Der Mythos und die Politik: Warum kommen politische Akteure nicht ohne sinnstiftende Erzählungen aus?
Herfried Münkler
Zwei Bezugnahmen auf den Mythos: Odysseus und Scipio Africanus
Die Erzählung der »Odyssee« führt uns zu einer spätabendlichen Lagerfeuerszene bei den Phäaken. Ein Fremder, den das Meer in der vergangenen Nacht an Land gespült hat und der von der Königstochter Nausikaa frühmorgens am Strand gefunden wurde, sitzt dabei. Man weiß nicht, wer er ist, und er hat sich bloß als Fremder (xenos) und Schiffbrüchiger vorgestellt. Die Abendgesellschaft lässt sich von einem Sänger unterhalten, einem, der allerhand Geschichten kolportiert und dabei auch einen Blick in die, wie wir heute sagen würden, Zeitgeschichte wirft. Im abgelegenen Land der Phäaken erfährt man auf diese Weise, was sich in »der Welt« tut und getan hat. Die Phäaken haben an diesem Geschehen selbst nicht aktiv teil: In ihrer Abstinenz gegenüber der »internationalen Politik« spiegelt sich das utopische Motiv der insularen Absenz vom großen Weltgeschehen. Es ist dies das Glück des Nichtinvolviertseins, das auch in Thomas Morus’ Erzählung von der Insel Utopia eine wichtige Rolle spielt. Weltgeschichte und internationale Politik würden die Idylle zerstören. Geschichtslosigkeit ist die Voraussetzung utopischen Lebens.
Auch das Phäakenland ist ein utopischer Ort: das zeigt sich beispielsweise in den Schiffen, die von selbst fahren und so das Autómaton-Motiv der Utopie aufnehmen. Also bekommt man von einem Sänger berichtet, was in der Welt geschieht oder geschehen ist – und natürlich ist dabei ein Thema der große Krieg, der um Troja stattgefunden hat. Es wird von den langen Kämpfen berichtet, den zahllosen gefallenen Helden, und vor allem wird erzählt, wie schließlich durch einen Trick des listigen Odysseus die Stadt doch noch von den Achäern erobert worden ist. Die unheroische Phäakengesellschaft lauscht dem voll Spannung, bis der König (bzw. Nausikaa, deren Interesse an dem Fremden ein wunderbares Beispiel für die Erotik des Geheimnisvollen ist) bemerkt, dass dem Fremden die Tränen übers Gesicht laufen. Man fragt ihn, warum er weine, und er antwortet: »Ich bin Odysseus«.
Es gibt viele Interpretationen für diesen schlagartigen, überraschenden Sprung aus der Narration in die Faktizität des Augenblicks, einen Sprung, der im Übrigen selbst im Medium der Narration stattfindet: Das Fremde im Eigenen, die Vergangenheit in der Gegenwart, der Sturz des Helden, insofern der gepriesene Sieger von Troja sich in dem Augenblick, da er sich als Odysseus zu erkennen gibt, in einen Flüchtling verwandelt, der nicht einmal eigene Kleider besaß, als ihn das Meer an Land geworfen hat; die Unberechenbarkeit des Schicksals, die im Zusammentreffen von dem Bericht des Sängers und der Geheimnispreisgabe des Fremden deutlich wird; schließlich die Erzählung, die wie durch eine imaginäre Tür in den Augenblick eintritt.
Mich interessiert hier jedoch die Selbstidentifikation des Helden: Der Schiffbrüchige hat, als er am Strand gefunden wurde, nicht gesagt, er sei der große Odysseus, der Sieger von Troja, ein von der Missgunst des Poseidon Verfolgter. Wieder einmal hat er sich nicht zu erkennen gegeben, hat er auf seine Nichtidentifizierbarkeit gesetzt. Das ist bei ihm eine Strategie, die er bereits in der Höhle des Riesen Polyphem angewandt hat, als er sich »Niemand« (oudeis) nannte. Aber auch beim ersten heimlichen Eindringen nach Troja hatte er auf Nichtidentifizierbarkeit gesetzt, als er als Bettler verkleidet durch einen Abwasserkanal nach Troja eindrang, um das Palladion der Göttin Athene aus der Stadt zu holen, das die Stadt bis dahin vor der Eroberung geschützt hatte.
Zu Odysseus’ Strategie der Nichtidentifizierbarkeit gehört auch die Kriegslist, das Spiel mit der Verwechslung, die Auflösung aller klaren Distinktionen, durch die Troja zu Fall gebracht wurde: Das große Pferd, das die Trojaner für das Zeichen ihres Sieges hielten, wurde zur Ursache ihrer Niederlage; bei dem, wovon sie meinten, es sei ein Symbol des Friedens, handelte es sich in Wahrheit um eine Eskalation des Krieges. Auch Odysseus‹ Rückkehr nach Ithaka erfolgt im Zeichen des Inkognito: Während der stolze Agamemnon, der mit Pauken und Trompeten nach Mykene heimkehrt, von seiner Frau Klytämnestra und deren Geliebten Aigisth ermordet wird, entgeht Odysseus allen Fallen und Hinterhalten, die ihm die Freier der Penelope gestellt haben, weil man ihn nicht erkennt. Indem er die Bedeutung des Nichtidentischen erkannt hat, hat Odysseus die Kriegführung revolutioniert.
Aber das ist an dem Abend im Phäakenland nicht der Punkt. Odysseus gibt sich hier zu erkennen, er lässt alle Vorsicht fahren: Er weint, er öffnet sich. Es gibt sich zu erkennen, als er sich erkannt weiß – nicht dass er Odysseus ist, sondern weil nach dem Bericht des Sängers klar ist, wer Odysseus ist, nämlich ein Held und Sieger – und kein Lügner und Betrüger, kein Kriegsverbrecher, was er nach den Ereignissen vor Troja und andernorts ja durchaus hatte erwarten müssen. Der Held Odysseus ist um seiner Identität willen auf den Mythos, auf die Erzählung angewiesen. Es ist die Erzählung bzw. der Bericht des Sängers, die ihn als Helden beglaubigt, die sein Sein als heroische Existenz verbürgt. Nicht so sehr die Individualisierung des Odysseus, wie einige Interpreten dieser Passagen gemeint haben, sondern vielmehr seine soziale Existenz als Held wird durch den Bericht des Sängers festgeschrieben.
Das Gegenmodell zu Odysseus ist das Märchen vom tapferen Schneiderlein: ob der stolzen Aufschrift auf dem Gürtel des Schneiders: »Sieben auf einen Streich«, glauben alle, er sei ein großer Krieger und Held und fürchten sich vor ihm. Die ordensähnliche Selbstdekoration führt freilich in die Irre, denn es waren keine wirklichen Gegner, die der Schneider erschlug, sondern bloß Fliegen, die ihn, da sie sich auf sein Marmeladebrot setzten, fortgesetzt geärgert hatten. Im Märchen vom tapferen Schneiderlein kommt indirekt eine Grundsorge des Helden zum Ausdruck: dass ihm keiner glaubt, wie stark und kampfgeübt seine Gegner waren. Dazu bedarf es des Zeugen, eines unabhängigen Dritten, der von dem Kampf berichtet. Erst als ein Dritter bestätigt hat, dass Odysseus ein Held ist, gibt sich Odysseus zu erkennen. Der Mythos ist für ihn ein Identitätsgarant. Es ist der Bericht des Sängers, durch den Odysseus’ Identität als Held beglaubigt wird.
Ganz anders ist das in dem historischen Bericht des Polybios, in dem dieser von der Eroberung Karthagos durch die Römer im dritten Punischen Krieg erzählt. Der griechische Historiker Polybios hat den römischen Feldherrn Scipio Africanus Minor auf diesem Feldzug begleitet, und er ist auch in seiner Nähe, als Karthago, die große Widersacherin Roms, erobert wird und brennt. Der Feldherr steht, wie Feldherrn dies zu tun pflegen, auf einem Hügel und betrachtet das Geschehen. Er ist allein und nicht, wie sonst, von Stabsoffizieren, Schreibern und Meldern umgeben. Er ist in sich versunken und denkt nach; Polybios, der zu seinem Freundeskreis gehört, möchte wissen, worüber der Feldherr nachsinnt. Als er an Scipio herantritt, sieht er, dass Scipio weint. Er weint im Augenblick seines Triumphes, da er die gefährlichste Feindin Roms politisch wie physisch ausgelöscht hat. Und Polybios hört, wie er aus der »Ilias« zitiert: »Einst wird fallen das hochgebaute Ilion, und dahinsinken das Volk des lanzenkundigen Königs«. – Man möchte meinen, dass sich das auf Karthago bezieht und also den Triumph des Feldherrn Scipio approbiert. Die Tränen wären dann Freudentränen gewesen. Polybios weiß es jedoch besser: Es sind Tränen der Trauer, denn Scipios denkt an seine Vaterstadt, an Rom, die irgendwann auch das Schicksal ereilen wird, das er, Scipio, hier und jetzt der Todfeindin Karthago bereitet hat.
Die historische Erzählung ist hier ein Blick in die Zukunft, eine Prognose mit mythischen Mitteln, denn die Prognose, die gemacht wird, beruht auf der dem Mythos eigenen Annahme einer Wiederholung des Geschehens, der Zyklizität oder Repetition der Geschichte. Der Mythos ist die Erzählung vom Schicksal, von einem Geschick, das alle irgendwann ereilen wird, von dem es kein Entkommen gibt. Der kluge, stoisch gebildete Scipio weiß darum. Das mythische Wissen um den Untergang Trojas verhindert hier Übermut und Leichtfertigkeit, denen der Feldherr im Augenblick seines Triumphes sonst leicht erliegen könnte. Der Mythos dämpft den Augenblick des Sieges und erdet den Sieger. Er wirkt als ein Anker der politischen Vernunft. Er gemahnt an das, was der Fall ist oder irgendwann der Fall sein wird. Wir können also sagen, im Mythos vollziehe sich Aufklärung, wie dies Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben haben. Die mythische Erzählung ist nicht das Gegenteil von Aufklärung, wie Unbedarfte notorisch meinen, sondern eine ihrer Varianten: Wo die Aufklärung mit argumentativen Mitteln arbeitet, verlässt sich der Mythos auf das Instrumentarium der Narration.
Mythos und Logos: ein Beziehungsgeflecht, kein Gegensatz
In Zeiten, in denen das epistemische Schema des Fortschritts hegemonial war, ist das Verhältnis von Mythos und Logos als eine Sukzessions- oder Ablösungsbeziehung gedacht worden: Vom Mythos zum Logos, so der programmatisch anmutende Titel des bekannten Buchs von Wilhelm Nestle. Der Mythos ist danach eine frühere und primitivere Form des Denkens, die im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert durch den Logos abgelöst worden ist. Mit Logos ist dabei die Entstehung der griechischen Philosophie gemeint. Der Logos erzählt nicht Geschichten, sondern analysiert, zerlegt, zergliedert, sucht nach Ursachen (Ur-Sachen), Bestandteilen, also Elementen, und schafft so die Voraussetzung wirklicher Naturbeherrschung. Anaximenes, Anaximander, Anaxagoras, das Triple-A der frühen Philosophiegeschichte, stehen danach für den Durchbruch zu einem rationalen Umgang mit der Natur, in dem nicht der Kampf der Götter, sondern das Zusammenwirken der Elemente als Erklärung der Welt dient. Parmenides und Heraklit mit ihren Vorstellungen von dem Einen und dem Gegensatz haben diesen epistemischen Umbruch weitergeführt.
Aber es ist doch erstaunlich, dass selbst die Griechen, nachdem sie diesen Schritt getan hatten, sich des Menschlichen wie des Politischen weiterhin im Medium des Mythos vergewisserten. Die attische Tragödie wurde zum Modus der politischen Reflexion, und sie stellt die Rationalitätsreserve des versammelten Volkes bei seinen folgenreichen und riskanten Entscheidungen dar. Man könne auch sagen, die Tragödie sei die Form, in der dem Volk die Risiken und möglichen Folgen seiner Entscheidungen vor Augen geführt wurden. Das geschah nun nicht mehr in der epischen Form der Erzählung, sondern in der Verteilung des Für und Wider einer Handlung oder Entscheidung auf unterschiedliche Personen.
Die Tragödie ist, wenn man so will, ein politisch aufklärendes Funktionsäquivalent dessen, was die Deliberation in der parlamentarischen Demokratie darstellt, und diese Tragödie ist, um mit Hans Blumenberg zu sprechen, nichts anderes als »Arbeit am Mythos«. Aischylos’ »Orestie«, Sophokles’ »König Ödipus« oder seine »Antigone« – sie alle sind Reflexionen auf die paradoxen bis dilemmatischen Verknotungen menschlichen und politischen Handelns. Dabei zeichnet sie aus, dass sie gerade nicht einer linearen Logik des Geschehens folgen, sondern die Umschläge und Einbrüche akzentuieren, die so nicht vorgesehen waren und womöglich auch nicht vorhersehbar sind.
Was wir leichthin »das Tragische« nennen, ist im Kern eine Absage an Linearitätsannahmen, wie sie heute von den Sozialstatistikern und politischen Prognostikern, zumal vor allem solchen mit einem soziologischen oder volkswirtschaftlichen Hintergrund, unter die Leute gebracht werden. Der Mythos ist ein Einspruch gegen die unendliche Extrapolation des Gegenwärtigen in Gestalt linearer Projektionen und Extrapolationen. Er ist, bei Licht betrachtet, von höherer Rationalität als die linearen Annahmen, auch wenn er nicht zu antizipieren vermag, wann der Umschlag erfolgt, und warum er erfolgt. Er ist eine eher unpräzise Warnung. Linearitätsannahmen sind dagegen sehr viel präziser, aber gerade in ihrer scheinbaren Präzision sind sie notorisch unbedarft, nicht nur gegenüber dem Zufall, sondern auch gegenüber Umschlägen und Wendungen, die sich gerade aus dem von ihnen prognostizierten Zuwachs ergeben; der Mythos ist die narrativ vorgetragene Skepsis gegenüber solchem Optimismus. Er vertritt die dunkle Seite der politischen Prognostik.
Er ist bemerkenswert, wie hartnäckig sich die Fortschrittsvorstellungen gehalten haben und mit welcher Heftigkeit sie ein ums andere Mal den Mythos in die reaktionäre Ecke, in die der Gegenaufklärung zu stellen versuchen. Roland Barthes und Peter Glotz sind Beispiele dafür. Damit will ich nicht bestreiten, dass politische Mythen auch gegenaufklärerisch und reaktionär sein können. Gerade in der deutschen Geschichte wimmelt es nur so von Beispielen dafür. Aber auch in Deutschland kommt es darauf an, wer den Mythos erzählt und wie er ihn erzählt, wer ihn hört und wie er ihn hört. Heinrich Heine und Richard Wagner waren die großen Mythopoeten des 19. Jahrhunderts, der eine in humorvoll-spielerischem Geist, der andere im Pathos des Verhängnisses. Heine ist ein Aufklärer, der mit dem Mythos gegen den Mythos gearbeitet hat, und »Deutschland. Ein Wintermärchen« ist eine mythenironische Inspektion des politischen Selbstverständnisses der Deutschen.
Aber auch Richard Wagner, der in Deutschland für einige Zeit eine politisch unsympathische bis verbrecherische Anhängerschaft gefunden hat, ist im »Ring des Nibelungen« ein Aufklärer über das Scheitern hochfahrender politischer Projekte – seien es nun die des Vertragspolitikers Wotan (seine Macht resultiert aus den Verträgen, die er geschlossen hat; aber durch die Verträge hat er nicht nur seine Kontrahenten, sondern auch sich selbst gebunden) oder jene des Naturkindes Siegfried, dem qua Naivität gelingen soll, was Wotan bei aller Raffinesse misslang. Seit Maurice Chereaus »Jahrhundertring« in Bayreuth ist das wieder deutlich, und dementsprechend ist gerade der »Ring« in seinen Inszenierungen ein Mittel der Aufklärung über uns selbst geworden.
Die große Erzählung als politische Ressource
Noch vor dem Untergang der Sowjetunion und dem Scheitern des sozialistischen Experiments hat Jean-François Lyotard »das Ende der großen Erzählungen« proklamiert; das war eine Vorform dessen, was Francis Fukuyama zu Beginn der 1990er-Jahre dann als das Ende der Geschichte bezeichnet hat: Sollten Lyotard und Fukuyama recht haben, so wären wir in einen Zustand der politischen Alternativlosigkeit eingetreten, in dem wohl gelegentlich an den Stellschrauben der politischen Ordnung gedreht werden muss, es außer diesem expertokratisch angeleiteten Herumschrauben jedoch keine Optionen mehr gibt. Das Ende der Mythen wäre dann mit der Ankunft im Paradies der letzten Menschen gleichbedeutend: Diese letzten Menschen blinzeln in die Sonne und erzählen vom Glück, das sie erfunden hätten. So jedenfalls hat Nietzsche in »Also sprach Zarathustra«, ergo im Mythos, vor der Entwicklung des modernen Menschen gewarnt. Man möchte ihnen zurufen: »Alles Malle, oder was«. Aber vermutlich würden sie den Hinweis auf ihr stupides Verhalten auf der Urlaubsinsel Mallorca nicht als Kritik verstehen, sondern nur noch mehr davon verlangen. Das politische Projekt des »neuen Menschen«, so Nietzsche, wird im »letzten Menschen« enden, der nichts anderes will als endloses Glück.
Die Krise der Europäischen Union ist dem linearen Fortschritt zu einem so verstandenen Glück vorerst dazwischengekommen – nicht bloß als Fiskalkrise, sondern auch als Sinnkrise. Die Zeit des Verzehrens von Friedensdividenden neigt sich dem Ende zu: Europa braucht eine große, sinnstiftende Erzählung, oder es wird scheitern, und es wird selbst dann scheitern, wenn es gelingt, die technischen Probleme der Fiskalkrise zu bewältigen, aber keine neue Sinnstiftung gefunden wird. Das exakt ist die Funktion politischer Mythen: sinnstiftend und handlungsorientierend zu wirken. Dabei können sie in Katastrophen hinein-, aber auch aus Unterdrückung und Elend herausführen. Wo in der Politik die große mythische Erzählung fehlt, reduziert sich alles auf eine Bilanz von Kosten und Nutzen. Damit lässt sich vielleicht der politische Alltag gestalten, aber große Herausforderungen, zumal in politischen Umbruchsituationen, sind so nicht zu bewältigen. Dazu bedarf es der politischen Mythen.
Die Exodus-Erzählung im zweiten Buch Moses, wahrlich ein politischer Mythos, ist ein großartiges Beispiel für Letzteres. Und sie ist, wie Michael Walzer gezeigt hat, ein Mythos, der die »Arbeit am Mythos« stimuliert hat: die Ausarbeitung einer sozialdemokratischen und einer leninistischen Variante. Während in der leninistischen Variante die Wanderung in der Wüste immer wieder von »Säuberungen« unterbrochen wird, denen Tausende zum Opfer fallen, um das Volk auf den Einzug ins »gelobte Land« vorzubereiten, erzählt die sozialdemokratische Variante die Wanderung als einen Prozess der Selbsttransformation, in dem es um Lernen und innere Erneuerung geht. Das mythische Versprechen aufs bessere (das gelobte) Land kennt also unterschiedliche Wege dorthin, und die »Arbeit am Mythos« hat die Unterschiedlichkeit dieser Wege zutage gefördert.
Nationale Gründungserzählungen haben häufig nach einem ganz ähnlichen Muster funktioniert, und sie haben dabei gewaltige Kräfte und Energien freigesetzt; zum Guten wie zum Schlimmen. Die in der politischen Kultur der Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung, es sei am besten, auf die Freisetzung dieser Kräfte zu verzichten, um so auf jeden Fall das Böse zu vermeiden, war historisch verständlich, aber keine dauerhaft brauchbare Lösung. Die europäische Gründungserzählung von der Überwindung des Krieges ist dies jedoch sicherlich auch nicht. Sie ist dafür zu sehr vergangenheitsorientiert und zu eng mit dem Kollektivgedächtnis jetzt abtretender Generationen verbunden. Sie ist zur Erzählung der Satten geworden: alles Frieden, alles Wohlstand. Aber Frieden und Wohlstand sind nicht durch die bloße Vermeidung dessen zu bewahren, wozu in Europa heute sowieso keiner in der Lage ist: die Führung eines innereuropäischen Staatenkrieges. Es war die falsche Erzählung, mit der die Europäer ihre Zukunft angehen wollten, und sonst hatten und haben sie keine. Das ist das eigentlich Besorgniserregende an der gegenwärtigen Krise Europas, auch wenn auf der operativen Ebene zur Zeit Griechenland, Spanien und der Euro im Vordergrund stehen.
Vor allem die Deutschen hat die europäische Fiskalkrise mythenpolitisch auf dem falschen Fuß erwischt: Gerade hatten wir uns an die Ablösung der Opfermythen durch die Wohlstandsmythen gewöhnt, die Siegfrieds, Arminiusse und Barbarossas durch Mercedesstern und Exportweltmeisterstatus abgelöst, da werden mit einem Mal für Europa wieder Opfer verlangt. Aber wo es keine Opfermythen gibt, die den Sinn von Opfern erklären, sind auch Opfer unpopulär. Deswegen traut sich die Politik nicht, von Opfern zu sprechen, die für Europa zu bringen sind. Entweder schweigt sie oder sie muss, dem Wohlstandsdiskurs gemäß, Opfer in »Investitionen« umerzählen: Griechenland, die spanischen Banken, die politische Klasse Italiens, die Steuerbetrüger auf Zypern – alles Investitionen. Das ist kaum glaubwürdig und wird auch nicht gut gehen. Spätestens dann, wenn die »Investitionen« als Verluste abgeschrieben werden müssen, werden sich die Folgen der fehlenden oder falschen Erzählung zeigen. Die Europäer waren mythenpolitisch leichtsinnig, als sie glaubten, sie könnten sich linearen Entwicklungslogiken anvertrauen. Wir können nur hoffen, dass diese Naivität nicht in einer Tragödie mythischen Ausmaßes endet.
Tipps zum Weiterlesen
Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964.
Bermbach, Udo, Mythos Wagner, Berlin 2013.
Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979.
Fukuyama, Francis, The End of History and the Last Man, New York 1992.
Glotz, Peter u. a., Mythos und Politik. Über die magischen Gesten der Rechten, Hamburg 1985.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt/M. 1969.
Lyotard, Jean-François, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986.
Münkler, Herfried, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009.
Nestle, Wilhelm, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates [1940], Stuttgart 1975.
Walzer, Michael, Exodus und Revolution, Berlin 1988.