macht mobilisieren. Das hängt nur in sehr geringem Ausmaß von persönlichen Fähigkeiten ab, vielmehr von strukturell gegebenen Positionen, von denen aus man sprechen kann. So wird etwa in wissenschaftlichen Diskursen an modernen Universitäten ganz unabhängig von den jeweiligen Inhalten der Inhaber einer ordentlichen Professur für gewöhnlich eher wahrgenommen als eine Person, die seit 30 Jahren Privatgelehrter ist. In politischen Diskursen hat jemand, der im Amt der Kanzlerin oder der Vorsitzenden einer großen Partei spricht, anderen und zumeist höheren Einfluss als jemand, der ohne jedes Amt und Parteimandat interveniert. Zweitens hängt es ganz wesentlich von der Struktur der Öffentlichkeit bzw. der Struktur der Massenmedien ab, ob sich bestimmte Themen und im Rahmen dieser Themen bestimmte Perspektiven effektiv Gehör verschaffen können. Diskursiver Kampf um Vorherrschaft kann sowohl bedeuten zu versuchen, bessere Sprecherpositionen zu erlangen, als auch, die Medienstruktur zu verändern (zum Beispiel durch die Neubesetzung von Intendantenposten oder die Einführung des Privatfernsehens).
So wichtig diese Eingriffe in die Strukturen, in denen Diskurse stattfinden, zweifelsohne sind, die Diskursforschung schaut meistens vor allem auf einen dritten Faktor: die Struktur der Artikulationen bzw. des Artikulationengeflechts selbst. Bei diesen Analysen spielt es auch eine wichtige Rolle, wer spricht und in welchen Medien gesprochen wird, insbesondere dann, wenn das Korpus für die Analysen zusammengestellt wird. Das Augenmerk liegt aber oft auf den artikulierten Inhalten und den diskursiven Mechanismen, anhand derer die Vorherrschaft des selbstverständlichen Sinns hergestellt wird. Diese möchte auch der vorliegende Beitrag nun erhellen.
Hegemonie oder hegemoniale Projekte analysieren?
Wenn man vergangene oder gegenwärtige
6 politische Diskurse analysiert, so bedeutet das nicht, dass man den Verlauf künftiger Diskurse prognostizieren könnte. Politik hat stets Elemente des Unvorhersehbaren, des Plötzlichen. Auch wenn wir lange Kontinuitäten ausmachen können, so treten doch immer wieder Ereignisse auf, die Diskurse erschüttern und verschieben können, seien dies Terroranschläge, die die Außen- wie die Innenpolitik verändern, sei dies das Auftreten einer unerwarteten neuen politischen Kraft, die mit bestimmten Themen viele Stimmen mobilisieren kann. Wegen dieser Elemente des Unvorhersehbaren ist auch das Werden und Vergehen von Hegemonie nicht im Sinne des Verlaufs eines physikalischen Experiments klar erwartbar. Dass eine diskursive Hegemonie Bestand hat, lässt sich oft plausibel nachzeichnen, zum Beispiel dann, wenn der allergrößte Teil der politischen Parteien und der relevanten Verbände das deutsche Wirtschaftssystem als »Soziale Marktwirtschaft« bezeichnet und die eigene Strategie an diesem Paradigma ausrichtet.
Doch eine genaue Schwelle festzulegen, ab wann man eine Hegemonie konstatieren kann, wird meistens nicht möglich sein. Hegemonieanalysen beschränken sich daher zumeist darauf, die typischen Strukturen von hegemonialen Projekten zu untersuchen und in empirischen Fällen zu rekonstruieren. Dass sich in Diskursen die Strukturen von hegemonialen Projekten finden lassen, lässt aber noch keine Aussage darüber zu, dass oder wann eines dieser Projekte zur Hegemonie wird. Allerdings kann man davon ausgehen, dass diskursive Interventionen, die nicht der Struktur eines hegemonialen Projekts folgen, wohl auch nicht zu diskursiver Vorherrschaft gelangen werden.
Hegemoniale Projekte zwischen Gemeinwohl und Gemeinwohlblockade
Was ist nun also die Struktur von hegemonialen Projekten im politischen Diskurs? Zunächst wird man festhalten müssen, dass sie strategische Interventionen sind. Als solche sind sie abhängig von der Artikulation von mindestens drei Faktoren: der eigenen diskursiven Position, der Position möglicher Verbündeter und der Position des Gegners oder der Gegner.
Eine hegemoniale Strategie beruht zunächst darauf, ob man sich selbst in der Position desjenigen wahrnimmt, der als »Hegemon« Angriffe von anderen hegemonialen Projekten abwehren muss, oder aber desjenigen, der als »Underdog« gegen eine Hegemonie ankämpft. Die Strategie des Hegemons lässt sich als defensiv-hegemoniale Strategie bezeichnen (es geht um die Absicherung der eigenen Hegemonie), die Strategie des Underdogs als offensiv-hegemoniale Strategie. Weil das Hauptinteresse von Hegemonieanalysen bislang zumeist darauf lag zu verstehen, wie die hegemoniale Dynamik funktioniert, wie sich also neue hegemoniale Projekte durchsetzen konnten, lag ihr Augenmerk zumeist auf der offensiv-hegemonialen Strategie; auf sie werde ich mich nun auch hier konzentrieren.
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Kommen wir nun zur Frage der Bündnisse und Gegnerbestimmung: Offensiv-hegemoniale Projekte zielen ganz wesentlich darauf ab, verschiedene gesellschaftliche Kräfte unter einer Führung zusammenzuschmieden. Dabei kann man davon ausgehen, dass verschiedene soziale Kräfte sich dadurch auszeichnen, dass sie unterschiedliche Vorstellungen davon haben, warum eine Gesellschaft das Gemeinwohl verfehlt, und wie man vorgehen müsste, um das Gemeinwohl sicherzustellen. In den späten 1940er-Jahren und den 1950er-Jahren finden wir in den westlichen Besatzungszonen bzw. in der Bundesrepublik zum Beispiel Forderungen nach Preisfreiheit, nach bezahlbarem Wohnraum, nach Marktwirtschaft und nach aktivem Eingreifen des Staates in die Wirtschaft.
In solchen Situationen besteht ein erstes Strukturelement von hegemonialen Projekten darin, dass die unterschiedlichen Forderungen als »äquivalente« Forderungen artikuliert werden, das heißt als Forderungen, die gemeinsam verwirklicht werden können. In hegemonialen Projekten wird somit das artikuliert, was man (in Anlehnung an Laclau/Mouffe) als Äquivalenzketten bezeichnet: Verknüpfungen zwischen zunächst differenten Forderungen sowie zwischen den sozialen Kräften, die diese Forderungen tragen. Ein schönes Beispiel hierfür liefert Alfred Müller-Armack, dem oft die Erfindung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft zugeschrieben wird, wenn er 1956 formuliert: »
Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden«.
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Diese Zusammenführung kommt uns heute selbstverständlich vor und allein diese Tatsache deutet bereits den Erfolg des hegemonialen Projekts »Soziale Marktwirtschaft« an. In der Tat waren der Satz Müller-Armacks und die in ihm zum Ausdruck gebrachte Äquivalenz vor knapp 60 Jahren keineswegs selbstverständlich, weil mit den Forderungen nach Marktfreiheit und nach sozialem Ausgleich Elemente zusammengebunden wurden, die nach vor-herrschender Meinung in Politik und Wissenschaft wenigstens in großer Spannung zueinander standen.
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Eine solche Ausformung von Äquivalenzketten hängt mit einem zweiten zentralen Element von hegemonialen Projekten eng zusammen: der Zweiteilung des diskursiven Raums bzw. der Einführung eines antagonistischen Bruchs. Denn man kann fragen, was es ist, das differente Forderungen so miteinander verbindet, dass sie sich als äquivalente Forderungen begreifen lassen. Die Forderungen haben – sie sind ja different – nichts Positives gemein. Aber sie lassen sich als Forderungen begreifen, die beide im Angesicht ein und desselben Problems erhoben werden, womit sie doch eine Gemeinsamkeit hätten, wenn auch eine ausschließlich negative. Man könnte auch sagen, dass die Gemeinsamkeit in der äquivalenten Artikulation einer Gemeinwohlblockade liegt. Im Fall von Marktfreiheit und sozialem Ausgleich liegt das zu überwindende Problem in der unbefriedigenden ökonomischen Lage Deutschlands. Um ökonomisches Gemeinwohl zu stiften und seine Blockade zu überwinden, muss, folgt man den Vertretern des Projekts »Soziale Marktwirtschaft«, sowohl die Forderung nach Marktfreiheit als auch die nach sozialem Ausgleich erfüllt werden.
Das Problem wird seinerseits konkretisiert, indem ein bestimmter Verursacher oder eine Reihe von Verursachern (die ihrerseits in ein Verhältnis der Äquivalenz gesetzt werden) benannt wird. Die Gemeinwohlblockade bekommt so ein Gesicht. Im Fall des frühen Projekts »Soziale Marktwirtschaft« waren das verbreitet Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch Nationalsozialisten und »Paläoliberale«. Im Angesicht dieser Gegnerphalanx konnten dann nicht nur bestimmte Forderungen als äquivalent artikuliert werden, sondern auch soziale Kräfte, insbesondere Konservatismus, Sozialkatholizismus und (Neo-)Liberalismus – Kräfte, die durchaus im Widerspruch zueinander standen, aber im Angesicht eines gemeinsamen Gegners ein gemeinsames und erfolgreiches hegemoniales Projekt starten konnten.
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Der Erfolg dieses hegemonialen Projekts war ganz wesentlich abhängig davon, dass die dritte und letzte Herausforderung von hegemonialen Projekten gemeistert werden konnte: die Ausbildung einer repräsentativen Forderung, hinter die sich alle stellen können. Zu dieser Forderung wurde allmählich (etwa zwischen 1948 und 1957) die Forderung nach »Sozialer Marktwirtschaft«. Dabei ist nicht so sehr entscheidend, dass diese Forderung in der Lage war, in ein Äquivalenzverhältnis zu den anderen Forderungen zu treten; wichtig war indes, dass der »Sozialen Marktwirtschaft« tatsächlich mit der Zeit zugeschrieben wurde, dass mit ihr alle Elemente des Problems zu beheben wären.
Das Projekt wurde so erfolgreich, dass nach und nach viele der sozialen Kräfte, die mit der »Sozialen Marktwirtschaft« zunächst bekämpft worden waren – zunächst die Sozialdemokratie, jüngst auch die Sozialisten der Linkspartei – selbst in die hegemoniale Formation eintraten und sie mit ihren Artikulationen unterstützten und weiter unterstützen. Daran erkennt man, dass hegemoniale Projekte flexibel sein müssen und dass sie umso erfolgreicher sind, je mehr sie in der Lage sind, auch die eine oder andere vormals gegnerische Position zu integrieren.
Zum Schluss: Diskurspolitik?
Um es zusammenzufassen: Hegemoniale Projekte sind darauf angewiesen, differente Forderungen als Forderungen zu artikulieren, die miteinander Hand in Hand gehen, weil sie auf die Überwindung desselben Problems, derselben Gemeinwohlblockade und/oder desselben Gegners abzielen. Damit solch ein Projekt schlagkräftig wird, muss sich außerdem im Diskurs allmählich eine repräsentative Forderung entwickeln, die alle anderen Forderungen erfolgreich in sich aufnehmen kann, die also verspricht, alle Aspekte der Gemeinwohlblockade zu beseitigen und so das Gemeinwohl abzusichern. Nun entwickeln sich in politischen Diskursen sehr regelmäßig solche Strukturen, die wir als hegemoniale Projekte bezeichnen können.
Die Frage, die eine Hegemonieanalyse nur im Ansatz beantworten kann, ist, welche Faktoren dazu beitragen, dass ein hegemoniales Projekt tatsächlich Erfolg hat, also in einer Hegemonie mündet. Einige wurden oben benannt. So kann man fragen: Gelingt es einem solchen Projekt, wichtige gesellschaftliche Akteure zu »rekrutieren«, indem diese sich die zentralen Artikulationen zu eigen machen und sie damit weiter verbreiten? Erlauben die Medienlandschaft und auch die Logik der Medialität selbst (Nachrichtenwert etc.) die Zirkulation bestimmter Artikulationen? Sind hegemoniale Projekte zu einem bestimmten Zeitpunkt anschlussfähig an die Erfahrungswelten der betroffenen Öffentlichkeit? All dies lässt sich wohl (mit beträchtlichem Aufwand) für vergangene hegemoniale Projekte erforschen, aber wenn es um aktuelle Situationen des hegemonialen Ringens geht, kommen zu viele Faktoren ins Spiel, um in irgendeiner vielversprechenden Weise den Erfolg oder Misserfolg bestimmter Interventionen im Voraus beurteilen zu können.
Bedeutet das, dass Diskurspolitik sinnlos ist? Die Antwort hierauf muss ambivalent ausfallen. Historisch kennen wir etwa das Beispiel der »Semantikgruppe«, die unter der Leitung von Kurt Biedenkopf in den 1970er-Jahren daran scheiterte, eine erfolgreiche politische Sprachpolitik für die CDU zu initiieren. Wir wissen aber auch, dass zum Beispiel der Diskurs zum Standort Deutschland in den 1990er-Jahren maßgeblich durch den BDI vorangetrieben wurde,
11 und wir sind mit dem medialen Einfluss von Gruppen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vertraut (ohne dass Letztere freilich ein konsistentes hegemoniales Projekt bewerkstelligt hätte). Bei aller Ambivalenz lässt sich aber sicher festhalten, dass zahlreiche Analysen die Struktur und die Strategien erfolgreicher hegemonialer Projekte gut erforscht haben. Sich diese Erkenntnisse nicht zunutze zu machen, wäre somit fahrlässig, selbst wenn die Beachtung der Erkenntnisse keineswegs den Erfolg hegemonialer Projekte garantieren kann.
Tipps zum Weiterlesen
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 1985.
Nonhoff, Martin, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »Soziale Marktwirtschaft«, Bielefeld 2006.
Ders., »Hegemonieanalyse: Theorie, Methode und Forschungspraxis«, in: Keller, Reiner u. a. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl., Wiesbaden 2008, S. 299–331.
Ders., »Soziale Marktwirtschaft für Europa und die ganze Welt! Zur Legitimation ökonomischer Hegemonie in den Reden Angela Merkels«, in: Geis, Anna, Nullmeier, Frank, Daase, Christopher (Hg.): Der Aufstieg der Legitimitätspolitik, Leviathan Sonderband 27, Stuttgart 2012, S. 262–282.
Literatur
Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. 7. Aufl., Frankfurt/M. 1991 [1972].
Ders., Archäologie des Wissens. 8. deutsche Aufl., Frankfurt/M. 1997 [1969].
Herschinger, Eva, Constructing Global Enemies. Hegemony and Identity in International Discourses on Terrorism and Drug Prohibition, Milton Park, Abingdon 2011.
Laclau, Ernesto, On Populist Reason, London/New York 2005.
Lefort, Claude, »Die Frage der Demokratie«, in: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990 [1983], S. 281–297.
Mann, Siegfried, Macht und Ohnmacht der Verbände: das Beispiel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI) aus empirisch-analytischer Sicht, Stuttgart 1994.
Müller-Armack, Alfred, »Soziale Marktwirtschaft«, in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg i. Br. 1966 [1956], S. 243–249.